Nach meiner Elternzeit war ich schon nach wenigen Wochen wieder voll drin. Die Angst, dass meine Hände die Techniken verlernt hätten, bestätigte sich nicht. Viele Arbeiten waren Routine, es fühlte sich an wie Fahrradfahren. Natürlich dauerte es etwas, bis sich das Feingefühl komplett eingestellt hatte, aber im Großen und Ganzen hatte sich wenig verändert. Schnell erinnerte ich mich wieder an die wenigen Medikamentennamen, die ich vergessen hatte. Es hatten sich einige Leitlinien geändert, aber die hatte ich schon vor meinem Wiedereinstieg durchgeblättert.
Ich hatte entschieden, in Teilzeit weiterzuarbeiten und einen Tag ganz zu Hause zu bleiben. Der Rest meiner Weiterbildungszeit verlängerte sich entsprechend um einige Monate, aber unser Kind sollte nicht ständig auf seine Mutter verzichten müssen.
Die Oberärzte mussten sich allerdings erst an mich erinnern. In den ersten Wochen wurde ich zunächst grundsätzlich im OP-Programm übergangen. Ein Oberarzt formulierte seine Entrüstung über meine Entscheidung zur Schwangerschaft und Teilzeitarbeit ganz deutlich. »Man kann eben nicht beides. Unfallchirurgin und Mutter. Man muss sich entscheiden.« Es waren offene und ehrlich gemeinte Worte. Er selbst hatte mehrere Kinder und eine Ehefrau, die sich um alles kümmerte. In seiner Vorstellung gab es das nicht, ein Vater, der sich um die Kinder kümmert und deshalb die Arbeitszeit reduziert. Er selbst sah seine Kinder selten. Mittlerweile bin ich überzeugt davon, dass viele dieser ernst gemeinten, kritischen Aussagen über meine Entscheidung, weiterhin in der Fachrichtung Orthopädie/Unfallchirurgie zu bleiben, von Unzufriedenheit zeugen. Diese Ärzte haben niemals in ihrem Leben mehrere Monate am Stück mit der Familie verbracht. Sie haben in diesem System weitergearbeitet, weil es eben keine andere Möglichkeit gab. Das alles auf den Kopf zu stellen, einen Anspruch auf beide Lebensanteile zu stellen, ist für sie unbegreiflich. »Es war schon immer so, also bleibt es auch so.«
Mittlerweile ist dieser Oberarzt richtig gut gelaunt und freut sich, wenn ich mit ihm zusammen operiere. Er lässt mich fast alles selbstständig operieren. Nur durch meine Taten konnte ich ihn überzeugen, dass ich auch in Teilzeit und mit einigen Fehltagen wegen eines kranken Kindes meine Arbeit hervorragend mache. Ob sich etwas an seiner Grundeinstellung »Die Mutter gehört zum Kind« geändert hat, wage ich allerdings zu bezweifeln.
Bei einigen anderen Oberärzten lag mein Platz auf der hinteren Bank hauptsächlich daran, dass sie mich vergaßen. Ich war ein Jahr lang nicht da gewesen. Dass ich immer am gleichen Wochentag nicht da war, verbesserte die Situation leider keineswegs. Es schien sehr schwer, sich zu merken, dass ich immer donnerstags nicht anwesend war. Ich fiel durch das Raster.
Also beschloss ich, mich an den Tagen, an denen ich da war, besser zu zeigen. Freiwillig war ich entweder als Erste im Besprechungsraum, sodass mich jeder sehen musste, der den Raum betrat oder wählte einen Platz, an dem ich nicht zu übersehen war. Zudem wagte ich häufig einen Kommentar zu Verletzungen oder antwortete als Erste auf Fragen des Chefarztes oder Oberarztes. Das setzte selbstverständlich voraus, dass ich immer etwas früher da, immer etwas besser informiert war und die Patientenfälle besser kannte als die Kollegen. Dieses Plus an Arbeit war zwingend notwendig.
Viele Arbeitnehmer, die in Teilzeit arbeiten, berichten darüber, dass sie im Verhältnis mehr leisten müssen als ihre Vollzeitkollegen. Das ist in der Medizin nicht anders. Meinen freien Tag muss ich verteilt auf die übrigen Tage im Schnelldurchlauf aufarbeiten, um die wichtigsten Patientenfälle zu kennen. Gab es neue MRTs, musste ich die Patienten noch einmal gründlich untersuchen, um den Befund richtig wiedergeben zu können, hatte sich am Vortag eine Komplikation ergeben, musste ich am Morgen danach sehen. War ich auf einer Station eingeteilt, musste ich bis zum Auftauchen des Oberarztes natürlich den Vortag aufgearbeitet haben. Das war nicht immer einfach, denn nicht jeder Kollege hinterließ entsprechende Übergabezettel. Aber manchmal genügte es auch, mich an den PC zu setzen, wenn der OP-Plan geändert wurde oder mich in der Sichtachse der Oberärzte zu positionieren. Einfache Tricks, die immer funktionieren. Nur wer sichtbar ist, wird gesehen.
In der Klinik selbst hatte sich viel getan: andere Vorschriften, andere Einteilungen, andere Systeme und viel Wechsel im Personal. Junge Kollegen waren nun erfahrener, das Gerangel um die Operationen und Einteilungen wurde größer. Ältere Kollegen hatten die Abteilungen verlassen oder waren mittlerweile Oberärzte. Das Team hatte sich stark verändert. Aus meiner kleinen heilen Welt war ein Krankenhaus geworden, das ebenso im Gesundheitssystem angekommen war wie die Großstadtkliniken. War ich vor meiner Elternzeit noch dankbar über die ausreichende personelle Besetzung, so hatte sich die Situation nun deutlich verschärft.
