Ich habe Penny davon überzeugen können, dass ein wenig Abendessen ihr guttun wird, aber jetzt, wo sie hier ist, mit der Stirn auf der Tischplatte, bin ich mir doch nicht mehr so sicher, dass das eine gute Idee war.
„Oh Gott“, stöhnt Penny. „Komm mir bloß nicht zu nahe mit dem Essen!“
Ana schiebt Pennys Schale mit Suppe in Richtung Tischmitte. „Ich hätte nicht gedacht, dass das so früh schon losgeht mit der Übelkeit.“
„Dem Arzt zufolge ist das aber ein gutes Zeichen“, sagt James. „Es bedeutet wohl, dass das Baby stark ist.“
Penny hebt den Kopf. Sie ist blass und hat dunkle Augenringe. „Das Baby ist nicht stark. Das Baby hat es auf mich abgesehen. Das hier ist furchtbar. Ich weiß nicht, warum die Leute dauernd Babys machen, wenn das hier dabei rauskommt.“ Sie wirft James einen Blick zu. „Das war’s. Wir haben nie wieder Sex.“
„Okay“, sagt James trocken. „Nie wieder.“
„Und hör auf, zu allem, was ich sage, ja und amen zu sagen!“ Pennys Stirn trifft mit einem dumpfen Schlag erneut auf die Tischplatte.
„Ja. Ich meine, nein!“
Pennys Hand hebt sich mit erhobenem Mittelfinger. Ana und ich müssen lachen. Dieser neuen Penny mag es fürchterlich gehen, aber unterhaltsam ist sie, das muss man ihr lassen. Sie ist sonst immer so wohlerzogen und anständig. Das muss die Erschöpfung sein; sie schafft es ja morgens kaum in die kleine Hütte, die als Schule dient.
„Wie geht es meinen drei Lieblingsladys?“ Dan ist an unseren Tisch herangetreten. Er wirft einen Blick auf Penny, die jetzt leise stöhnt. „So schlimm, hm? Moment, ich hol kurz was!“
Fünf Minuten später taucht er mit einem Glas voll mit frischem Schnee und einem zweiten Glas mit einer gelben Flüssigkeit wieder auf. Er gießt die Flüssigkeit über den Schnee und reicht ihr das Glas. „Hier, trink das.“
Penny hebt den Kopf und nimmt einen Schluck. „Hm, das ist nicht schlecht. Was ist das?“
„Ingwerlimonade. Das hat meine Schwestern durch die ersten paar Monate der Schwangerschaft gebracht“, sagt Dan. „Ich dachte, vielleicht hilft es ja, auch wenn es so ein Instantpulver ist. Die Übelkeit verschwindet vielleicht nicht ganz, aber immerhin konnten sie so immer was essen, ohne dass es gleich wieder hochkam. Meistens jedenfalls.“
„Wie viele Kinder hatten deine Schwestern?“, fragt Penny.
„Jen hatte zwei und Christy drei.“
„Die müssen verrückt gewesen sein, dass sie das mehr als einmal durchgemacht haben.“
„Es wird besser. Versprochen.“ Er deutet auf meinen Ring. „Ah, wie ich sehe, macht Adrian endlich eine ehrbare Frau aus dir. Glückwunsch!“
„Danke. Und wann lässt du dich auf die Richtige ein und wirst sesshaft?“
Er zeigt auf uns alle drei. „Tja, leider sind meine Favoritinnen schon vergeben.“
„Wenn es dir hilft: Du wärst meine zweite Wahl“, tröstet Ana ihn. „Ich melde mich, wenn was frei wird.“
„Ich warte.“
Penny verdreht die Augen in meine Richtung. Die beiden können stundenlang flirten, wenn niemand dazwischengeht.
„Versuchst du etwa gerade, mir mein Mädchen abzuwerben?“, fragt Peter, der soeben angekommen ist, an Dan gerichtet. Er stellt seine Schüssel mit Suppe neben Anas und setzt sich.
„Eher umgekehrt“, sagt Ana.
„Oh, na dann ist ja alles gut.“ Er lächelt, als Ana sich herüberbeugt und ihm einen Kuss auf die Wange drückt.
Ich winke Nelly und Adrian zu. „Setz dich doch heute mal zu uns“, schlage ich Dan vor. „Wir schieben einfach zwei Tische zusammen. Du kannst zur Abwechslung mal mit den alten, verheirateten Paaren essen.“
Dan nimmt das Angebot dankend an, und innerhalb kürzester Zeit hat sich das Ganze in eine spontane Dinnerparty verwandelt.
„Die Suppe ist so gut!“, freut sich Jamie. „Viel besser als sonst.“
„Das liegt vielleicht daran, dass du sie nicht gemacht hast“, vermutet Shawn, ihr Mann. „Das ist doch schon mal etwas.“
Jamie versetzt ihm einen liebevollen Schlag mit ihrem Löffel. Sie ist Mitte dreißig, bestenfalls eins fünfzig und hat eine ansehnliche Oberweite, lockiges schwarzes Haar und olivfarbene Haut. Shawn hat einen struppigen Bart, einen tonnenförmigen Oberkörper mit dazu passenden Armen und eine ewig sarkastische Attitüde zu allem und jedem. Es ist offensichtlich, dass sie sich lieben, aber trotzdem lassen sie nie eine Gelegenheit aus, sich gegenseitig zu ärgern.
