Das kleine weiße Flugzeug steht auf der Landebahn außerhalb des östlichen Tors. Auf dem Boden stehend sieht es riesig aus, aber sobald man in der Luft ist, fühlt es sich winzig an. Als könnte es durch ein bloßes Fingerschnipsen aus der Balance geraten und in den Abgrund stürzen. Normalerweise würden wir die knapp hundertdreißig Kilometer mit dem Auto fahren, um Treibstoff zu sparen, aber die Straßen sind durch den Schnee teilweise noch immer unpassierbar.
Wir füllen den Laderaum mit Gemüsesetzlingen aus unserem Treibhaus. Es ist noch zu früh, um sie in die Erde zu setzen, also werden wir sie in Whitefields winziges Treibhaus verpflanzen. Nach monatelanger Dosenfutter- und Trockenobstdiät sehnen wir uns nach etwas Frischem, und die Setzlinge werden uns und unseren Nachbarn eine frühere Ernte bescheren als die Pflanzen, die später direkt in die Erde gesät werden.
Ich suche mir einen Platz in der Nähe von Dwayne, unserem Piloten. Er zwirbelt die Enden seines buschigen Schnurrbarts, während er und sein Co-Pilot Jeff letzte Vorbereitungen besprechen und tun, was auch immer Piloten vor dem Abflug tun. Dwayne hat Jeff Flugstunden gegeben, damit er ihm beim Navigieren helfen kann. Kann schon sein, dass der kleine Flieger mit der modernsten GPS-Technik ausgestattet ist, aber seit die Satelliten den Geist aufgegeben haben, ist all das vollkommen nutzlos.
Adrian sitzt mir mit unruhig auf und ab hüpfenden Knien gegenüber. Nelly und John setzen sich in die Sitze neben uns und schnallen sich an, während die Maschine langsam anrollt. Wir jagen an den Bäumen vorbei, die die Landebahn säumen, und dann lässt das Rumpeln und Rattern unter den Rädern nach. Ich schaue nach unten, während wir gen Himmel sausen. In wenigen Monaten werden auf den Feldern außerhalb der Tore Getreide und Mais wachsen. Der Gemüsegarten wird in voller grüner Pracht stehen. Aber noch ist die Kingdom-Come-Farm ein weiß und braun gemusterter Flickenteppich. Aus den Kamin- und Ofenrohren steigt Rauch auf und die Leute spazieren in Zweier- oder Dreiergrüppchen umher. Die meisten verstehen sich gut – klar, hin und wieder gibt es mal Zoff oder Eifersuchtsfälle, aber die überwiegende Zeit sind wir uns der Tatsache bewusst, dass wir ein Riesenglück haben, hier zu sein.
Insgesamt leben in Kingdom Come und Whitefield etwas mehr als zweihundertfünfzig Menschen. Die Sicherheitszone in Moose River, Maine, zählt fünfhundert. Wenn man bedenkt, wie viele Menschen den Nordosten des Landes früher einmal bewohnt haben, sind das schockierende Zahlen. Ich weiß, wir sind nicht die einzigen Überlebenden; es müssen noch mehr da draußen sein, die sich in Sicherheit gebracht haben, die sowohl die Kälte als auch die Lexer überlebt haben. Vielleicht haben sie die Chance, sich auf den Weg zu machen, ehe der Schnee schmilzt und die Lexer ihre endlose Wanderung wieder aufnehmen.
Nelly nimmt einen Schluck aus seiner trüb aussehenden Flasche mit Pfefferminztee – das Getränk, das seiner geliebten Pepsi am nächsten kommt.
„Wir müssen bald schon wieder nach Whitefield“, sage ich und muss die Stimme heben, um das Dröhnen des Motors zu übertönen. „Um die Hühner abzuliefern, wenn der Schnee weg ist. Du könntest ja vielleicht eine Weile dortbleiben.“
„Hm“, brummt er und zieht sich die Schirmmütze tief in die Stirn, damit ich sein Gesicht nicht sehen kann. „Hatte ich auch schon drüber nachgedacht.“
Ich nehme ihm die Mütze vom Kopf und fahre ihm mit der Hand durch die Haare, bis sie gut unordentlich-verwegen aussehen, und nicht einfach nur unordentlich , wie seine Haare selbst es am liebsten hätten. „Schau, jetzt siehst du gut aus. Adam mag dich ohne Hut.“
„Woher willst du das denn wissen?“, murmelt er.
