Was heißt es heutzutage Ärztin zu sein?
Für mich war es ein geradliniger Weg. Ich studierte, approbierte und unterschrieb einen Arbeitsvertrag. Was es aber wirklich bedeutete, die Verantwortung für ein Menschenleben zu tragen, realisierte ich erst spät. Es reichte nicht, Leitlinien auswendig zu lernen und unseren medizinischen evidenzbasierten Einteilungen entsprechend, Patienten zu therapieren. Die Therapien mussten zu den Patienten passen. Der Faktor Mensch spielte eben doch eine entscheidende Rolle. L. empfahl ich dringend die operative Versorgung ihres Unterarms, und doch entschied sie sich dagegen. Das Misstrauen gegenüber uns Ärzten war so groß, dass sie meiner Empfehlung nicht trauen konnte. Bei S. wäre mir niemals in den Sinn gekommen, zu operieren, und doch landete er auf dem OP-Programm. Eine Entscheidung, die aus Gründen der Wirtschaftlichkeit und auf Wunsch des Patienten erfolgte.
Ich musste mich im Alltag damit auseinandersetzen, dass Patienten unterschiedliche Charaktere haben wie Strauß oder Biene und ich unterschiedlich mit ihnen kommunizieren muss. Wenn ich mich von der Kategorisierung löse und der Kommunikation mit den Patienten den Stellenwert einräume, den sie eigentlich braucht, ist es die eigentliche Herausforderung. So lehne ich mich tagtäglich gegen ein System auf, das die Arzt-Patienten-Kommunikation nicht ausreichend wertschätzt. Dafür muss ich zahlreiche Überstunden machen, opfere mein Leben und meine Gesundheit. Was am Ende dazu führt, dass ich meinen Beruf und den Umgang mit Menschen zu hassen beginne. Seit ich als Ärztin arbeite, hatte ich etliche Magenschleimhautentzündungen, Bandscheibenvorfälle und gebe mich damit zufrieden, nur in Ausnahmefällen auf die Toilette zu gehen, etwas zu essen und zu trinken. Betrete ich ein Krankenhaus, bin ich mir heute manchmal nicht sicher, welche der krank aussehenden Menschen nun zum Personal oder zu den Patienten gehören.
Natürlich lernte ich nicht nur Ärzte kennen, die sich krank arbeiteten oder alles unternahmen, um dem ökonomischen Druck gerecht zu werden. Ich lernte Ärzte kennen, die auch in den extremsten Situationen gelassen und ruhig blieben. Die den Spagat zwischen Beruf und Privatleben schafften, zu jeder Tages und Nachtzeit freundlich und zugewandt blieben und sofort zur Stelle waren, wenn man sie brauchte. Mit ihnen Patienten zu versorgen, die unsere Hilfe dringend benötigen, macht Spaß, ich lerne jeden Tag etwas dazu.Erst als ich mir zugestand, meinem eigenen Leben Raum zu geben, wurde ich wieder zu einer empathischen, kompetenten und glücklichen Ärztin. Das ist in meinem Beruf nur möglich, indem ich in sogenannter Teilzeit arbeite. Ein eklatanter Fehler im System. Diese Teilzeit beinhaltet eine Durchschnittsarbeitswoche von über fünfzig Stunden, auch das kann ich nur leisten, weil mein Partner dieses Leben mitträgt. Dass mir damit der Weg in eine leitende Position im Krankenhaus verwehrt bleibt, ist glasklar. Eine Tatsache, mit der ich noch umzugehen versuche. Bisher habe ich schon einige Steine aus dem Weg geräumt und gerade durch die Umwege viel gelernt. Wer weiß, wie es weitergehen wird.
Am Anfang waren meine leitenden Ärzte sehr misstrauisch gegenüber einer Frau, die Unfallchirurgin werden wollte und sich zeitgleich auf eine Schwangerschaft einließ. Manche stempelten mich von vorneherein ab und empfahlen mir direkt, die Fachrichtung zu wechseln. Andere wiederum genossen es, sich währen der Operation mit einer Frau über Privates auszutauschen. Mein leitender Oberarzt diskutierte mit mir die Stuhlgewohnheiten der Kinder und tauschte sich über Erziehungstipps aus. Als Mutter habe ich Zugang zu einer Welt der endgültig Erwachsenen, die Ärzten in Weiterbildung ohne Kinder verwehrt bleibt. Nach einer anstrengenden Phase der Wiedereingliederung nach der Elternzeit, in der ich mich zunächst wieder beweisen und die leitenden Ärzte davon überzeugen musste, dass ich nichts verlernt hatte, war bei den meisten Ärzten auch das Misstrauen mir gegenüber verschwunden. Vielmehr hatte ich tatsächlich das Gefühl, respektiert zu werden.
Erst die Teilzeit, die mir auch ein Leben außerhalb der Medizin ermöglichte, machte mich zu der Ärztin, die ich sein möchte. Heute kämpfe ich an der Seite vieler anderer Ärzte tagtäglich für die Patienten und eine menschliche Medizin und gegen ein System, das uns schwer aufstößt. Gegen ein System, das die Ökonomie an vorderste Stelle setzt, maßlos ausgenutzt wird und das Vertrauen in uns Ärzte massiv zerstört hat.
Diese Medizin bedeutete, O. in der Notaufnahme nicht abzuweisen, weil er sonst nur geringe Überlebenschancen gehabt hätte. Ihn am Leben zu erhalten mit allen Kräften, bis ein Krankenhaus ausfindig gemacht war, das ihn versorgen konnte. O. zwei Stunden lang zu versorgen, obwohl er ein Kleinkind war und eigentlich einen Pädiater gebraucht hätte, den es in meinem Krankenhaus aber nicht mehr gab. O. so zu versorgen, dass er zwar überlebte, aber in deutlich kompetenteren Händen wäre er sicherer aufgehoben gewesen. Es bedeutete, O. zu versorgen und zu wissen, dass die zweiundachtzigjährige M. auf der Station zeitgleich einen Herzinfarkt erlitten hatte und nicht rechtzeitig versorgt werden konnte, weil kein weiteres Personal verfügbar war. Diese Medizin bedeutete, entscheiden zu müssen, wer an diesem Tag überlebte.Die Tragweite der Entscheidungen über Menschenleben konnte ich mir zu Beginn meines Medizinstudiums nicht vorstellen. Es ist das Ergebnis der scheinbar notwendigen Rationierung von Maßnahmen in unserem Gesundheitssystem. Schwangere, Neugeborene, Kleinkinder und Kinder können nicht mehr ausreichend versorgt werden. Vielerorts fehlen Pädiater und Gynäkologen, die Anfahrten sind lange, die Intensivstationen und Kreißsäle ständig überfüllt. Denn Geburten und die Therapien in der Gynäkologie und Kinderheilkunde werden in unserem DRG-System nicht hinreichend gut bezahlt. Die Einhaltung der wirtschaftlichen Kriterien ist hier noch weniger möglich als in anderen Fachgebieten. Mit einem Fünfundsechzigjährigen Mann darüber zu diskutieren, dass er das Krankenhaus nach fünf Tagen verlassen muss, obwohl er noch kaum gehen kann, ist etwas anderes, als Kleinkinder vorzeitig zu entlassen.
