Das Mittagessen ist tatsächlich nichts Besonderes, aber das Brot ist frisch und die Suppe heiß. Adam sitzt mir gegenüber und sein jungenhaft schmales Gesicht glüht. Er ist eher schüchtern, aber Nelly gegenüber weiß er sich doch zu behaupten. „Na, und wann heiratet ihr?“
„Keine Ahnung“, sage ich. „Wenn wir mal was anderes zu essen bekommen als Suppe?“ Ich schaue zu Adrian hinüber, der gerade den Rest seiner Portion schlürft und zustimmend nickt.
„Deine Begeisterung ist ja wirklich wahnsinnig ansteckend“, meint Nelly. „Braucht einer von euch ’ne Aufenthaltsgenehmigung oder so? Warum überhaupt der ganze Trubel?“
Adrian und ich lachen. Damals hatten wir eine einfache Zeremonie in der Hütte meiner Eltern geplant. Wir hatten uns einander ja bereits versprochen, aber wir wollten es vor den Menschen wiederholen, die wir lieben. Diese Idee erscheint jetzt beinahe sinnlos – schließlich weilen so viele von diesen Menschen nicht mehr unter uns, wir sind sowieso schon so gut wie verheiratet und es ist ja nun auch nicht so, dass das Ende der Welt das perfekte Setting für eine Traumhochzeit wäre. Aber es fühlt sich alles andere als sinnlos an.
„Vielleicht ist es wichtig, ein paar von den Dingen, die früher einmal wichtig waren, fortzuführen“, sagt Adrian leise. Er findet wie so oft die passenden Worte für meine Gedanken und ich lehne mich dankbar an ihn. Dann hält er Daumen und Zeigefinger mit einem Zentimeter Abstand hoch und fügt hinzu: „Außerdem bin ich mir in etwa so sicher, dass ich sie liebe.“
„Und niemand sonst würde sie nehmen“, meint Nelly. „Das darf auch nicht außer Acht gelassen werden.“
„Genau. Ich wollte einfach nicht, dass sie sich deswegen mies fühlt.“
Ich verdrehe die Augen und richte meine Aufmerksamkeit wieder auf Adam. „Bist du dir sicher, dass du wirklich ein Teil dieser schrägen Dynamik werden willst? Du wirst es früher oder später bereuen.“
„Na ja“, sagt Adam und zupft an den braunen Strähnen, die ihm in die Stirn fallen. „Ich hab mich mal erkundigt, und niemand sonst hat an Nel Interesse. Da dachte ich, ich tu ihm den Gefallen.“
Ich lehne mich über den Tisch und nehme Adams Hand. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich in dich verliebt bin. Wie wär’s: Wir beide heiraten und lassen die beiden da ihr eigenes Ding drehen?“
„Ich will!“, erwidert Adam mit einem breiten Grinsen.
„Tut mir leid, Schatz, ich bin bereits diesem Herrn hier versprochen“, erkläre ich Adrian. Dann drehe ich mich zu John um, dessen blaue Augen fröhlich blitzen, seit er unsere gute Nachricht erfahren hat. „John, würdest du uns trauen? Das würde uns wirklich viel bedeuten.“
John erhebt sich schwerfällig und schließt mich in seine bärenhaften warmen Arme, was mich an die Umarmungen meines Vaters erinnert. John ist wie ein Vater für mich, seit meine Eltern gestorben sind. Erst recht jetzt, wo er den Kontakt zu seinen eigenen Kindern verloren hat.
„Es wäre mir eine Ehre“, antwortet John. „Und deine Eltern würden sich so für dich freuen. Für euch beide.“
„Lass es uns im Juli machen“, schlägt Adrian vor. „Im Juli gibt’s keine Suppe.“
„Okay. Und warum genau?“
„Er will dich festnageln, bevor du ihm entwischst“, meint John.
„Na ja, ich sollte dich schon heiraten, solange ich noch neunundzwanzig bin“, bemerke ich. „Ich muss dich klarmachen, solange ich noch jung und frisch bin.“
Mein Geburtstag ist im August, aber ich habe keine Angst davor, dreißig zu werden. Ich will es bis achtzig schaffen, mindestens, und die Chancen dafür stehen seit dem letzten Jahr wesentlich schlechter als vorher. Ich kann nur hoffen, dass dieser Geburtstag besser verläuft als der letzte, der damit endete, dass wir von einer ganzen Herde von Lexern umzingelt waren und die Hütte abbrannte.
