KAPITEL 5

Ich beobachte die Leute, wie sie ihre Spaghetti mit Fleischbällchen essen und spiele kurz mit dem Gedanken, mir einfach einen willkürlichen Teller zu schnappen. Ich habe ein neues Hungerniveau erreicht, aber natürlich weiß ich, dass ich echten Hunger gar nicht kenne. Da draußen sind bestimmt noch immer Menschen, die hungern oder im Laufe des Winters verhungert sind, und hier habe ich meine täglichen zwei bis drei Mahlzeiten.

Ein kleines Brot schwebt über meine Schulter hinweg und verharrt neben meinem Kopf in der Luft. Ich drehe mich um, entdecke Adrian am anderen Ende und beiße ein Stück des hefeduftenden Brotes ab, das er mir hinhält. Den Teig dafür habe ich heute Morgen selbst geknetet. „Das ist so gut …“, stöhne ich beim Kauen.

„Du warst ja schon am Sabbern. Ich dachte, ich geb dir besser was zu essen, bevor du noch etwas tust, was du später bereust.“ Adrian entgehen solche Dinge nicht und nicht nur bei mir. Das ist der Grund, warum ihn jeder hier vergöttert.

„Ich war so hungrig“, sage ich und nehme noch einen gierigen Bissen. „Danke!“

„Bist du denn jemals nicht hungrig?“, fragt Nelly. „Ganz ehrlich – ist schon bemerkenswert!“

„Ich liebe Essen. Fändest du es vielleicht besser, wenn ich so was wie eine körperdysmorphe Störung hätte? Ich habe einfach ein gesundes Verhältnis zu Essen.“

„Ja“, stimmt Adrian mit zu. „Du baust quasi mit allem, was essbar ist, gleich eine Liebesbeziehung auf. Sollte ich eifersüchtig sein?“

Nelly lacht. Manchmal, wenn wir alle drei zusammen sind, fühlt es sich an, als hätte ich zwei ältere Brüder.

„Ich kann halt nix dafür, dass ich mit gutem, gesundem Essen aufgewachsen bin und es wertzuschätzen weiß.“

„Ja, und wie.“ Nelly grinst und spricht, an Adrian gerichtet, weiter: „Und, hast du schon das Neuste gehört?“

„Penny?“, fragt Adrian. Als ich nicke, weiten sich seine Augen. „Oh, wow.“

Bits kommt herangestürmt, gefolgt von Penny, James, Peter und Ana. Ich reiche ihr das letzte Stück Brot und nehme ihren zierlichen Körper auf den Arm. Manchmal vergesse ich, dass sie erst acht ist. Das liegt an ihrer Größe und den Albträumen. Sie ist diesen Winter sehr gewachsen, aber ihre lähmende Angst vor den Lexern ist unverändert, und ich befürchte, dass der kommende Sommer diesen Umstand nicht ändern wird.

„Wie war es in der Schule, Bitsy?“, frage ich.

„Penny ist schwanger!“, sagt sie mir ins Ohr. Es sollte wohl ein Flüstern sein, aber ihre Begeisterung macht es mehr zu einem aufgeregten Rufen.

Ich gebe ihr einen Kuss auf die sommersprossige Wange. „Ich weiß. Aber ich denke, das soll vorerst noch ein Geheimnis bleiben.“

„Das wird sowieso nichts“, prophezeit Penny mit einem Schulterzucken. „Als ich aus der Apotheke kam, hab ich den Test fallen gelassen und mindestens vier Leute haben ihn gesehen. Inzwischen dürften die meisten zumindest einen wohlbegründeten Verdacht haben.“

Und richtig: Viele drehen sich zu ihr um und schauen dann lächelnd weg. Es ist eben unmöglich, ein Geheimnis zu bewahren, wenn man so eng zusammenlebt, und natürlich ist eine feierliche Umarmung vom Chef auch nicht gerade unverdächtig.

Sie tätschelt sich demonstrativ den Bauch. „Dann haben sie zumindest ein bisschen Brennstoff für die Gerüchteküche.“

John und Maureen betreten den Speisesaal durch die breite Eingangstür, gerade als wir uns mit unseren vollen Tellern hingesetzt haben. Sie verbringen viel Zeit miteinander, und ich denke, es ist nur eine Frage der Zeit, bis zwischen ihnen die Funken fliegen. Vielleicht tun sie das ja auch schon längst – John ist wohl der einzige Mensch in der Zone, der ein solches Geheimnis vor den anderen hundert Menschen hier bewahren könnte.

Sie setzen sich auf die Plätze, die wir für sie freigehalten haben. John senkt den Kopf und spricht ein stilles Tischgebet, bevor er zu essen anfängt. Sein grau gesprenkelter Bart hat seit dem letzten Herbst viele neue graue Haare bekommen und die harte Arbeit hat ihn kräftiger werden lassen. Wenn Adrian der Chef ist, dann ist John der Vorarbeiter, und er leitet den Laden mit harter, aber fairer Hand.

Maureen hat schulterlange braune Haare, Lachfalten und runde Wangen, die noch runder werden, während sie zu den umliegenden Tischen hinüberstrahlt. Sie und John sind die Stiefgroßeltern der fünfzehn Kinder, die auf der Farm leben. Sechzehn, wenn man Pennys Ungeborenes mitzählt, und sie wird wohl kaum die Letzte sein. Es gibt kaum noch Verhütungsmittel; das ist eins der ersten Dinge, für die wir Nachschub besorgen müssen, sobald der Schnee schmilzt. Maureen hat uns beigebracht, wie wir unsere fruchtbaren Tage errechnen können, aber wenn man Penny, die ewige Streberin, als Beispiel nimmt, wird schnell klar, dass diese Methode alles andere als sicher ist.