In der Kinderheilkunde gibt es zwar ebenso viele Leitlinien wie bei Erwachsenen, aber noch mehr individuelle Therapieentscheidungen, die mithilfe des DRG-Systems nicht abgebildet werden können. Die Versorgung von Kindern mit chronischen, lebensbedrohlichen Erkrankungen ist langwierig und teuer, die Zukunft oftmals nicht absehbar. Wie soll so eine Erkrankung mit einer Fallpauschale belegt werden? Frauen müssen unter Wehen teilweise im Umkreis von bis zu 150 Kilometern nach einem offenen Kreißsaal suchen, um irgendwo ihr Kind gebären zu können und dann drei Tage nach einem Notkaiserschnitt das Krankenhaus wieder verlassen zu müssen. Das mag den wirtschaftlich orientierten Betreibern der Krankenhäuser gefallen. Hebammen, Kinder- und Frauenärzten beschert es die Behandlung vieler Komplikationen, die man verhindern hätte können.
Die einzig wahre Bereicherung in diesen Situationen: Es ist doch auch unter Ärzten irgendwie möglich zusammenzuarbeiten. Natürlich waren unter der maximalen Belastung alle Nerven angespannt, und so manch innerer Stress entlud sich direkt auf das Gegenüber. Stand ich aber im Schockraum und musste das Kleinkind O. versorgen, so eilte mit Verwünschungen der Internist von der Intensivstation herbei und brachte trotzdem all seine Kraft mit ein. Auch auf die völlig überforderte Anästhesie war Verlass. Konnte der Anästhesist nicht den OP verlassen, so schickte er die hervorragend ausgebildete Anästhesieschwester, die dank ihrer Erfahrung auf der Kinderintensivstation hilfreiche Informationen beisteuern konnte. Rollte der Notarzt an und bemerkte die völlig ausgelastete Notaufnahme, blieb er ein paar Minuten länger, um selbst mitzuarbeiten.
Wenn Menschenleben auf dem Spiel stehen, werden alle ihr Bestes geben. Eine absichtliche Gefährdung habe ich glücklicherweise noch nie in der direkten Patientenversorgung erleben müssen. Ohne die unglaublich große Hilfe und Unterstützung durch die ständig überarbeiteten Pflegekräfte hätte so mancher Patient sein Leben verloren. Im Endeffekt arbeiten wir alle im Gesundheitswesen, weil wir den Menschen beistehen wollen und uns für sie interessieren. Das »Helfersyndrom« muss nicht immer negativ verstanden werden. In den allermeisten Fällen ist es eine zwingende Voraussetzung. Nur durch das ständige Überschreiten der persönlichen Belastungsgrenzen war es in den letzten Jahren überhaupt noch möglich, die Patienten adäquat zu versorgen. Tag für Tag bewundere ich die Kollegen, die trotzdem für jeden ein offenes Ohr haben, einem ein Lächeln ins Gesicht zaubern und bei jedem Notfall sofort zur Stelle sind.Die Debatte um die Rationierung im Gesundheitssystem war durch das DRG-System vorherbestimmt. Das bewusst medizinisches Personal und überlebensnotwendige Versorgungsstrukturen vorenthalten werden, wurde leider nie genug thematisiert. Die Vorbehalte der Ärzte, die es bereits bei der Einführung des Systems gab, wurden ignoriert. Die Prinzipien der freien Wirtschaft widersprechen dem Solidaritätsprinzip und der Menschlichkeit im Gesundheitswesen. Wäre es von Anfang an um die Rationierung und Priorisierung gegangen, hätte es vielleicht eher eine öffentliche Schlammschlacht gegeben. Politiker hätten darüber diskutieren müssen, welche Maßnahmen sinnvoll sind. Welche Kriterien werden zur Steuerung angewandt? Spielt das Alter eine Rolle? Die Bedürftigkeit? Die Krankenkassenzugehörigkeit? In Deutschland gibt es keine gesetzliche Regelung für die Priorisierung der Patientenversorgung, einzig die Wirtschaftlichkeit ist vorgegeben. Ich kann unmöglich in meinem ärztlichen Alltag akzeptieren, dass Patienten auf ihre notwendigen Therapien verzichten müssen. Mein Ziel muss es immer bleiben, für die Patienten zu kämpfen. Da die Politik verfehlt hat, die gesetzlichen Regelungen anzupassen, müssen nun alle Patienten und die Arbeitenden im Gesundheitswesen dafür büßen.