Einige Krankenhäuser aus dem ländlichen Umkreis hatten geschlossen, sodass immer mehr Patienten zu uns kamen. Außerdem waren wir wie eigentlich alle Krankenhäuser, die ich kenne, dem Kobra-Effekt ausgeliefert.
Der Kobra-Effekt ist die Bezeichnung für ein historisches Ereignis, das vermutlich in Britisch-Indien stattfand. Während einer Schlangenplage setzte ein Gouverneur ein Kopfgeld auf jedes erlegte Exemplar aus. So sollte die Plage eingedämmt werden. Das Resultat hingegen war, dass die Menschen mehr Schlangen züchteten.
So ähnlich stelle ich mir die Veränderungen unseres Gesundheitssystems in den letzten Jahrzehnten vor. Das Selbstkostendeckungsprinzip wurde abgeschafft, Anfang 2003 das Fallpauschalensystem eingeführt. Das sogenannte DRG-System. Mit der leistungsbezogenen Vergütung sollte mehr Wettbewerb unter den Krankenhäusern geschaffen werden. Eine scheinbare Überversorgung in Deutschland mit zu vielen Krankenhäusern und Betten sollte reduziert werden. Außerdem sollte dieses Fallpauschalensystem dafür sorgen, dass die Patienten kürzer in den Krankenhäusern blieben und sich die Ausgaben der Krankenversicherungen stabilisierten. Kurz gesagt, Kosten sollten gesenkt werden.
Von nun an durften nicht mehr alle Kosten, die ein Krankenhaus leistete, auch abgerechnet werden, sondern nur noch eine durchschnittliche Pauschale. Für einen Patienten mit einer bestimmten Erkrankung und einer bestimmten Operation gibt es also Durchschnittskosten, die abgerechnet werden können.
Das DRG-System ist komplex. Deshalb hat dieses Kapitel auch nicht den Anspruch, das Gesundheitssystem in aller Vollständigkeit zu erklären. Hier schildere ich die Dinge, die ich in meinem Alltag als Ärztin erlebe und ihre Auswirkungen. Mittlerweile gibt es in allen Kliniken Fachkräfte, die zahlreiche Schulungen absolvierten, um die Patienten entsprechend des DRG-Systems zu verschlüsseln. Die Abrechnung erfolgt dann über die Verwaltung, die endgültigen Zahlen landen auf dem Tisch des wirtschaftlichen Managers des Krankenhauses, der sie wiederum an jeden Chefarzt der Abteilungen weitergibt. An diese Zahlen ist die Personal- und Bettensituation gebunden. Genug Geld, mehr Personal und Betten, zu wenig Geld, kein Personal und keine Betten.
Im Prinzip ist die Bezahlung im Fallpauschalensystem vergleichbar mit einem Kostenvoranschlag bei der Autoreparatur. Der Kostenvoranschlag beim Kundenservice beläuft sich auf 400 Euro. Die Werkstatt findet dann allerdings eine kaputte Kupplung, und die endgültige Summe beläuft sich auf 650 Euro. Der einzige Unterschied ist, dass wir im Krankenhaus die zusätzlichen 250 Euro nicht erstattet bekommen. Planen wir die Implantation einer Kniegelenksendoprothese bei einem Patienten und entwickelt der Patient während des postoperativen Verlaufs eine gastrointestinale Blutung, muss er deshalb eine Magen- und Darmspiegelung erhalten und entsprechend therapiert werden, uns wird trotzdem meist nur die Implantation der Endoprothese von der Kasse erstattet.
Bricht sich ein Patient etwas und kommt ins Krankenhaus, gibt es eine Hauptdiagnose: Implantation der Endoprothese. Diese Hauptdiagnose wird in die Software eingegeben. Zusätzlich kann man Nebendiagnosen wie gastrointestinale Blutung, die durchgeführten Prozeduren, Prothese und Magen- und Darmspiegelung, während des Krankenhausaufenthalts verschlüsseln. Dies erfolgt über sogenannte ICD- und OPS-Codes. Diese Regelwerke werden jedes Jahr neu veröffentlicht. Jede dieser generierten Fallpaulschalen trägt nun ein individuelles Relativgewicht. Dieses Relativgewicht ist ein Punktwert, multipliziert mit dem in diesem Jahr gültigen Landesbasisfallwert gibt er den Erlös für diesen Patientenfall an. Diese Fallpauschale ist mit sogenannten Verweildauergrenzen versehen, die je nach Überschreitung oder Unterschreitung der Grenze zu einem Zu- oder Abschlag führen. In der Regel arbeitet man also wirtschaftlich, wenn man sich innerhalb dieser Grenzen bewegt. Verlässt ein Patient zu früh das Krankenhaus, kann es sein, dass einem Geld abgezogen wird für den Fall.
Patienten, die, wie im obigen Beispiel genannt, eine Komplikation erleiden und überdurchschnittlich lange im Krankenhaus liegen, führen zu einem Übermaß an Kosten, auf denen die Abteilung sitzen bleibt. Hat man als Krankenhaus nun zu viele Komplikationen, rentiert sich das Ganze nicht. Einige Parameter haben einen Einfluss auf den Algorithmus der Software, andere Parameter nicht.