„Weil er’s mir gesagt hat.“ Nelly öffnet den Mund. „Ja, genau, ich weiß alles Mögliche. Adam liebt mich.“
Nelly sieht so aus, als könnte er auch gut ohne meine klugen Sprüche auskommen, also bohre ich ihm meinen Zeigefinger in die Brust und plappere weiter. „Und weißt du auch, warum Adam mich liebt? Weil ich dich lieb habe, und ihm das genauso geht. Also lieben wir quasi einander. Er liebt dich, weißt du. Und er ist echt ein Guter, also versau’s bloß nicht!“
Jetzt muss er sich doch anstrengen, um die genervte Maske aufrechtzuerhalten. „Wie schaffst du es bloß immer im letzten Moment, mich umzustimmen, wenn ich dich eigentlich gerade erwürgen wollte?“
„Hab dich auch lieb.“
Wir unterhalten uns, bis das Flugzeug leicht in Schräglage geht, um die Landebahn anzusteuern. Whitefield ist im Gegensatz zur Kingdom-Come-Farm nicht durch eine Bergkette geschützt, und die nahe gelegenen Städte waren größer, daher hat es auch mit mehr ungebetenen Gästen zu kämpfen. Aber es gibt dort echte Soldaten und wesentlich mehr Munition. Die Tatsache, dass auch ich auf der Kingdom-Come-Farm als eine Art Soldatin gelte, mag Nelly überraschen, aber mich erstaunt es. Heutzutage tut man, was getan werden muss, um zu überleben, und obwohl ich viel lieber lesen oder malen würde, kann ich nichts davon tun, wenn ich von Lexern umzingelt bin.
Rauchwolken quellen aus den Ofenrohren der Flugzeughangars und der umliegenden Gebäude. Der Schnee auf der Landebahn und den anderen Asphaltflächen des Flughafens ist endlich geschmolzen. Alles außerhalb des Zauns liegt noch immer unter einer unberührten Schneedecke. Das Flugzeug setzt auf der Landebahn auf und rollt darüber, bis wir schließlich vor dem größten Hangar zum Stehen kommen. Die größeren Hangars, die zu Wohneinheiten umfunktioniert worden sind, liegen hinter vier kleineren Hangars, in denen sich die Radio- und Funkzentrale, das Waffenlager, die Vorräte und der Speisesaal befinden.
Wir überlassen das Entladen der Setzlinge den Soldaten und betreten die Radiozentrale. Die gesamte linke Seite ist den Funkgeräten gewidmet. Ein paar uniformierte Soldaten sitzen an ihren Geräten und tragen Kopfhörer. In Whitefield sind die Funkgeräte rund um die Uhr bemannt. Bei uns auch, aber wir haben nur ein kleines Funkgerät im Schuppen mit der Solaranlage mit Platz für ein bis zwei Leute. Von hier aus wird täglich gesendet und empfangen.
In Whitefield können sie es sich leisten, Diesel für die Generatoren zu verschleudern, denn im letzten Herbst haben sie einen ganzen Tanker voll davon gefunden. Das ist der Job der Soldaten – sie gehen in früher bewohnten Gebieten auf Patrouille und machen all das ausfindig, was das postapokalyptische Leben erleichtert. Wir haben wirklich Glück, dass sie so bereitwillig mit uns teilen – obwohl das Getreide und der Mais, das wir ihnen im Gegenzug gegeben haben, ihnen den Winter sicherlich ein wenig erträglicher gemacht hat.