Am Ende aber stehen nun wir Ärzte in der Verantwortung, wir können nicht rechtzeitig reagieren, verlieren Patienten und das Vertrauen. Im Gegenzug bekommen wir unzählige Stellungnahmen, einen Haufen Bürokratie und engen Kontakt zu Anwälten im Medizinrecht.Das Vertrauen der Patienten zurückzugewinnen, wird eine der größten Aufgaben in der Zukunft für unsere Ärzteschaft sein. Wir haben jedoch nie gelernt, zusammenzuarbeiten und uns gegenseitig zu unterstützen, stattdessen erfüllen wir Funktionen, kämpfen gegeneinander, neiden uns alles gegenseitig. Das überwiegend von Männern dominierte Netzwerk ist ein Sumpf elitärer Kreise, Positionen werden durch Machtbewusstsein und Hahnenkämpfe gesichert. Vielleicht ähnelt es am ehesten dem Hauen und Stechen unter Spitzenpolitikern in der Wahlkampfphase. Es wird mit den härtesten Bandagen, den besten Anwälten und den miesesten Tricks gekämpft. Am Ende gewinnt, wer die meisten Forderungen bei der Geschäftsführung durchbekommt, seinen Chefposten behält und ein paar Betten mehr belegen darf.Im Alltag führt das unter anderem zu dem Kampf um OP-Kapazitäten. Die OP-Pläne waren grundsätzlich überplant. Jede Operation wird kürzer geplant, als sie sehr wahrscheinlich dauern wird, eventuelle Verzögerungen durch schwierige Vorgehensweisen oder gar Komplikationen werden selbstverständlich nicht einberechnet. Die Zeit zur Weiterbildung der Ärzte natürlich ebenso wenig. Wie sollte ich bitte die operative Versorgung einer Knieprothese in derselben Zeit durchführen wie mein Chefarzt, der diese Operation schon tausendmal durchgeführt hat? Also fiel der Lehranteil bei einer solchen Operation häufig gering aus. Und trotzdem wird der OP-Plan an fast keinem Tag eingehalten.
Der OP-Koordinator muss jeden Tag die Chefärzte der operativen Fächer daran erinnern, dass sie ihre geplanten Operationen zum Ende des normalen Tagesablaufs abschließen. Danach sind in der Dienstbereitschaft nur noch dringliche oder notfallmäßige Operationen erlaubt. Was dazu führt, dass dringliche und Notfall-Operationen am Ende des OP-Plans stehen oder überhaupt erst am Ende eines normalen Arbeitstages auf den OP-Plan geschrieben werden. So kann die geplante operative Versorgung tagsüber stattfinden und die Patienten, die definitiv operiert werden müssen, werden in die unterbesetzten Dienste verlegt. Wenn die leitenden Ärzte am Ende eines Arbeitstages zusammenkommen, artet das meist in eine Schlacht aus. Akute Bäuche sind lebensgefährlicher als akute Brüche, nicht durchblutete Beine aber noch schlimmer. Melden sich dann auch noch der Gynäkologe und der Herzchirurg wird es unübersichtlich. Insbesondere, wenn die zu operierende Person noch ein paar Minuten zuvor keinesfalls einer Not-OP bedurft hätte.
So wurde A. drei Tage nacheinander vom OP-Programm gestrichen. A. hatte sich das Sprunggelenk ziemlich kompliziert gebrochen. Am Aufnahmetag war der Operationssaal voll belegt, sodass ein Kollege ihr Sprunggelenk wieder in Position brachte und eingipste. Der instabile Bruch stand allerdings auch im Gips nicht ganz korrekt, er musste zwingend operativ versorgt werden. Eigentlich gehört auf solch einen Bruch gleich zu Beginn ein Fixateur externe. Also dieses Gestell, das außerhalb der Haut fixiert wird und die Bruchstücke achsgerecht in Stellung hält. Anderenfalls können die Weichteile nicht abschwellen. Aber erst nach dem Abschwellen kann eine solche Fraktur überhaupt endgültig mit den notwendigen Platten und Drähten versorgt werden. Würde man diese Fraktur operieren, während die Weichteile noch stark angeschwollen sind, würden wir die Haut zwar aufschneiden können, um die Knochen zu versorgen, aber sie würde nicht mehr zugehen. Falls doch, ginge das nur unter großer Spannung, sodass die Wunde nicht richtig heilen wird. A. wurde aber nicht operiert. Denn am Folgetag waren die Operationssäle voll durchgeplant: Hüftprothesen, Knieprothesen, Wirbelsäulenoperationen. A. sollte also wie üblich am Abend im Dienst operiert werden. Dass die Weichteile bis dahin nicht ausreichend abschwellen würden, war klar. Zu Beginn des Nachtdienstes liefen noch mehrere Operationssäle weiter, pünktlich zur Dienstbereitschaft standen notfallmäßige Bauch- und Gefäßoperationen auf dem Plan. Auch in dieser Nacht konnte A. nicht operiert werden. Dasselbe Spiel am Folgetag. Sie wurde schlussendlich in der dritten Nacht operativ versorgt. A. hatte seit ihrer Aufnahme drei Tage zuvor fast nichts gegessen und getrunken. Denn ständig hatte man sie in dem Glauben gelassen, dass sie bald operiert werden würde.
Es gibt in jedem Krankenhaus, an jedem Tag eine Person wie A., die ein oder zwei Tage länger auf die operative Versorgung warten muss als notwendig, weil die lukrativen Eingriffe vorgezogen werden. Patienten zu verärgern, die bereits alle ihre Termine für einen geplanten Eingriff am Knie oder an der Wirbelsäule ausgemacht haben, ist nicht besonders umsatzfördernd. Diese Patienten suchen sich im Zweifel eine andere Klinik, es spricht sich herum und am Ende bleiben die geplanten, lukrativen Eingriffe aus. Unfallchirurgische Verletzungen gibt es immer. Kaum ist ein Operationssaal frei, werden sie alle zum Notfall. Was für eine fragwürdige Art der Priorisierung.Erst in den letzten ein bis zwei Jahren wurde mir ein weiteres Problem dieser Priorisierung nach wirtschaftlichen Kriterien bewusst. Meine Weiterbildung und chirurgischen Handgriffe trainierte ich mir durch viel Übung an. Aber diese Fertigkeiten lernt man nur, indem man sie selbst ausüben darf. Im Zuge dieser massiven Arbeitsverdichtung ist die Weiterbildung stark gefährdet. Ich hatte immer Krankenhäuser ausgewählt, die zwar groß waren, aber nicht die größten. Ich habe als approbierte Ärztin in keinem Maximalversorger gearbeitet und in keiner Uniklinik. Die Erfahrungen in meiner Studienzeit hatten mir gezeigt, dass an diesen Kliniken zwar viel theoretischer Inhalt vermittelt wurde und die wissenschaftliche Arbeit einen großen Stellenwert hatte, aber die praktischen Lehrinhalte kaum Beachtung fanden.