„Na gut, aber sobald ich die erste Falte sehe, bist du raus“, sagt Adrian. Er fährt sich mit dem Zeigefinger warnend über die Kehle.
Ich gebe ihm einen Klaps und sage: „Danke, John.“
John ist nicht der gefühlsduselige Typ, aber er schnieft und hat ganz rosa Augen bekommen. „Wie bereits gesagt: Es wäre mir eine Ehre.“
Am anderen Ende des Raums habe ich Zeke entdeckt und entschuldige mich, um ihm eine Frage zu stellen. Zekes kräftiger Oberkörper ist über eine große Schüssel Suppe und einen halben Laib Brot gebeugt. Sein mit grauen Strähnen durchzogenes Haar ist zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Als er den Kopf hebt, tropft ihm die Suppe aus dem Bart.
Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter. „Hi, Zeke!“
„Cassie!“, ruft er und schenkt mir sein blendend weißes Lächeln. Er mag aussehen wie ein Gauner mit seinen langen Haaren und den Tätowierungen, aber als wir ihn im letzten Sommer auf dem Weg von Kentucky nach Whitefield trafen, stellte sich heraus, dass er in einem früheren Leben einmal Zahnarzt war. Seinen Namen, Z. K., kurz für Zombiekiller, hat er sich redlich verdient, und inzwischen nennen ihn alle nur noch Zeke, anstelle von seinem richtigen Namen, Martin. „Was führt dich zu uns?“
„Ach, ich hab dein hübsches Gesicht vermisst.“
Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und brüllt vor Lachen. Nichts an seinen groben und leicht deformiert wirkenden Zügen ist in irgendeiner Weise bemerkenswert, aber die Herzlichkeit und Güte, die aus seinem Gesicht herausstrahlen, machen ihn attraktiv. Ich hoffe, wir finden irgendwann eine nette Biker-Dame für ihn. „Wenn das doch nur wahr wäre. Wie geht’s Bits?“
„Sehr gut. Ich wollte fragen, wann du mal wieder nach Kingdom Come kommst? Sie bräuchte eine Zahnreinigung …“ Mein Kopf wird schlagartig leer, als ich drüben beim großen Suppentopf eine Gestalt entdecke, die mir bekannt vorkommt. Als sie sich umdreht und ihre Schale auf einem leeren Tisch abstellt, entfährt mir ein überraschtes Keuchen. Ich lasse Zeke, der verständnislos dreinblickt, stehen und renne zwischen den Tischen hindurch. „Hank?“
Hinter den dicken Brillengläsern sehen Hanks Augen noch immer riesig aus und er ist dürr wie eh und je, aber auf seinem Kopf sind winzige Dreadlocks gesprossen und auch er selbst ist einige Zentimeter gewachsen. Er blinzelt ungläubig, fast als würde er damit rechnen, dass ich im nächsten Moment wieder verschwinde.
„Cassie!“
Ich weiß, dass zehnjährige Jungs nicht gern in der Öffentlichkeit umarmt werden, aber ich lasse es mir nicht nehmen, ihn ordentlich zu drücken. „Seit wann bist du hier? Wo sind …“
„Cassie?“, erklingt in dem Moment Henrys Stimme hinter mir.
Henry hat schon immer diesen erschöpften Ausdruck eines Mannes gehabt, der schwere Arbeit und harte Zeiten gewohnt ist, aber das vergangene Jahr hat ihn sichtlich altern lassen. Die Falten um seine Augen sind tiefer geworden und sein Blick wirkt mehr traurig denn müde. Aber sein Gesicht leuchtet auf, als ich Hank mit mir ziehe, um sie beide zusammen zu umarmen.
„Wann seid ihr hergekommen?“, frage ich. „Ich bin auf Kingdom Come, aber wir waren vor drei Wochen das letzte Mal hier.“
„Wir sind vor ein paar Tagen mit Schneeschuhen angekommen. Dachten, wir wagen es, bevor es wieder gefährlicher wird, da draußen unterwegs zu sein.“ Henry schüttelt langsam den Kopf. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns je wiedersehen.“
„Ich hab dauernd an euch denken müssen. Sind Corrie und Dottie …“ Ich verstumme, als ich auf Hanks und Henrys Gesichtern einen identischen Ausdruck der Trauer erkenne. „Nein. Oh nein, das tut mir so leid.“
„Komm, setz dich“, sagt Henry.