Auf der rechten Seite des Hangars sitzen Leute an einer langen Reihe von Tischen und machen unentwegt Notizen. Sie dokumentieren die Kommunikation mit Sicherheitszonen im ganzen Land sowie Whitefields Lebensmittel- und Brennstoffvorräte. Will Jackson steht von einem Tisch auf, der sich nahe einem kleinen, durch eine Glaswand vom Hauptraum abgetrennten Raum befindet. Das war einmal das Flughafenbüro, aber jetzt wird es die Zentrale genannt. Will ist ein Schrank von einem Mann mit dem lautesten Lachen, das ich je gehört habe.
„Cassie! Schön, dich zu sehen, wie immer“, sagt er und nimmt mich mit seinen Bärenpranken in die Arme, sodass ich mich trotz meiner einen Meter siebzig Körpergröße fühle wie eine winzige Elfe. „Wie läuft’s?“
Ich lächle in seine Uniform, irgendwo auf Höhe seines Bauchnabels. „Mir geht’s gut, Willie. Und dir?“
Wills schallendes Lachen ertönt und er lässt mich los. Uns gegenüber ist er bis jetzt ausnahmslos zuvorkommend gewesen, aber ich würde ihn niemandem zum Feind wünschen. Ich habe schon miterlebt, wie er Männer zum Weinen gebracht hat, die größer und temperamentvoller waren als er selbst. Er ist hart, aber fair, und wenn man ihn nicht mag, kann man nicht anders, als ihn zumindest zu respektieren. Aber ich liebe seine direkte, harte, aber herzliche Art.
„Kommt mit in die Zentrale“, sagt Will.
Der Raum mit dem langen Tisch und den vielen Stühlen erinnert mich an den gemeinnützigen Verein, für den ich früher gearbeitet habe. Anstelle der Poster mit motivierenden und inspirierenden Sprüchen hängen hier jedoch riesige, mit Stecknadeln gespickte Karten der Vereinigten Staaten, Kanada und Mexiko an der Wand. Die roten Stecknadeln sind Sicherheitszonen, die noch immer bestehen. Die grünen symbolisieren die Zonen, mit denen Whitefield den Kontakt verloren hat. Die schwarzen sind die, von denen wir ganz sicher wissen, dass sie gefallen sind. Es waren von Anfang an nicht allzu viele, aber es sieht so aus, als wäre die Anzahl der grünen Stecknadeln im Vergleich zu noch vor ein paar Wochen erheblich gestiegen.
Adrian erstarrt und hält den Blick starr auf die Karte gerichtet. Die Nadel in Idaho, wo seine Mutter und seine Schwester sind, ist grün. Kein Kontakt. Vor drei Wochen ist sie noch rot gewesen. Ich nehme seine Hand und sage mit so hoffnungsvoller Stimme wie möglich: „Immerhin ist sie grün.“
Will tritt mit einem Seufzen hinter uns. Adrian reißt seinen Blick von der einsamen grünen Nadel los.
„Ich hatte wirklich gehofft, dir heute bessere Nachrichten überbringen zu können“, sagt Will. „Wir haben seit zwei Wochen nichts gehört. Aber das kann auch einfach nur heißen, dass sie keinen Strom haben. Vielleicht ist ein Generator ausgefallen oder sie haben keinen Treibstoff mehr. Sie brauchen keinen Treibstoff, um zu überleben. Ich weiß, dass sie genug Vorräte für den Winter gelagert hatten. Ich mache mir keine Sorgen.“
Tatsächlich klingt Will nicht allzu besorgt. Er hat eine Frau und zwei Kinder in Boston. Er hat sich bis nach Hause durchgeschlagen, aber sie waren nicht mehr da. Er spricht stets im Präsens über sie, als seien sie noch da. Adrian nickt. Es gibt sonst nichts zu sagen, und alle schauen weg, um ihm einen Augenblick Zeit zu geben, sich wieder zu fangen.
„Tut mir leid …“, flüstere ich.
Adrian drückt meine Hand zweimal direkt hintereinander; das ist unser Code für Ich liebe dich . Er blinzelt – länger und langsamer als normal – und nimmt einen tiefen Atemzug. „Und, was gibt’s sonst Neues, Will?“
Man kann nichts tun, außer weiterzumachen. Das Ganze unter den mentalen Kategorien Befürchtungen oder Trauer oder alles überschattende Traurigkeit abheften. Es nur rauslassen, wenn es gar nicht anders geht, und selbst dann nur in kleinen Dosen. Du lachst drüber und machst Witze über den ganzen schrecklichen Scheiß, auch wenn diese Witze furchtbar geschmacklos sind. Zumindest versuchen wir das. Aber natürlich ist es nicht immer so einfach.