In den Fortbildungen der unfallchirurgischen Fachgesellschaften bestätigte sich dieses Bild. Bei den Veranstaltungen trafen wir regelmäßig auf Ärzte aus Maximalversorgern. Übten wir an Präparaten die chirurgischen Tätigkeiten, so stellte sich oft heraus, dass die Ärzte aus den Unikliniken noch niemals unter Anleitung oder gar selbstständig eine solche operative Versorgung durchgeführt hatten. Es ist durchaus üblich, Ärzte in Weiterbildung jahrelang auf später zu vertrösten.Insbesondere fiel es mir auf, wenn sich Kollegen aus den größten Versorgungszentren bei uns als Ärzte in Weiterbildung bewarben. J. kam aus einem Maximalversorger, war seit fünf Jahren Arzt und im letzten Weiterbildungsjahr. Sein Operationskatalog war fast komplett leer. Weil es unmöglich ist, innerhalb eines Jahres die entsprechenden operativen Fertigkeiten zu erlernen, wird sich J.s Weiterbildungszeit noch um einige Jahre verlängern. S. hingegen war die ersten Jahre seiner Weiterbildung in einem kleinen Krankenhaus gewesen. Dort hatte er vor allem die unfallchirurgischen Tätigkeiten erlernt, aber selten operativ versorgt. Denn die Oberärzte operierten viel alleine. Um das Haus nicht zumachen zu müssen, wurde auch dort so viel wie möglich in kürzester Zeit operiert. Das ließ wenig Spielraum für eine gute Lehre. S. erhielt bereits Unterschriften für seine durchgeführten Operationen im Logbuch, wenn er mit einer Operation begonnen hatte, selbst wenn er sie schlussendlich doch nicht durchführen durfte. Dafür hatte S. viel Erfahrung mit kleineren Eingriffen, die an großen Maximalversorgern häufig nicht mehr angeboten werden. Für den orthopädischen Bereich hatte er für ein Jahr in eine andere Klinik, einen Maximalversorger, rotiert. Leider war er als Rotationskollege immer der letzte der Futterkette und kam kaum in den Operationssaal. Der Maximalversorger war noch unstrukturierter in seinem Weiterbildungskonzept als das kleine Haus, sodass S. auch in der Rotation keine Prothese implantierte. Er war ein guter Arzt in der Notaufnahme, auch die stationäre Versorgung der Patienten erledigte er zuverlässig. Aber als S. seinen Facharzt machte, hatte er niemals eine Prothese implantiert und auch nie bei größeren unfallchirurgischen Verletzungen geholfen.Wenn alle Oberärzte da sind, ist die massive Verschlechterung der Lehre in den chirurgischen Fächern kein Problem. Fallen einmal ein oder zwei Oberärzte krankheitsbedingt aus, wird es schon schwieriger. Wie an einem Tag im Februar in meiner Klinik. Unsere beiden unfallchirurgischen Oberärzte waren krank, der Chef auf einem Kongress. Mein Kollege L. und ich wurden als angehende Fachärzte zusammen in den unfallchirurgischen Operationssaal eingeteilt. Die übrigen Säle wurden von den verbliebenen Oberärzten der Orthopädie abgedeckt. Sollten wir bei einer Operation nicht weiterwissen, müssten wir einen der Oberärzte aus einem anderen Saal dazuholen. Ohne oberärztliche Hilfe Frakturen versorgen zu dürfen, das schmeichelt und schafft Vertrauen. Tatsächlich jedoch war es aus der Not geboren, um den OP-Plan einzuhalten. S. oder J. jedoch hätten trotz gleichem Weiterbildungsjahr diese Frakturen nicht versorgen können.Die Ärzte, die jetzt mit ihrer chirurgischen Facharztweiterbildung beginnen, haben nicht mehr die gleichen Chancen wie L. und ich. Rechne ich mit ein, dass es in Zukunft kleinere Krankenhäuser nicht mehr geben wird und alle Eingriffe nur noch von hochqualifiziertem Fachpersonal an riesigen Versorgungszentren durchgeführt werden, bleibt kein Platz mehr für Lehre. In zwanzig Jahren werden uns die gut ausgebildeten Chirurgen fehlen. Wir werden lauter Fachärzte haben, die erst in verantwortungsvoller Position die chirurgischen Fertigkeiten erlernen können. Die Qualität wird also schlechter werden. Außer du lässt dich an einem lukrativen Körperteil operieren. Auch eine Form der Priorisierung.Durch die notwendige Priorisierung im Alltag lief ich eines Abends um 23 Uhr J. in die Hände. J. war sechsundzwanzig Jahre alt, halbseitig gelähmt, saß im Rollstuhl und hatte die Hälfte ihres Lebens im Krankenhaus verbracht. Sie hatte sich den Oberschenkel gebrochen und war von uns versorgt worden. Die Notaufnahme hatte ich sich selber überlassen müssen, weil ich soeben auf Station überraschend eine Patientin verloren hatte. Der zweite Kollege im Haus stand im OP-Saal und als mich die Gesundheits- und Krankenpflegerin zur Reanimation dazurief, war das Rea-Team schon vor Ort. Sie verstarb.In der Notaufnahme wartete eine Horde überforderter Patienten, die nicht gelernt hatten, wie man mit einer Schürfwunde umgeht, gereizte Alkoholiker, Polizisten mit zwei Männern zur Blutabnahme wegen Drogenkonsum und eine weitere Horde Patienten, die meine medizinische Versorgung wahrscheinlich dringend benötigten. Ich rief die Tochter der Verstorbenen an und verließ das Stationszimmer. Da saß J. vor mir. Sie reichte mir die Hand. »Du schaffst das schon.« Ihre Geste, die aufmunternden Worte trafen mich unvorbereitet. Meine professionelle Distanz wich einer herzlichen Dankbarkeit. Wir lächelten uns an. Zwei Menschen, die sich gegenüber standen und sich ohne weitere Worte verstanden. Als ich in die Notaufnahme zurückging, genehmigte ich mir dreißig Sekunden Pause. Am nächsten Morgen beendete ich um 10 Uhr meine Schicht. Wie immer ohne eine Minute Schlaf.Auch heute noch gibt es Situationen, in denen ich überfordert bin. Hauptsächlich weil von mir erwartet wird, an vier Orten gleichzeitig zu sein und Dinge zu vollbringen, die nicht machbar sind. Sich davon zu distanzieren, fällt nicht immer leicht. Denn es bedeutet jeden Tag sehr vielen Patienten zu erklären, warum sie lange auf mich warten müssen. Die ständige Aggression der Patienten erschwert meine Arbeit zusätzlich. Mittlerweile zucke ich einfach mit den Schultern. »Beschweren Sie sich bei unserem Gesundheitssystem. Ich arbeite so schnell ich kann. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich mich dann auch wirklich mit Ihnen beschäftigen werde, wenn ich Zeit für Sie habe.« Genauso häufig gibt es aber kleine, wertvolle Momente wie den mit J. Diese aufmunternden, beruhigenden Momente voller Dankbarkeit. Dieser zwischenmenschliche Austausch ist für die Patienten ebenso wichtig wie für mich.