„Das liegt daran, dass es Peters Rezept ist“, meint Ana. „Er kann einfach alles kochen. Ach, Maureen, da fällt mir ein, dass ich dich schon lange fragen wollte – also, ich trag mich öfter für den Küchendienst ein, aber ich bekomm immer irgendwo anders eine Schicht.“
Peter verschluckt sich an seiner Suppe. Maureen weicht aus: „Das ist doch nur, weil du auf anderen Gebieten so viele Talente hast, Ana. Wir versuchen schließlich, jeden gemäß seiner oder ihrer individuellen Stärken einzuteilen.“
Das ist eine diplomatische Antwort, aber natürlich entgeht es Ana nicht, dass sowohl Nelly als auch Adrian ein übertriebenes Interesse am Inhalt ihrer Suppenschüsseln an den Tag legen und es um den Tisch plötzlich sehr still geworden ist. Ihre Augen werden zu schmalen Schlitzen. „Ich darf also nicht in der Küche arbeiten, hm? Ist das so eine Art Verschwörung, um mich auf Abstand zu halten?“
„Nein, Ana“, antwortet Nelly, „es ist eine Verschwörung, die uns anderen die Chance gibt, am Leben zu bleiben. Und dafür müssen wir einfach nur dafür sorgen, dass du nichts mit der Zubereitung der Mahlzeiten zu tun hast. Ganz besonders seit der Sache mit dem Arroz con pollo.“
Das war wirklich die ungenießbarste Mahlzeit aller Zeiten. Ana hatte versucht, Marias berühmtes Rezept nachzukochen, allerdings ohne Erfolg.
„So schlecht war das auch wieder nicht! Cassie hat’s gegessen. Oder, Cass?“
„Ja …“, antworte ich. „Das hab ich. Weil ich deine Gefühle nicht verletzen wollte. Und ich hab einen hohen Preis dafür bezahlt, glaub mir.“
Ana verschränkt die Arme vor der Brust und schürzt die Lippen. „Na gut, dann war es vielleicht nicht das beste Arroz con pollo, das …“
„Arroz con peo trifft es wohl eher“, witzelt Penny. Sie wirft sogar ein schiefes Lächeln in die Runde. Dans Hausmittel scheint zu helfen.
Bits informiert alle Anwesenden: „Peo bedeutet Furz!“ Sie hat Penny dazu überredet, ihr so ziemlich jedes auch nur annähernd unanständige Wort beizubringen, das die spanische Sprache hergibt. Alles brüllt vor Lachen.
„Weißt du noch, wie schlimm das war, Adrian?“, fragt Bits. „Und Cassie hat auch noch so viel davon gegessen!“
Langsam dämmert mir, in welche Richtung sich das Gespräch zu drehen beginnt. Ich bin mir sicher, eine Träne in Adrians Augenwinkel zu sehen, so sehr lacht er. „Wir mussten sie fast aus dem Schlafzimmer verbannen, stimmt’s, Bits? Es …“
„Okay, genug jetzt!“, sage ich mit glühenden Wangen. „Irgendwann ist auch mal Schluss. Es ist schon schlimm genug, dass hier jeder alles über jeden weiß. Können wir bitte die einzigen zwei Geheimnisse, die es noch gibt, nicht auch noch ausplaudern?“
Jetzt muss sogar Ana lachen. Unter dem Tisch gebe ich Adrian einen Tritt ans Schienbein und verstecke mein Gesicht hinter meinen Händen. „Themawechsel, bitte!“
„Wir können Ich vermisse spielen!“, schlägt Bits vor.
Es geht darum, etwas zu nennen, was man vermisst, aber nicht haben kann. Nie nennen wir Personen, denn die vermissen wir natürlich mehr als alles andere. Es muss eine Sache, ein Ding sein und es darf noch so abwegig oder albern sein, aber niemals eine Person.
„Ich vermisse O-Saft“, eröffnet Bits.
„Ich vermisse es, nicht schwanger zu sein“, murmelt Penny.
„Pepsi!“, ruft Nelly.
„Latte macchiato mit Karamell“, seufze ich.
„Das Internet!“, fällt James ein. „Außer Facebook.“
„Red-Sox-Spiele“, sagt Dan.
„Musik“, fügt schließlich Adrian hinzu. „Meine ganze Musik ist auf meinem Handy.“
„Warum lädst du es nicht einfach auf?“, fragt Dan. „Das ginge doch?“
Adrian schüttelt den Kopf. „Das wäre unfair allen anderen gegenüber. Und wenn plötzlich alle anfangen, ihre Handys und iPods aufzuladen, hätten wir keinen Strom mehr für was anderes. Wir haben ja so schon kaum genug, um hier Licht zu haben.“
Er lädt sein Handy nicht mal gelegentlich auf. Ich hab ihm gesagt, er solle das ruhig tun. Es ist schließlich seine Farm und ich finde, dass er und Ben ein bisschen extra Strom mehr als verdient haben. Aber er weigert sich. Er hat mich allerdings auf etwas gebracht. Ich höre kaum noch hin, während die anderen aufsagen, was sie alles vermissen, und versinke in Gedanken über meine Idee.
***
Ein paar Tage später suche ich James im Schuppen mit der Solaranlage auf. Wenn er nicht Penny hätte, die ihm nachts das Bett wärmt, wäre er wahrscheinlich rund um die Uhr hier. Er übergibt mir eine kleine Schachtel, die er in ein Stück Stoff eingewickelt hat, und – nachdem ich ihn vor Aufregung stürmisch umarmt habe – verstecke ich sie in meinem Rucksack.
„Es funktioniert, ich hab’s selbst ausprobiert“, sagt James. „Aber du weißt schon, dass er da nie mitmachen wird.“
„Darum werde ich mich schon kümmern“, versichere ich. „Vielen, vielen Dank, James. Das hier ist wirklich das beste Geburtstagsgeschenk aller Zeiten!“