„Cassie, ich weiß, ich hab gesagt, dass ich heute Nacht bei dir schlafe, aber kann ich vielleicht doch bei Peter bleiben?“, fragt Bits. Eine lange Spaghetti hängt ihr aus dem Mund.

„Friss erst mal deinen Wurm, kleiner Spatz“, sage ich. Sie saugt die Nudel auf und leckt sich die Tomatensauce von den Lippen. „Von mir aus gerne, wenn die beiden denn auch damit einverstanden sind?“

Peter nickt. „Na klar. Gibt es denn einen bestimmten Grund?“

„Na ja, also … ab wann kann ich das Baby treten spüren?“

„Das dauert noch Monate, Bits!“, ruft Penny und lacht.

Bits runzelt die Stirn, aber dann zuckt sie mit den Schultern und schwingt die Füße vor und zurück. Ihre Beine sind noch zu kurz, als dass sie mit den Füßen den Boden erreichen könnte. „Soll man Babys nicht vorlesen? Ich könnte das übernehmen, wenn du willst.“

„Ja, ich bin mir sicher, das würde es lieben.“

Sie “, korrigiert Ana. Sie steckt die Gabel in ihre Spaghetti und dreht sie entschlossen. „Nicht es .“

„Du bist nachher bloß enttäuscht, wenn es ein Junge wird“, sagt Penny.

„Ist sie aber nicht, also werde ich auch nicht enttäuscht sein.“ Ana schwingt ein Bein auf Peters Schoß. Sie scheint sich wirklich sicher zu sein. Wehe diesem Baby, falls es sich wider jegliche Vernunft doch dazu entscheiden sollte, ein Junge zu werden.

Dan bleibt mit einem Teller voller Spaghetti und einem Berg Fleischbällchen an unserem Tisch stehen.

„Hungrig, was?“, fragt Adrian.

„Minimal. Du fliegst doch in den nächsten paar Tagen nach Whitefield, richtig? Ich wollte fragen, ob du vielleicht einen Brief für mich mitnehmen könntest.“

„Klar. Bring ihn einfach hoch zu unserem Haus.“

„Liebesbrief?“, fragt Nelly. Dan lächelt, aber schweigt.

„Eine in jedem Hafen“, sage ich. „Woher nimmst du bloß die Zeit dafür?“

„Und das trotz der Tatsache“, wendet sich Nelly an mich, „dass es etwa neunundneunzig Komma neun Prozent weniger Frauen gibt als vorher. Beeindruckend.“

Dan verschlingt ein Fleischbällchen und kaut langsam, während wir ihn necken. Er schluckt und zeigt mit seiner Gabel auf uns. „Pläne für die Hühnerhaltung, Leute.“

„Hühner, Miezen – na, so genau kommt’s darauf auch nicht an“, witzelt Nelly.

Dan lacht und geht zu seinem Tisch, wo er mit einem leidenschaftlichen Appetit zu essen beginnt, der meinem Konkurrenz macht. Das Gespräch dreht sich nun um Whitefield, die Sicherheitszone in New Hampshire. Die Sicherheitszone der Nationalgarde musste letztes Jahr auf den winzigen Flughafen ausweichen. Wir helfen ihnen mit ihrer Farm und sie versorgen uns mit Sprit, aber es geht nicht nur um den Handel. Sie sind unsere nächsten Nachbarn, und natürlich helfen wir einander, so wie das Nachbarn nun einmal tun. Auch wenn hundertdreißig Kilometer zwischen uns liegen.

„Ich will das Moos hinbringen“, sagt Adrian. Er erklärt den anderen, was wir heute gefunden haben, und die Gesichter am Tisch leuchten hoffnungsvoll auf, als ihnen bewusst wird, was das bedeuten könnte.

„Fliegst du mit?“, fragt Nelly mich.

„Jawoll. Und dass du mitfliegst, weiß ich sowieso.“

Ich zwinkere ihm zu und er zuckt mit den Schultern. „Ich muss. Sie brauchen Hilfe bei der Besamung der Kühe.“

Adam lebt in Whitefield. Nelly hatte noch nie jemand Ernstes und, seiner Natur treu bleibend, weigert er sich stur, einzugestehen, dass er Adam gernhat. Er weicht meinen Fragen aus und sagt nur, dass ihm ja nichts anderes übrig bleibe, wo Adam doch der letzte homosexuelle Mann auf der Welt sein könnte. Aber ich weiß genau, dass sie sich auch ohne Zombie-Apokalypse ineinander verguckt hätten, und bin mir ziemlich sicher, dass es Nelly ganz schön erwischt hat.

„Okay“, sage ich. „Was weißt du über die Besamung von Kühen, was sie nicht auch in irgendeinem Buch nachschlagen können? Zum Beispiel: Ist es wahrscheinlicher, dass die Kühe im Sommer oder im Winter schwanger werden?“

„Sommer.“ Offensichtlich ist das geraten. Er ist zwar auf der Farm seiner Eltern mit Vieh aufgewachsen, aber im Gegensatz zu seinen Brüdern hat er sich nie sonderlich für das Leben als Landwirt interessiert.

„Ha!“, rufe ich. „Winter ist richtig!“

„Meine Chancen standen fünfzig zu fünfzig.“ Nelly wirft mir durch zusammengekniffene Augen einen prüfenden Blick zu. „Was weißt du überhaupt über die Besamung von Kühen?“

„Das ist das Einzige, was ich weiß. Hab es mal irgendwo gehört. Also jetzt sag schon, kommst du mit nach Whitefield, oder soll ich einen Liebesbrief für dich überbringen?“

„Ich komm mit“, murmelt er.

Ich kneife ihm in die rosige Wange und erfreue mich an der Tatsache, dass ich nicht die Einzige bin, die so schön erröten kann.