Zu Beginn meiner Zeit als Ärztin war ich sicherlich emotional unreif. Die ständige Überforderung, der Schlafmangel, der fehlende Ausgleich und die mangelnde Möglichkeit, mich mit Kollegen über die Momente zwischen Leben und Tod auszutauschen, hatten mich dünnhäutig gemacht. Die emotionale Seite unseres Berufes wird häufig verschwiegen. Unter der Dunsthaube der Professionalität sollen wir die eigenen Emotionen zurückhalten. Heute würde ich nicht mehr völlig überfordert, weinend durch die Flure hetzen. Nicht, weil ich gelernt habe, damit umzugehen. Sondern, weil ich es nicht mehr dazu kommen lasse. Wer sich Ausgleich gönnt, die Arbeitsbelastung reduziert und sich gegen unmenschliche Arbeitsbedingungen entscheidet, ist weniger überfordert. Es sollte eigentlich im Zuständigkeitsbereich der Arbeitgeber liegen, ihren Angestellten ausreichend Zeit und Möglichkeiten zur Erholung zu geben.Einige Jahre später stehe ich nun kurz davor, meinen Traum umzusetzen. Ich werde bald Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie sein. Meine Leidenschaft, Patienten aufzuschneiden, mag für den einen oder anderen befremdlich sein. Für uns Unfallchirurgen ist es ein kleiner Teil des Himmels. Wirklich geheilt werden kann man von dieser Sucht nicht. Wer nach Jahren dieser Belastung noch immer Patienten operiert, zeugt allerdings von einer unglaublichen Widerstandskraft gegen ein menschenunwürdiges System.Die Anforderungen an unsere Arbeitsbedingungen haben sich seit dem Beginn meiner Weiterbildung vor sieben Jahren stark geändert. Nicht nur Frauen möchten nicht mehr völlig überfordert durch die Klinikflure hetzen. Auch Männer kommen mittlerweile ihrer Verantwortung als Väter und Partner nach. Elternzeit, Teilzeitarbeit und patientengerechtes Arbeiten gehen alle an. Es gibt immer noch zu wenig Verständnis für familiengerechte Arbeitszeiten und Forderungen zur Vereinbarkeit. Männer, die in Elternzeit gehen, erleiden die gleichen Repressalien wie Frauen. Sie büßen meist ihren Platz im Team ein. Gerade deshalb entscheiden sich immer noch zu wenige Männer für eine partnerschaftliche Aufteilung. Für uns Frauen scheint es allerdings eingeplant und in Ordnung zu sein, dass wir uns mit den hinteren Reihen begnügen.Erst wenn die Männer selbst die Vereinbarkeitsproblematik erleben, werden sich die Strukturen ändern. Erst dann werden auch Frauen den Weg finden in Leitungsjobs und Positionen, die Strukturen ändern können.
Bei einem meiner Auslandsaufenthalte lernte ich einen sehr kompetenten Arzt in Westafrika kennen. Er hospitierte einige Wochen in unserer Abteilung. Eigentlich sollte er sich in Deutschland chirurgische Fähigkeiten abschauen und ein anderes Gesundheitssystem kennenlernen. Am Ende seines Besuchs erzählte er mir voller Abscheu: »Ihr seid keine Ärzte mehr. Ihr seid Roboter. Ihr entscheidet nichts mehr selbst. Alles wird bereits vorher entschieden. Ihr füllt nur noch Checklisten aus. Ihr operiert Mütter, Väter und Kinder und am Abend habt ihr noch nicht einmal Zeit für eure eigene Familie. Wie sollt ihr lernen, dass das, was ihr macht, wichtig ist? Es ist nichts mehr wert.« Er traf mich mitten ins Herz.
Aus meiner Elternzeit und der ständigen Lernphase als Partnerin und Mutter nahm ich Kompetenzen mit in den Beruf, die ich früher absolut unterschätzt hatte. Die Effizienz ist mit meiner Rolle als Mutter in beträchtlichem Ausmaß gewachsen. Die Fähigkeit, mich auf Patienten einzulassen und ihre Bedürfnisse abzuschätzen, ist als Teilzeitärztin anders möglich als noch in Vollzeit. Ich entschied mich nach der Elternzeit bewusst gegen den Hass, den dieses System produziert. Teilzeit zu arbeiten, macht mich ausgeruhter, zufriedener und glücklicher. Daraus resultieren mehr Geduld, Verständnis und Teamfähigkeit. Das gilt statistisch gesehen auch für Männer. Sie fühlen sich zufriedener, wenn sie Zeit mit ihrer Familie verbringen und sich Zeit für eine Ruhepause gönnen. Sie sind gelassener, werden seltener krank und arbeiten effizienter. Dass ich an Arbeitstagen spätestens um 16 Uhr 30 das Krankenhaus verlasse, hat mit meiner Verpflichtung als Mutter zu tun. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich alle Arbeit erledigt.