So hat zum Beispiel die Nebendiagnose eines Morbus Parkinson in manchen Fällen eine Erlösänderung zur Folge, aber nicht in allen. Erleidet ein Patient ein akutes Nierenversagen, das behandelt werden muss und zu einer Verlängerung des Aufenthaltes führt, wird es in manchen Fällen mit eingerechnet. Hat der Patient jedoch schon eine bekannte Niereninsuffizienz, die sich im Verlauf des Aufenthaltes verschlechtert und ebenso therapiert werden muss, wird sie nicht erstattet. Vielleicht ist das eine besondere Form des Berufsrisikos. Geplant war es allerdings einmal als ein System der Qualitätssicherung.
Auch darauf, wann ein Patient entlassen oder wiederaufgenommen wird, hat dieses Abrechnungssystem Einfluss. A. hatte sich den Oberschenkel gebrochen, bekam einen Nagel eingesetzt und wurde am sechsten Tag in die Reha entlassen. Leider hatte sich bereits an Tag fünf abgezeichnet, dass sich im Bereich der Wunde ein großer Bluterguss bildete. Ihn noch einmal zu operieren und den Bluterguss zu entlasten, hätte allerdings dazu geführt, dass er länger als die Grenzverweildauer in der Abteilung verbracht hätte. Also entließen wir ihn wie geplant in die Reha.
In vielen Artikeln in den Massenmedien wird dieses Verfahren als »blutige Entlassung« bezeichnet. Rein medizinisch ist es aber in vielen Fällen bei einem Bluterguss tatsächlich eine sehr gute Idee, einfach einige Zeit nur abzuwarten. Denn die meisten Blutergüsse verschwinden einfach wieder. Bei A.s Bluterguss war jedoch an Tag fünf klar, der Erguss würde nicht einfach wieder von alleine verschwinden.
A. kam nach vier Tagen erneut in die Notaufnahme. Der zuständige Arzt in der Reha hatte sich doch etwas Sorgen gemacht. In dieser Situation kann man den Bluterguss entlasten, den Oberschenkel entsprechend wickeln und abwarten. Meist beruhigt sich die Situation. Entlasten geht mit einer dicken Kanüle oder einem kleinen Hautschnitt. In Zeiten des DRG-Systems ist jede Option in Ordnung, die es dem Patienten ermöglicht, wieder zurück in die Reha zu gehen. Die operierende Klinik trägt das Risiko, falls nach der OP doch eine stationäre Aufnahme nötig sein sollte. Diese Komplikation wird nicht in einer extra DRG erfasst, sodass der gesamte zweite stationäre Aufenthalt zwar Kosten verursachen würde, aber nicht abgerechnet werden könnte.
Komplikationen sind in der Medizin so eine Sache. Natürlich ist es ganz einfach zu sagen: »Ihr habt zu viele Komplikationen. Die Qualität eurer operativen Versorgung ist schlecht. Ihr müsst eure Abteilung schließen.« Aber Komplikationen haben häufig andere Gründe als schlechte Arbeit. Möchte ich einem Patienten eine Knieprothese einbauen, der ansonsten körperlich gesund ist, wird es höchstwahrscheinlich keine Komplikation geben. Baue ich aber einem Patienten eine Knieprothese ein, der auf die Einnahme eines Blutverdünners angewiesen ist, zahlreiche internistische Vorerkrankungen hat und höchstwahrscheinlich nach der Operation eine Nacht auf der Intensivstation zur Überwachung verbringen muss, sieht es anders aus.
Dass es nun eine Vielzahl an Kliniken gibt, die hocheffizient genau diese Operationen und Leistungen durchführen, wie zum Beispiel eine Knieprothese bei einem ansonsten vollständig gesunden Patienten zu implantieren, kann ich mir wahrlich nur durch den Kobra-Effekt erklären. Diese Krankenhäuser sind meist sehr beliebt, da die Komplikationsrate sehr niedrig ist und die Verweildauer an der Untergrenze liegt. Die Patienten verlassen die Klinik wieder, bevor sie es geschafft haben, ihre Koffer auszupacken. Wir bezeichnen dieses Vorgehen als »Fast-track«-Chirurgie.
Patienten, die nur kurz im Krankenhaus sind, haben weniger Komplikationen durch zu lange Liegezeiten. Mittlerweile erhalten sie Schmerzkatheter, um die Nerven zu betäuben. So kann man die Einnahme von Schmerzmitteln reduzieren und sehr frühzeitig mit der Mobilisation des Patienten beginnen. Noch am OP-Tag erfolgt das erste Aufstehen. Die Gefahren für Thrombosen, Bewegungsmangel, Muskelabbau und der körperliche »Stress« durch den Krankenhausaufenthalt werden deutlich reduziert. Der Patient bleibt ständig aktiv. Passive Verhaltensweisen haben in diesem Therapiekonzept keinen Platz. Dieses Therapiekonzept kann bei beinahe allen Patienten angewandt werden. Aber natürlich ist es bei aktiven, allgemein eher gesunden Patienten, sehr viel einfacher, als bei multimorbiden, alten Patienten, die schon vor einem Krankenhausaufenthalt nur sehr eingeschränkt mobil sind.