Ich sitze zwischen Adrian und Nelly an dem glänzenden braunen Tisch. Ich wünschte, ich hätte eine große Schachtel Donuts vor mir, wie die, die mein ehemaliger Chef Julio immer mitgebracht hat. Am liebsten hätte ich einen mit bunten Streuseln und Cremefüllung. Beim Gedanken an industriell verarbeiteten Zucker und E-Nummern beginnt mein Magen erregt zu knurren.
Nelly entgeht das nicht und er schüttelt ungläubig den Kopf. „Hast du nicht gerade erst was gegessen?“
Ich reibe mir den Bauch. „Das Kleine ist hungrig.“ Er reißt die Augen auf, aber dann sieht er Adrians Grinsen und gibt mir einen Knuff in die Seite.
„Das hier erinnert mich so an früher“, sage ich.
„Mmh, Julios Donuts“, seufzt Nelly. „Ich würde alles für einen mit Zuckerglasur tun.“
„Nee, lieber bunte Streusel“, meint Adrian. Und genau deshalb sind wir perfekt füreinander.
„Also, passt auf“, fordert Will uns auf und zeigt auf die Karten. „Es gibt noch ein paar andere Sicherheitszonen, von denen wir nichts mehr gehört haben.“
Wir waren so sehr mit Idaho beschäftigt, dass ich gar nicht auf die grünen Stecknadeln im unteren Teil der Karte geachtet habe.
„Alle davon im Süden“, setzt er fort. „Das südliche Louisiana und San Jose de Morilitos in Mexiko. Morilitos hat noch berichtet, dass es nichts mehr von den weiter südlich gelegenen Zonen gehört hat, und zwei Tage später war auch bei ihnen Funkstille.“
„Vielleicht auch ein Fall von Treibstoffmangel?“, überlegt John. Er trommelt mit den Fingern auf der Tischplatte und schaut Adrian an. „Wenn man die Wahl zwischen Fahrzeugen und Funkgeräten hat, gewinnen meist die Fahrzeuge.“
„Das ist wahr“, stimmt Will zu. „Ich will euch nur einen Überblick über die Situation geben. Und die sieht nun mal so aus, dass wir – wie immer – keine verdammte Ahnung haben, was da draußen eigentlich los ist. Den ganzen Mist hier am Laufen zu halten, ist manchmal echt so, als würde man gegen den Wind pissen.“
Will reibt sich mit seiner gewaltigen Pranke den Nacken und starrt die Karte an. „Ungefähr zwanzigtausend Menschen. So viele von uns sind noch übrig. Schätzungsweise. Und das von was, dreihundert Millionen? Da draußen könnten noch Tausende sein, von denen wir gar nichts wissen, aber wir können uns keinen einzigen Verlust leisten.“
„Wenn irgendwas von Süden auf uns zukommt, werden wir es bald wissen“, meint John. „Eine der Zonen wird uns Bescheid geben, falls das wirklich der Fall ist.“
Noch nie habe ich Will so entmutigt gesehen. Keiner von uns hat das. Wir beobachten ihn dabei, wie er mit einem Kopfschütteln versucht, wieder die Fassung zu erlangen.
Adrian schiebt ihm ein Stück Papier zu. „Hier ist eine Liste mit den Setzlingen, die wir euch mitgebracht haben. Ich bin dabei, Pläne zu entwickeln, damit ihr genau wisst, wann und wo ihr pflanzen solltet.“
Will wirft einen Blick auf das Stück Papier und reicht es dann Ian, seiner rechten Hand. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll, A. Wie gesagt, ihr braucht keinen Treibstoff, um zu überleben, aber Gott weiß, wir sind auf Lebensmittel angewiesen. Was immer ihr braucht – ein Wort genügt, und ihr bekommt es!“