Dieselbe Effizienz würde vielleicht auch ein männlicher Kollege mit derselben Verantwortlichkeit zeigen. So aber sitzen viele meiner Kollegen noch um 19 Uhr am Schreibtisch.Die Sozialkompetenz, die sich außerhalb der Klinik erwerben lässt, ist vielen meiner Kollegen leider fremd. Oder aber sie lassen sie nicht zu. Noch immer gilt die ärztliche Autorität, Härte und Selbstsicherheit als zwingendes Kriterium für den beruflichen Erfolg von Männern. Die wirklich guten Ärzte, die ich in meiner Laufbahn erlebt habe, haben nichts von alledem. Meist waren diese Ärzte Personen, die in der Medizin ähnliche Umwege gehen mussten wie wir Mütter in einem Beruf wie meinem. Sie waren Chefärzte und verloren ihre Posten. Sie waren leitende Ärzte und mussten aufgrund einer schweren Erkrankung eine Weile pausieren oder sich nach einigen Scheidungen mit sich selbst beschäftigen.Diese oftmals älteren Ärzte haben ähnliche Kompetenzen wie viele von den jungen, arbeitenden Müttern. Sie haben eine Liebe zum Umweg entwickelt. Sie strahlen Gelassenheit und Leidenschaft aus. Freundlich, herzlich und menschlich begegnen sie Patienten und Kollegen. Sie lassen Emotionen zu und hören zu. Eine der wichtigsten Voraussetzungen in der Arzt-Patienten-Beziehung ist die Begegnung auf Augenhöhe. Sich aufrichtig und ehrlich, mit Zeit und einem Lächeln zu begegnen. Zeit, Aufmerksamkeit und Vertrauen in der Arzt-Patienten-Beziehung sind genauso wichtig wie Wissenschaft und Fachkompetenz. Das System aber ist aktuell dabei, all diese Kompetenzen abzutrainieren. Die sozialen Kompetenzen werden nicht bezahlt und die Fachkompetenz wird durch die mangelnde Zeit für Weiterbildung in den nächsten Jahren massiv sinken.Wir Ärzte sollten uns alle zusammen für eine menschliche, wertebasierte und qualitativ hochwertige Medizin entscheiden. Wir sollten den Hass hinter uns lassen, Emotionen zulassen und eine offene und ehrliche Medizin praktizieren, die die Begegnung mit den Patienten auf Augenhöhe zulässt.Wenn ich heute das Messer in die Hand nehme und einen Patienten operiere, dann bin ich mir absolut sicher, dass die Indikation für die Operation die richtige ist. Ich entscheide mich zusammen mit dem Patienten dafür, diese Operation durchzuführen. Ich leiste es mir, unabhängig von den ökonomischen Strukturen zu entscheiden. Ich höre den Patienten zu, sehe nach ihnen, kontrolliere ihre Wunden und versichere mich, dass sie nach ihrem Krankenhausaufenthalt gut versorgt sind. Ich bin ausgeruhter, zufriedener und glücklicher. Die Patienten fühlen sich gut aufgehoben und können von mir erwarten, dass ich mit ihnen ehrlich umgehe.
Dabei bin ich nicht alleine. Mittlerweile versuchen auch viele meiner Kollegen wieder, diese ärztlichen Kompetenzen in ihren ärztlichen Alltag zu integrieren. Nicht immer hat man damit auch beruflich Erfolg. Häufig wird man aussortiert und kann eine klinische Karriere an den Nagel hängen. Wer sich nicht an das System hält, fällt eben raus. Viele dieser Ärzte sammeln sich heute in unterschiedlichen Projekten, Vereinen und Organisationen.Überraschenderweise hatte mein Tun bisher noch keine negativen Auswirkungen auf meinen beruflichen Erfolg. Mein häufiges Ablehnen einer operativen Versorgung oder die Diskussionen in den Besprechungen über die korrekte Indikation für eine OP haben mir im Alltag bisher Respekt und Wertschätzung eingebracht. Meine Freundlichkeit und Herzlichkeit führte dazu, dass ich zu der Ärztin geworden bin, die ich sein möchte. Ich gehe nicht im System unter. Ich habe eine Persönlichkeit, die ich nicht verstecke. Ich arbeite mit Leidenschaft und Emotionen. Ich zeige meinen Patienten meine Betroffenheit, wenn ich schlechte Nachrichten überbringe. Ich rege mich leidenschaftlich über Patienten auf, die meine Zeit bewusst in Anspruch nehmen, um sich selbst aus der Verantwortung zu ziehen. Vereinbare ich am Wochenende Termine, um Wunden nachzukontrollieren und die Patienten erscheinen nicht, werde ich wütend. Plane ich Sprechstundentermine in der Ambulanz ein und die Patienten sagen nicht einmal ab, ärgert mich das enorm. Diese Zeit fehlt mir für andere Patienten. Ich bin authentisch, kein Roboter und kein Rädchen im System. Ich bin ein Mensch wie jeder andere auch.Meine Kollegen und Vorgesetzten können sich auf mich verlassen, sie vertrauen mir, haben mich gerne um sich, operieren gerne mit mir. Der Umweg war auch anderweitig ein Vorteil. In Elternzeit gewesen zu sein und Teilzeit zu arbeiten, bedeutete für mich, dass viele Kollegen an mir vorbeizogen. Dadurch war ich weniger Konkurrentin. Sie schlossen mich automatisch in ihr männliches Netzwerk mit ein und informierten mich über private und berufliche Veränderungen. Dank dieser Informationen konnte ich häufig schon frühzeitig Entscheidungen treffen, die beruflich von Bedeutung waren. Ich habe bei ihnen einiges gelernt, über Verhandlungen und Verhaltensmuster.
Einiges musste ich mir antrainieren. Männer sehen einem direkt in die Augen, weniger nach rechts und links. Sie wollen ihren Gesprächspartner einschätzen und wissen, ob er eine Bedrohung darstellt. Wenn man sich nicht in die Sichtachse stellt, wird man gerne übersehen. Frauen sehen etwas mehr nach rechts und links. Grundsätzlich fixieren sie ihr Gegenüber eher unterhalb der Augenpartie, um keine ungewollten Aggressionen auszulösen. Mich aus der weiblichen Position etwas herauszubewegen, mich zu zeigen und den Mut zu haben, aufzufallen und Fehler zu machen, war wichtig. Ich vertraue auf meine weibliche Intuition, bleibe aber mittlerweile geduldig und konsequent in meinen Forderungen. Emotional für meine rational begründbaren Überzeugungen einzutreten hat meist größere Überzeugungskraft, als nur mit Fakten um mich zu werfen.Wie viele Frauen habe ich vorher immer zu früh aufgehört zu verhandeln oder mich mit weniger zufriedengegeben. Männliche Vorgesetzte sind es nach wie vor nicht gewohnt, mit Frauen auf Augenhöhe zu verhandeln. Dass männliche Kollegen Weiterbildungen und Zuschüsse bereits früher zugebilligt bekommen als ich, verbuche ich unter den Erfahrungen, die eine Frau in der männlichen Arbeitswelt machen muss. Bloß gebe ich mittlerweile nicht mehr so schnell auf. Viele Kolleginnen übernehmen die gängigen männlichen Verhaltensmuster, beteiligen sich am Hahnenkampf, fahren die Ellenbogen aus und arbeiten mit den härtesten Bandagen. Die Erfahrung aber zeigt, dass sie grundsätzlich spitzere Gegenstände brauchen als die männlichen Kollegen, um ans Ziel zu kommen. Sie sind am Ende nicht mehr teamfähig, verlernen es, auf ihre Kollegen zu hören und sind heute wahrscheinlich die furchtbaren Chefinnen, von denen man hört, sie seien noch weniger zu ertragen als die Dinos von früher.Bis heute verachte ich Kolleginnen, die ihre weiblichen Reize für das berufliche Weiterkommen einsetzen. Gerade junge Kolleginnen erlebe ich immer wieder dabei, wie sie mit gespielter Ahnungslosigkeit, die Hilfe der männlichen Kollegen einfordern.