Krankenhäuser, die bevorzugt diese ansonsten »gesunden« Patienten operieren, unterhalten auch meist keine teuren Intensivstationen. Krankenhäuser, die jedoch die ohnehin schon erkrankten Patienten operieren und daher auch Leistungen wie Intensivstationen anbieten müssen, haben natürlich auch höhere Kosten. Selbstverständlich gibt es dann auch mehr Komplikationen im Verhältnis. Denn nach einer Operation entwickelt ein ohnehin schwer kranker Patient natürlich häufiger Komplikationen. Meist aber stellen diese Kliniken, die eine Intensivstation und ähnlich teure Abteilungen betreiben, den Versorgungsbedarf der Patienten in Deutschland sicher. Genau diese Krankenhäuser verlieren aber im Abrechnungssystem, da sie sich ihre Patienten nicht aussuchen können.
Nehmen wir zum Beispiel L. Er wurde in einer Klinik an der Hüfte operiert, ungefähr vierzig Minuten von meinem Krankenhaus entfernt. Das Krankenhaus hat einen exzellenten Ruf, die Patienten sind zufrieden. Ich mag einige Ärzte, die dort arbeiten. Wir haben uns auf Fortbildungen kennengelernt und zusammen Arthroskopien an Modellen durchgeführt oder Nadeln in die Wirbelsäulen von Leichen geschoben, um unsere OP-Techniken zu trainieren. Sie waren sehr geschickt darin. Das Krankenhaus ist ein typisches Kobra-Krankenhaus. Es operiert nur Patienten, die ansonsten gesund sind und deren Komplikationsrisiko gering ist. L. war eigentlich auch gesund. Bis er die erste Dosis eines Anästhetikums bekam. Dann war sein Herz irgendwie nicht mehr in Ordnung. Da die Anästhesie und das Kobra-Krankenhaus aber nicht auf Komplikationen ausgelegt waren, fuhr mein Kollege, der Notarzt, los. Er holte L. aus dem OP ab, brachte ihn in unser Krankenhaus auf die Überwachungsstation, und wir behandelten den Patienten weiter. Im Verhältnis zu den ansonsten komplikationslosen Verläufen ist dieser Fall absolut hinnehmbar für das System. Als kostensparend und patientengerecht würde ich dieses Vorgehen allerdings nicht bezeichnen.
Das Abrechnungssystem wird im Übrigen jedes Jahr angepasst, anhand mehrerer Beispielkrankenhäuser werden die durchschnittlichen Verweildauern und Kosten einer Behandlung errechnet. Da es immer mehr Krankenhäuser gibt, die Kobras züchten, wird die Liegedauer häufig im Durchschnitt nach unten geschraubt. So reduziert sich die Verweildauer Jahr für Jahr. Krankenhäuser, die in einem Jahr noch innerhalb der vorgegebenen Verweildauer lagen, haben ein Jahr später schon zu lange Liegezeiten.
Die Standards der Qualitätssicherung in der Medizin entsprechen also den Grundprinzipien der Marktwirtschaft. Ökonomisierung und Wettbewerb leiten das Alltagsgeschäft. Kliniken mit Vollversorgung auf dem Land müssen schließen. Die Gesamtkosten des Gesundheitssystems sind trotzdem nicht gesunken, denn die Kobrahäuser haben sich als äußerst lukrativ erwiesen.
Es werden immer mehr Patienten immer schneller künstliche Gelenke implantiert. Gerade bei Endoprothesen und Wirbelsäulenoperationen ist die Anzahl der Operationen in weit größerem Maße gestiegen, als es die Demografie oder der Wunsch nach schmerzfreiem Altern erklären würden. In anderen Fachabteilungen wie der Kardiologie, Herz- oder Gefäßchirurgie ist es nicht anders.
Der ursprünglich gewollte Anreiz der Wirtschaftlichkeit im DRG-System ist mittlerweile zu einer täglichen Entscheidung über den Erhalt des eigenen Arbeitsplatzes versus patientenfreundliche Therapien geworden.
Wüssten wir Ärzte nicht von diesem Bezahlsystem, würden unabhängig von diesem ökonomischen Druck arbeiten, wären unsere Entscheidungen in manchen Fällen vielleicht wirklich nur ethischen, moralischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Kriterien verpflichtet.
Bereits am Morgen in unseren Besprechungen waren nun die zuständigen Manager für die Entlassung der Patienten anwesend. Sie händigten uns Zettel aus, welcher Patient noch im wirtschaftlichen Bereich der Grenzverweildauer lag und wer zwingend entlassen werden musste. Oft weigerten wir Ärzte in Weiterbildung uns. Wenn wir es als medizinisch notwendig erachteten, blieben die Patienten auf der Station. Unabhängig von medizinischen Gründen gab es natürlich auch noch soziale Gründe. Eine ältere Dame war nicht versorgt, eine Frau wurde zu Hause vom Ehemann geprügelt und musste erst eine Unterbringung organisieren. Soziale Indikationen, die im heutigen Krankenhaussystem allerdings keinerlei Platz mehr haben.
Wenn wir die Einhaltung der Grenzverweildauern verweigerten, ging es exakt bis zum Tag der Chefarztvisite gut. Erfuhr der Chefarzt davon, dass ein Patient die Grenzverweildauer überschritt, wurde mal wieder eine ganze Horde Ärzte zwei Köpfe kürzer gemacht. Chefarztvisiten bestehen heute nicht mehr nur aus Chefarzt, Oberarzt, Arzt in Weiterbildung, Gesundheits- und Krankenpfleger, Physiotherapeut und eventuell weitere Fachdisziplinen, sondern werden um den Entlassmanager erweitert. Er informiert bei jedem Patienten darüber, ob der Patient zeitgerecht wieder entlassen werden kann.