Ich trockne meine Tränen mit einer Stoffserviette. Er führt mich zu dem Stuhl neben seiner Suppenschüssel. Ich weine um Corrie und Dottie, aber auch um Eric, Maria, Adrians Mutter und seine Schwester. Wenn man den Tränen erst mal freien Lauf lässt, ist es schwer, nur um einen der vielen Verluste zu weinen.
„Es ist letzten Sommer passiert“, erzählt Henry. „Wir haben es zum Campingplatz geschafft und dort auch andere Leute vorgefunden. Und weil wir ja auf die Familie warten wollten, sind wir geblieben. Es war eine gute Gruppe, aber es gab bei Weitem nicht genug zu essen. Und als wir uns auf den Weg zu euch machen wollten, waren wir quasi von Herden umzingelt und hatten auch kein Benzin mehr. Also sind wir zu Fuß los – wir dachten, wir laufen so lange, bis wir ein Auto finden, aber wir sind einer ganzen Gruppe in die Arme gelaufen. Corrine und Dottie …“
Dottie war still und stark und Corrine, trotz des Teenagergehabes, ein sensibler Typ. Corrine war das Ebenbild ihrer Mutter, schlank und schmal gebaut, mit dunkler Haut und ungewöhnlich hellen Augen. Der Gedanke daran, was aus ihnen geworden ist, lässt mich nicht mehr los. Ich versuche, ihn aus meinem Kopf zu verbannen, und kann nur hoffen, dass Henry und Hank das nicht mit ansehen mussten.
Ich spüre, dass er nicht weitersprechen möchte und fülle die Leere, die sein Schweigen im Raum entstehen lassen hat. „Wir mussten die Hütte im August verlassen. Auch wegen einer Herde.“
Henry nickt. „Hank und ich haben eine alte Jagdhütte gefunden und konnten in den umliegenden Häusern genügend Lebensmittel erbeuten. Und nachdem es kalt genug war, dass sie gefroren sind, haben wir mit Schneeschuhen die Gegend erkundet, bis wir eine neue Bleibe gefunden haben. Sind so lange geblieben, bis das Essen alle war, und sind dann weiter. Wir dachten, Whitefield wäre die einfachste Lösung, weil wir ja eigentlich nur der Autobahn folgen mussten.“
Henry lächelt Hank an. Ich weiß nicht, wo mein Bruder ist, aber der Rest meiner Familie – meiner neuen Familie – hat es relativ unbeschadet bis hierher geschafft. Ich weiß, was für ein Glück wir haben. Ich kann und will mir nicht vorstellen, wie es wäre, Bits zu verlieren, so wie Henry Corrine verloren hat. Der Gedanke erfüllt mich mit einer solchen Hoffnungslosigkeit, dass ich nicht länger als einen Augenblick darauf verwenden kann, ohne gleich wieder in Tränen auszubrechen.
„Es tut mir so, so leid. Und ich freu mich, dass ihr hier seid. Ich hab euch vermisst. Vor allem dich, Hank. Ich hab jetzt ein kleines Mädchen. Sie heißt Beth, aber wir nennen sie Bits. Sie ist acht, aber sie ist wahnsinnig clever und liebt Bücher, genau wie du. Ich wette, ihr versteht euch super.“
„Mag sie Graphic Novels oder Comics?“, fragt Hank. Seine Augen leuchten auf, als ich nicke. „Ich hab ein paar echt coole dabei. Zum Beispiel eins mit so einem Typen, also, nicht wirklich einem Mann, er ist mehr wie ein …“
Und schon ist er voll in seinem Element. Aber Henry und ich hören nur mit halbem Ohr zu. Henry legt seine raue Arbeiterhand auf meine. Ich drücke sie, während mich eine Welle der Wiedersehensfreude zu überwältigen droht. Mag sein, dass wir im letzten Frühling nur wenige Tage miteinander verbracht haben, aber ich habe doch das Gefühl, noch einen verlorenen Teil meiner Familie zurückgewonnen zu haben.