Dieses peinliche Verhalten führt dazu, dass sie grob unterschätzt werden. Bis die meisten männlichen Kollegen verstanden haben, dass sie nur ausgenutzt werden, haben sich die Frauen schon an ihnen vorbei in Operationen geschlichen oder freie Wochenenden ergattert.Als Frau in einem von Männern dominierten Beruf muss ich mich mit meiner Weiblichkeit beschäftigen. Insbesondere die Schwanger- und Mutterschaft half mir ungemein dabei, mich als Frau nicht zu verleugnen. Heute nutze ich meine Fähigkeit zu Emotionen und zur Kommunikation ganz bewusst. Meine Indikationen sind sicher, mein Umgang mit Fehlern viel ehrlicher und freier als in den Jahren zuvor. Ich lasse mich auf die Patienten ein und versuche, die Ursachen für Beschwerden tatsächlich zu verstehen. Dieses Gespür führt häufig dazu, dass ich Patienten identifiziere, deren Probleme ganz anders gelagert sind. Der Umgang mit vielen Müttern und Großmüttern in der Elternzeit zeigte mir, dass Frauen häufig anders empfinden und beurteilen, als wir es als Mediziner gewohnt sind.
Die Problematik der »gender medicine« ist in Deutschland nach wie vor groß. In unseren Lehrbüchern wird von typischer Symptomatik einer Erkrankung gesprochen, wenn es sich um einen 80 Kilogramm schweren, 180 Zentimeter großen Mann handelt. Alle Symptome, die von diesem Durchschnittspatienten abweichen, werden häufig als atypisch oder untypisch eingestuft. Ein in diesem Zusammenhang am häufigsten genanntes Beispiel ist die Symptomatik eines Herzinfarkts. Ein Mann hat Druck auf der Brust, fühlt Atemnot und eventuell eine Ausstrahlung in den linken Arm. Eine Frau hingegen zeigt häufiger Beschwerden im Unterkiefer, im Rücken oder im Oberbauch, begleitet von Übelkeit. Die weibliche Symptomatik dann als atypisch zu bezeichnen, halte ich für fehlerhaft.
Da unsere Wissenschaft und Forschung nach wie vor die meisten Studien an den männlichen Durchschnittspatienten durchführt, kommt es ganz selbstverständlich zu einer Verzerrung der Ergebnisse. Wenn Medikamente und Studien nicht mit Frauen als Probandinnen durchgeführt werden, können sie eben auch keine Aussage für Frauen treffen. Dieser Effekt ist bei vielen Nebenwirkungen für Medikamente ausgeprägt. Insbesondere hier sollte uns Ärzten bewusst sein, dass häufige Nebenwirkungen eben auch nur bei Männern häufig sind und bei Frauen ganz anders aussehen können. Dass Studien häufig nur mit männlichen Probanden durchgeführt werden, liegt daran, dass Männer oder männliche Versuchstiere weniger hormonelle Veränderungen und damit auch weniger anderweitige Einflüsse haben als Frauen und nicht schwanger werden können. Damit umgeht man die Gefahr einer Fruchtschädigung.
Nicht nur im somatischen Krankheitserleben, sondern auch im psychischen Krankheitserleben besteht eine Diskrepanz. Das Verstehen von und der Umgang mit Krankheit sind individuell verschieden und könnten sicherlich auch geschlechtsspezifisch betrachtet werden. Erleben Frauen einen Herzinfarkt, gehen männliche Ärzte häufiger von einer Panikattacke aus als Ärztinnen. Die Übersetzung der Symptome und die Schilderung der Beschwerden scheinen bei Frauen anders anzukommen als bei Männern.Würden wir Ärztinnen es uns endlich trauen, uns auf unsere weiblichen Eigenschaften zu verlassen, wären wir bessere Ärzte. Einige Studien belegen, dass Ärztinnen den Patienten länger zuhören und mehr Zeit für die Kommunikation einplanen als Männer. Die Ergebnisse mehrerer Studien zeigten, dass Patienten, die von Frauen behandelt wurden, weniger Komplikationen hatten, seltener wieder ins Krankenhaus aufgenommen werden mussten und eine niedrigere Sterberate hatten. Wenn Patientinnen von Ärztinnen behandelt wurden, war die Sterberate am niedrigsten. Die höchste Sterberate gab es dann, wenn Patientinnen von männlichen Ärzten untersucht wurden. Diese Studien liegen für internistische, kardiologische Behandlungen vor. Eine weitere untersucht die Sterberate von Patienten, wenn sie von weiblichen oder männlichen Chirurgen behandelt wurden. Auch hier zeigte sich eine niedrigere Sterberate, wenn Chirurginnen behandelten.