Ist nun der Chefarzt schuld? Ist er unmenschlich, wenn er von seinen Oberärzten und Ärzten in Weiterbildung einfordert, systemkonform zu arbeiten? Er ist derjenige, der am Ende des Jahres sein Personal entlassen muss, Verträge verlängern kann oder Betten schließen muss. Verliert er Geld, verliert er die Möglichkeit, Patienten zu behandeln. Meist verliert er zudem einen großen Batzen seines Gehalts, das ebenso an die Leistung gebunden ist. Ohnehin verliert er bei Nicht-Einhaltung seinen eigenen Job, denn auch sein Stuhl wird von dem Wirtschaftler, der ihm vorgestellt ist, bezahlt.
Für meinen Alltag bedeutet es übrigens das Gleiche wie für die Patienten. Ich muss immer schneller immer mehr in gleicher Zeit abarbeiten. Durch diese Prozessoptimierung und Verdichtung der Arbeitsaufgaben hat sich mein Pensum im Vergleich zu vor einigen Jahren mit Sicherheit verdreifacht. Mir bleibt allerdings nur noch die Hälfte der Zeit dafür. Dasselbe gilt natürlich für die Oberärzte. Eine Komplikation während einer Operation wird vom System nicht geduldet. Der menschlichen Individualität und Sorgfältigkeit wird nicht mehr ausreichend Rechnung getragen.
Operierten wir vor acht Jahren noch drei Patienten in einem Saal im regulären OP-Programm, sind es heute vier oder fünf. Auf den Oberärzten lastet immenser Druck. Sie müssen so schnell wie möglich die Patienten operieren, den vorgegebenen Zeitrahmen einhalten und dabei noch Ärzte ausbilden. Von den Ärzten in Weiterbildung werden sie ständig bedrängt zu lehren. Da ist richtig und notwendig, führt allerdings zu einer Verlängerung der OP-Zeit. Gleichzeitig schreitet stündlich der OP-Koordinator über den Flur, um die OP-Zeiten zu kontrollieren und sich zu vergewissern, dass die eingeplante OP-Dauer nicht überschritten wird. Kommt es zu einer außerplanmäßigen Verlängerung, steht mit Sicherheit irgendwann der Chefarzt im OP, um sicherzustellen, dass auch noch der letzte geplante Patient an diesem Tag operiert wird.
Das führt täglich zu massiven Zeitüberschreitungen und Überstunden von OP-Personal, Ärzten und den übrigen notwendigen Akteuren. Oberärzte, die diesem Druck standhalten und sich täglich für die Sorgfältigkeit und Lehre einsetzen, müssen unglaublich stark sein. Sie stellen sich jeden Tag gegen das System und leisten ihren Überzeugungen zufolge gute medizinische Arbeit. Im Übrigen werden die meisten Oberärzte für ihre zahlreichen Überstunden nicht entlohnt, weil sie pauschal bezahlt werden. Alles andere wäre sicherlich nicht finanzierbar. Im Anschluss an ihre normale Arbeitszeit arbeiten sie nachts in Diensten weiter. In vielen Krankenhäusern heißt das nach wie vor, vierundzwanzig Stunden ohne Pause. Sie werden selten die Zeit finden, Ruhephasen einzuhalten.
Auch in dem Krankenhaus, in dem ich nach der Elternzeit arbeitete, fanden nun sogenannte Prozessevaluationen statt. Fremde Firmen machen Vorschläge über die Veränderungen der Arbeitsabläufe, um noch kostensparender zu arbeiten. Bereits mehrfach habe ich solche Evaluationen miterlebt. Die Ergebnisse konnte man alle zusammenfassen unter: »Verkürzen Sie die Schnitt-Naht-Zeit. Operieren Sie schneller.«
Sich als Arzt von diesem ökonomischen Druck zu befreien, ist fast nicht möglich. Er ist omnipräsent und fordert stündliche Reflexion über das eigene Handeln. Gerade deshalb braucht jede Abteilung genug Bären in den Oberarztriegen. Bären lassen sich in den allermeisten Fällen nicht hetzen. Sie schalten ihre Telefone ab, wenn sie den OP-Saal betreten, konzentrieren sich ausschließlich auf ihren Patienten. Der OP-Koordinator ist ihnen zum größten Teil egal, auch den Chefarzt im Nacken erdulden sie mit Langmut. Leider verschwinden die Bären zunehmend aus unserem Arbeitsumfeld. Die jetzige Generation Ärzte wird mit diesem System groß, dass die Wirtschaftlichkeit über alles stellt. Zeit für die Vermittlung der Basiswerte wie Sorgfalt, Ruhe und Konzentration bleibt kaum.
Dieses Bezahlsystem hatte im Übrigen zur Folge, dass ich mich tagtäglich fragte, ob ich nun Ärztin war oder Schreibkraft. Die Qualitätssicherung sieht nämlich in allen Fällen eine lückenlose Dokumentation vor. Am besten erkläre ich dies an der Möglichkeit, einen Patienten, der an einem Oberschenkelhalsbruch operiert wurde, in eine geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung zu überführen. Ältere Damen und Herren mit entsprechenden Kriterien, die aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr in eine Reha können, sind hierfür Kandidaten. Man kann ihnen trotz eingeschränkter Mobilität einen verlängerten stationären Aufenthalt mit multiplen Therapien, Krankengymnastik und Mitbehandlung durch Geriater anbieten. Toll für die Patienten, da die meisten dann gestärkt in ihr Pflegeheim zurückkönnen oder doch noch rehabilitationsfähig werden. Die Vergütung dieser Komplexbehandlung ist ausgesprochen rentabel für eine Abteilung.