Die Untersuchungen gehen davon aus, dass Ärztinnen sich mehr an der evidenzbasierten Medizin orientieren und Patienten zu präventiven Maßnahmen raten. Sie überschätzen ihre eigenen Fähigkeiten seltener und handeln eher leitliniengetreu. Damit stimmen auch die Indikationen für viele Therapien und Komplikationen können verhindert werden. Außerdem beziehen sie die Patienten durch die offene Kommunikation mehr in die Therapieentscheidungen mit ein und erreichen damit eine bessere Compliance. Sprich: Patienten halten sich eher an die vereinbarten Zielsetzungen.Vielleicht ist die Studienlage noch nicht ausreichend, aber es zeichnet sich eine Tendenz ab. Vielleicht sind die Ergebnisse auch auf andere Aspekte zurückzuführen. Kritiker der Studien behaupten, Ärztinnen wären bei ihren Behandlungen von Patientinnen eben ausgeruhter als ihre männlichen Kollegen, weil sie hauptsächlich in Teilzeit oder zu familienfreundlicheren Zeiten arbeiten würden. Unabhängig davon, dass ich es witzig finde, dass man behauptet, eine Mutter bekäme viel Schlaf und sei dank der Familienarbeit ausgeruht, fände ich diese Schlussfolgerung auch keine Verzerrung von Ergebnissen. Ob die bessere Kommunikation mit den Patienten oder ein erholendes Privatleben eine Rolle dafür spielen, sollte in weiteren Studien abgeklärt werden. Ich finde alle Erklärungen mehr als einleuchtend.
Es zeigt: Wir müssen voneinander lernen, zusammenarbeiten und den sogenannten »soft skills« viel mehr Aufmerksamkeit geben als bisher.
Es ist schwer aus einem Gesundheitssystem auszusteigen, das zur Unterversorgung von schwer kranken und hilfebedürftigen Menschen führt und zur Überversorgung von Menschen, die sich im Dienstleistungssektor des schmerzfreien Alterns und der lebensverlängernden Medizin bewegen — aber eine absolute Notwendigkeit.
Vielleicht sollten wir uns auf die Werte und die Qualitäten unserer Arbeit zurückbesinnen. Ein erster Anfang ist getan. Siebzig Prozent der Studierenden sind Frauen. Fördern wir Frauen, unterstützen wir Frauen uns gegenseitig, bringen wir uns mit unseren weiblichen Eigenschaften in den Alltag als Ärztinnen ein, schaffen wir den Weg raus aus dieser selbst gemachten Hölle. Wir Frauen müssen mit den Männern zusammenarbeiten und von ihnen lernen. Wir müssen uns etwas zutrauen, selbstbewusster werden und unsere Zurückhaltung ablegen. Wir müssen die Verantwortungen der Väter für ihre Kinder einfordern. Sowohl männliche als auch weibliche Ärzte müssen in Elternzeit gehen und Teilzeit arbeiten können. Wer das Leben außerhalb der Klinikstrukturen fördert, senkt Krankheitstage, erhöht die Effizienz und steigert die Leistungsbereitschaft.
Qualität bedeutet nicht nur, einen Patienten nach drei Tagen entlassen zu können. Qualität bedeutet, dass sich ein Krankenhaus um faire Arbeitsbedingungen kümmert und um die Gleichstellung von Frauen und Männern. Qualität bedeutet ausgeruhtes Personal, das seine Patienten nicht hasst oder anschreit. Qualität bedeutet, angelächelt zu werden, wenn man aus der Operation aufwacht. Qualität bedeutet, keine Stunde darauf warten zu müssen, bis einen jemand auf die Toilette bringt. Qualität bedeutet weniger Fehler. Qualität bedeutet Wertschätzung von Fachpersonal, Förderung von Teamarbeit und Miteinander, Förderung von multiprofessionellem Arbeiten und Austausch, Förderung von Arzt-Patienten-Kommunikation und patientengerechtem Arbeiten. Dafür muss die Gesundheitskompetenz der Patienten deutlich gestärkt werden. Wir brauchen Programme, die Menschen den Umgang mit Krankheiten wieder näherbringt. Wir brauchen die Stärkung einer auf Werten basierenden Medizin und den Abbau dieser überbordenden Bürokratie. Wir brauchen Zeit für die Patienten. Obwohl ich am liebsten im Operationssaal stehe und Patienten operiere, mit denen ich nicht kommunizieren kann weil sie narkotisiert sind, ist dies meine zwingende Erkenntnis der letzten Jahre.Trotz des sehr düsteren Gesamtbildes habe ich eines nie verlernt. Ich liebe diesen Beruf. Die Arbeit als Ärztin ist wunderschön. Es ist eine Gratwanderung zwischen Himmel und Hölle. Ich lerne jeden Tag dazu. Ich durfte unter Ärzten lernen, die mich förderten und mich unterstützten. Ich durfte unter Ärzten lernen, die mir keine Chance in diesem Beruf gaben und musste einige Steine aus dem Weg räumen, um nun endlich meinem Traum ein Stück näher zu rücken. Ich werde mein Bestes geben, um auch die Facharztprüfung zu bestehen und weiterhin diesen tollen Beruf auszuüben, der mich über die Grenzen meiner Belastbarkeit brachte.Ich hoffe, dass sich bald etwas im Gesundheitswesen ändert. Ich habe wunderbare Menschen kennengelernt, die ihre ganze Kraft in die Behandlung kranker Menschen stecken. Eine qualitativ hochwertige Medizin können wir nur leisten, wenn wir ihnen endlich zuhören.
Für mich selbst geht die Entwicklung im Gesundheitssystem leider zu langsam. Als fertige Fachärztin werde ich nicht weiter im Krankenhaus arbeiten können. Meine Energie möchte ich darauf verwenden, Veränderungen zu bewirken, Positives zu schaffen und Patienten medizinisch und menschlich zu behandeln. Ich möchte in einer Arbeitswelt leben, in der meine Kompetenzen geschätzt und gefördert werden. Die Effizienzsteigerung und Hauptausrichtung an der Wirtschaftlichkeit hat meine ärztlichen Qualitäten und die Sicherheit für die Patienten massiv vermindert. Nicht nur das günstigere Nahtmaterial oder die Schere, die nicht schneidet, aber als Einwegartikel günstiger ist als die scharfe Variante, verhindern meine gute Arbeit. Auch die Tatsache, dass ich nicht zwei Patienten gleichzeitig behandeln kann, steht meinem Anspruch einer qualitativ hochwertigen Medizin im Weg. Solange die Wirtschaftlichkeit über der Qualität meiner Arbeit steht, habe ich ernsthafte moralische und ethische Bedenken, meinen Beruf weiter auszuüben. Wie immer werde ich einen Umweg finden müssen, um das machen zu können, was ich liebe.