Der einzige Nachteil ist, dass wir Ärzte in Weiterbildung, die Physiotherapeuten und alle beteiligten Disziplinen jede Untersuchung, jeden Kontakt, jede Therapie einzeln dokumentieren müssen. Fehlt nur eine einzige Unterschrift, gibt es die kleinste Abweichung streicht der medizinische Dienst der Krankenkassen den Erlös für die Behandlung. Der Dokumentationswahnsinn ist unverhältnismäßig hoch und stiehlt die Zeit für den Patienten selbst. Gepaart mit den Anforderungen der Patienten, Arztbriefe zu verfassen, die vor jedem Rechtsanwalt Bestand haben, verbringe ich als Unfallchirurgin ungefähr fünfundachtzig Prozent meiner Zeit am PC.
Der Wechsel zurück nach der Elternzeit war ein harter Aufschlag in der Realität. Vielleicht aber hatten mir auch einfach die vielen menschlichen Bedürfnisse, die ich als Mutter mitbekommen hatte, gezeigt wie stark das System der Fallpauschalen meinen Arbeitsalltag lenkte. Ich hatte keine Zeit mehr, die jüngeren Kollegen entsprechend einzulernen oder mich während der Arbeitszeit weiterzubilden. Die nachfolgenden Ärzte wurden zu Checklisten-Robotern anstatt zu Handwerkern ausgebildet.
Das galt nicht nur für meinen eigenen Fachbereich. Arbeitete ich in der Notaufnahme mit den Internisten zusammen, so gab es durchaus Ärzte, die bei Oberbauchschmerzen die direkte stationäre Aufnahme mit Gastro- und Koloskopie am Folgetag empfahlen. Das System vergütet kein abwartendes Verhalten, die ambulanten Ärzte konnten erst wieder Termine in vier Monaten anbieten, und der Patient bestand auf eine ausreichende Abklärung. Die Krankenhäuser müssen sie entlassen, ambulant fehlen ausreichende Versorgungsmöglichkeiten. Die niedergelassenen Ärzte und Physiotherapeuten sind massiv überplant. Die Patienten werden zurück in die Notaufnahmen getrieben, aber die angeforderte Hilfe können die Krankenhäuser nicht leisten. Alle Beteiligten leiden unter diesem Bumerang der Verantwortlichkeiten.
Ganz besonders in Erinnerung bleibt mir C. Er war Mitte fünfzig. Bei ihm war eine Ausstülpung im Bereich des letzten Stückes des Darmes nach innen in den Bauch durchgebrochen. C. kam nachts um eins. Er wurde mit dem Rettungsdienst aus einem anderen Kreis angefahren, da alle Krankenhäuser in der Nähe seines Zuhauses belegt waren. Die kleinen Krankenhäuser waren geschlossen worden, die großen Kliniken hatten die Aufnahme von C. abgelehnt. Die OP-Kapazitäten waren ausgeschöpft, sie operierten durch, die Intensivstationen waren belegt.
Die Anfahrt von C. hatte über eine Stunde gedauert. Als die Rettungsdienstleitstelle den Allgemeinchirurgen in meinem Krankenhaus kontaktiert hatte, gab es bei uns genug Kapazität im OP, also nahm er selbstverständlich den Patienten an. Als der Patient eine Stunde später endlich ankam, stand der Allgemeinchirurg allerdings zusammen mit seinem Oberarzt in einer Notfall-OP eines Magendurchbruchs von einem Patienten, der bei ihnen auf der Station gelegen hatte. Als C. ankam, war ich in der Notaufnahme. Mein Kollege stand im zweiten OP-Saal bei einer Wirbelsäulenoperation, die Internisten hatten wie immer volles Haus. In meinem Wartebereich saßen nur ungefähr zehn Personen, die jedoch keine lebensgefährliche Verletzung hatten. So nahm ich den mittlerweile instabilen Patienten C. an.
In meiner Basisausbildung habe ich zwar auch allgemeinchirurgische Erfahrung gesammelt, aber niemals würde ich mir anmaßen, einen Patienten leitliniengerecht therapieren zu können. C. war im hypovolämischen Schock durch zu wenig Blutzirkulation. Ich rief auf unseren Intensivstationen an, um ihn dort unterzubringen, bis er in den OP-Saal konnte. Leider war das einzig freie Bett dort bereits für den unfallchirurgischen Patienten reserviert, der noch einige Stunden von meinen Kollegen operiert werden würde. Ich rief in allen umliegenden Krankenhäusern an, um eine Verlegung des Patienten zu organisieren. Einige Stunden würde C. vielleicht nicht mehr überleben. Währenddessen versuchte ich, die erschütterte Ehefrau zu beruhigen und den Patienten in der Notaufnahme zu stabilisieren. Die Intensivstation schickte mir dafür glücklicherweise eine Intensivschwester, denn die Kapazitäten in der Notaufnahme reichten nicht aus.
Kein umliegendes Krankenhaus übernahm C. Die Kapazitäten waren auch hier ausgeschöpft. Ich fuhr den Patienten auf die volle Intensivstation und legte ihn in das Bett, das für den Patienten, der bereits im OP war, reserviert war. Einige Stunden später konnte C. operiert werden. Ihm musste ein großflächiges Stück Darm entfernt werden, mehrfache Nachoperationen folgten.
Die Ausleitung unseres unfallchirurgischen Patienten konnte erst erfolgen, als C. schon im OP war. Das Team der Anästhesie steckte drei Stunden mit ihm dort fest, weil ich das Bett auf der Intensivstation blockiert hatte. C. überlebte. In den folgenden Wochen hatte ich einige Besprechungen mit den Chefärzten der Abteilungen und schrieb viele E-Mails über diesen Vorgang. Selbstverständlich hatte meine Aktion die Abläufe völlig gestört und zu einem krassen Dominoeffekt geführt. Die Notaufnahme war überfüllt, die Intensivstation, die Anästhesie, die Pflegekräfte und das OP-Personal waren wütend auf mich. Wahrscheinlich hätte ich noch in der Notaufnahme die Annahme des Patienten verweigern, einen Notarzt zu ihm rufen und die Leitstelle ein anderes Krankenhaus für den Patienten finden lassen sollen.
Bei absoluter Auslastung ist jedes Krankenhaus für sein Einzugsgebiet zuständig. Wir waren wie alle anderen Krankenhäuser für diese Nacht abgemeldet, die Wartezeiten in der Notaufnahme stiegen stetig an.
Dann kamen J. und S. Seit Wochen hatten wir aufgrund der jährlichen Durchfallkeime überfüllte Stationen, die Intensivstationen der Umgebung lieferten sich ein tägliches Wettrennen, wer sich als Erster abmeldete. Bereits seit Tagen fuhren die Krankenwagen aufgrund der Kapazitätsprobleme in der Umgebung das nächste Krankenhaus an. Zuerst verunfallte J. Der Dreiundvierzigjährige war betrunken mit zu großer Geschwindigkeit auf ein anderes Fahrzeug gefahren und kam als Schockraum, bereits intubiert und beatmet. Eine Beteiligte war an der Unfallstelle verstorben, zwei weitere in das Krankenhaus der Maximalversorgung eingeliefert worden. Zum Zeitpunkt der Schockraumanmeldung war mein Oberarzt mit einem Kollegen im OP, der Allgemeinchirurg verfügbar, einen Neurochirurgen hatten wir schon nicht mehr in unserem Krankenhaus. Die Abteilung war in das Krankenhaus der Maximalversorgung integriert worden. Fünf Minuten vor Eintreffen des Patienten kontaktierte uns ein weiterer Notarzt, dass sie mit S. kämen. S. war Ende zwanzig und drei Meter von einem Balkon gestürzt, kam als Schockraum, war aber noch ansprechbar und wohl kreislaufstabil.
Für eine zeitgleiche Versorgung zweier Schockräume hatte ich kein Personal. Aufgrund der Kapazitätsprobleme in der Umgebung hatte die Leistelle aber entschieden, dass wir für die Erstversorgung zuständig waren.
Ich stellte die erfahrenste Notaufnahmeschwester mit einer Kollegin in den Raum für S. und bat den Radiologen, die notwendige Ultraschalldiagnostik zu machen. Währenddessen gab ich dem Notarzt Bescheid, dass er so lange bei dem Patienten bleiben musste, bis ich die Primärdiagnostik bei J. abgeschlossen hatte. Außerdem hatte ich nur ein Anästhesieteam, das ich für J. brauchte. Sollte sich die Lage bei S. verschlechtern, müsste der Notarzt selbst eingreifen.
Mein Oberarzt kam zur Behandlung hinzu. J. hatte bereits die notwendige Thoraxdrainage und wurde in den OP-Saal gerollt, damit wir seine Verletzung der Milz entfernen und die kaputten Unterschenkel stabilisieren konnten.
S. hatte in der Zwischenzeit einen Krampfanfall erlitten. Er hatte sich zwei Wirbelkörper gebrochen, einen Schädelbruch und eine Blutung im Schädel. Er wurde mit dem Helikopter in ein Krankenhaus geflogen, das zwei Autostunden entfernt lag und die notwendigen Kapazitäten hatte, ihn zu versorgen.
Die Maximalauslastung der Krankenhäuser mag kosteneffizient sein. In meinem Alltag aber muss ich Patienten beim Sterben zusehen und solche behandeln, die bei anderen Fachärzten besser aufgehoben wären.
Wahrscheinlich wird es das Krankenhaus, in dem ich aktuell arbeite, in naher Zukunft nicht mehr geben. Denn neben der Neurochirurgie sind die Abteilungen für Gynäkologie und Geburtshilfe sowie die Pädiatrie geschlossen worden, um Kosten zu reduzieren. Denn diese Abteilungen schreiben grundsätzlich rote Zahlen. Zwei Abteilungen, die sich um die Schwächsten und Schutzbedürftigsten in unserer Gesellschaft kümmern.
Der Verlust dieser Abteilungen führte unter anderem dazu, dass ich P., sieben Jahre alt, mit einer völlig zertrümmerten Ellenbogenfraktur in ein Krankenhaus schicken musste, das über neunzig Kilometer entfernt war. Das näher liegende Krankenhaus war bis zum nächsten Tag komplett belegt, die Kinderchirurgie operierte das Wochenende durch. Da aber kein Anästhesist in unserem Hause die Anästhesie bei einem kleinen Kind übernehmen konnte, weil wir dafür nicht mehr ausgerüstet waren, konnten wir ihn nicht versorgen. Und selbst wenn, hätten wir ihn anschließend in einem Zimmer mit einem neunzigjährigen Dementen unterbringen müssen. Bis ich ein Krankenhaus für P. gefunden hatte, dauerte es drei Stunden.
L. hingegen gebar ihr zweites Kind fünf Autominuten von uns entfernt auf dem Beifahrersitz. Auch sie musste ich per Rettungswagen in das zuständige Krankenhaus bringen lassen, das dreißig Minuten entfernt war. Glücklicherweise war ihr Neugeborenes gesund und sie blutete nur wenig. Bei einer Komplikation hätte ich als Unfallchirurgin ihr sicherlich nicht adäquat helfen können.
Diese Versorgungssituation führt zu zahlreichen Kündigungen. Das Krankenhaus, das vor einigen Jahren noch dafür bekannt war, langfristig Arbeitnehmer zu beschäftigen, ist nun wie alle anderen Krankenhäuser auch auf Honorarkräfte angewiesen. In besonders kritischen Bereichen wird für einige Zeit Personal hinzugekauft. Langjährige Arbeitskräfte wählen den Ausstieg aus der Pflege, sie haben fast keine Zeit mehr für eine angemessene Betreuung ihrer Patienten, Veränderungen im Alltag, bürokratische Aufgaben und Umstrukturierungen werden zusätzlich zu ihren eigentlich Aufgaben auf ihren Schultern abgeladen. Für den zusätzlichen Verwaltungsaufwand gibt es nämlich keine Fallpauschale.
Diese unsachgemäßen, fehlerhaften und unmenschlichen Behandlungen führen zu immer mehr Misstrauen bei den Patienten. Meine Kompetenz als Ärztin wird angezweifelt, meine Vorgehensweise kritisch beobachtet. Patienten filmten meine Aufklärungsgespräche, verstecken ihre Handys unter der Bettdecke, um meine Visite aufzuzeichnen oder stellen sich zur Viertmeinung in der Notaufnahme vor. Die Patienten sind so verunsichert, dass sie sich bei vielen unterschiedlichen Ärzten beraten lassen, bevor sie einer medizinischen Behandlung vertrauen. Das Arzt-Patienten-Verhältnis ist in Anbetracht der technischen Weiterentwicklung nach wie vor eines der wichtigsten Kriterien für eine Entscheidung. Die Unsicherheit führt zu Angst und dem dringenden Wunsch, immer auf eine komplette Diagnostik zu bestehen. Leitliniengerecht Rückenschmerzen zu therapieren, ist kaum mehr möglich. Aus mangelndem Vertrauen in meine Kompetenzen, bestehen die Patienten auf eine sofortige Diagnostik mittels Röntgen oder MRT. In manchen Fällen führt dieses massive Misstrauen gegenüber uns Ärzten dazu, dass wichtige Behandlungen abgelehnt werden, weil Patienten sich in der »Geldfalle« glauben.
Die Patienten bestehen auf der Wiederholung von Untersuchungen oder Diagnostiken, sie bringen sich in Situationen, die lebensgefährlich sind. Anstatt der Schulmedizin zu vertrauen, begeben sie sich in die Behandlung mit alternativen Heilmethoden, die zu einer Verzögerung wichtiger therapeutischer Maßnahmen führen und ihr Leben verkürzen. Die Behandlung von immer mehr Patienten durch weniger Personal, führt unvermeidlich zu Fehlern, die das Misstrauen uns Schulmedizinern gegenüber noch weiter vergrößert. Das jetzige Gesundheitssystem geht diese Risiken mit vollem Bewusstsein ein. Leidtragende sind die Patienten und wir Beschäftigte im Gesundheitswesen. Und das alles, um Kosten zu sparen.
In gleichem Maße, wie es Patienten von der Schulmedizin in die Hände teilweise unqualifizierter Dienstleister treibt, wächst die Anzahl der Patienten, die sich in diesem System zu Hause fühlen und jeden Millimeter Spielraum auskosten. Patienten, die sich bei vier unterschiedlichen Ärzten beraten lassen mit gleicher Symptomatik. Patienten, die sich beim Hausarzt, Orthopäden und schließlich in der Klinik vorstellen, überall eine Überweisung für Kernspintomografien bekommen und schlussendlich innerhalb eines Jahres viermal eine Diagnostik bekommen, die schon beim ersten Mal überflüssig war. Patienten, die innerhalb eines Monats unzählige Male in Notaufnahmen auftauchen, um sich durchchecken zu lassen. Patienten, die Arzthopping betreiben, sich von einer Krankmeldung zur nächsten hangeln. Patienten, die von Krankmeldung zu Reha, Krankmeldung, Wiedereingliederung und Krankmeldung springen und auch den letzten Cent für sich aus der Flatrate-Sofort-Medizin rauspressen. Gerechtfertigt natürlich durch den monatlichen Krankenkassenbeitrag.
Wir Beschäftigte im Gesundheitswesen aber erbringen die tatsächlichen Leistungen. Ich habe zumindest noch keine Person von der Krankenkasse oder Verwaltung gesehen, die nachts um zwei um das Leben zweier Menschen kämpft. Die Entscheidung zu treffen, ob ich nun S. oder J. als Erstes behandle und welcher der beiden die höchste Wahrscheinlichkeit hat, diese Unterversorgung zu überleben, muss noch immer ich, die behandelnde Ärztin, treffen.