Wir haben von den Sicherheitszonen in New York City gehört. Im Winter war der Kontakt kurzzeitig abgebrochen, aber jetzt bekommen wir wieder Meldungen rein. Ich habe keine Ahnung, wie sie überhaupt so lange durchgehalten haben – wenige Hundert Menschen gegen acht Millionen Lexer. Vielleicht sind es jetzt, nach dem Winter, nur noch die Hälfte der Lexer, aber sie wandern in endlosen Schleifen durch die Straßen der Stadt, zumal sie nicht von dort wegkommen. Dasselbe gilt für die Überlebenden.
Maria ist nicht unter ihnen, wir haben mehrmals nachgefragt, um ganz sicher zu sein. Die New Yorker leben über den Dächern der Stadt beziehungsweise auf den Dächern. Sie trinken Regenwasser und bauen so viel wie möglich selbst an, auf Dachterrassen und in Hinterhöfen, aber sie sagen, es gäbe auch noch immer genug Essen zu erbeuten, obgleich die Lebensmittelpakete, die die Behörden zu Beginn der Pandemie versprochen hatten, niemals kamen. Von ihrer Position hoch über der Erde und mithilfe von leistungsstarken Teleskopen haben sie auf der anderen Seite des Flusses in Jersey einige Herden entdeckt. Herden, die schon im Spätsommer hier ankommen könnten.
Während der letzten Woche sind mehr als dreißig von ihnen aus dem Wald gekommen. Das mag nicht nach viel klingen, aber eine Gruppe erreichte den Zaun, gerade als die Kinder draußen gespielt haben. Wir haben sie entdeckt, sobald sie den Schutz der Bäume verließen, aber das haben die Kinder auch. Bits hat solche Angst bekommen, dass ihre Albträume zurückgekehrt sind. Gerade hat sie wieder einen gehabt, in dem ihre Mutter die Hauptrolle spielt.
„Und was, wenn du auch stirbst, Cassie?“, fragt sie mich mit bebenden, zusammengepressten Lippen. „Ich hab so Angst, dass du stirbst.“
Ich knie neben ihrem Bett und suche unter der Decke nach ihrer kleinen Hand. Ich wünschte, ich könnte ihr versprechen, dass das nicht passieren wird, und beuge mich zu ihr hinunter, bis mein Mund ganz dicht an ihrem Kopf ist. „Ich habe vor, noch ganz lange hier zu sein, Süße. So viel kann ich dir versprechen.“
Sie macht einen tapferen Versuch, die Tränen hinunterzuschlucken, aber eine einzelne lässt sich nicht bannen und hinterlässt eine feuchte, im Mondlicht glitzernde Spur auf ihrer Wange und tropft auf ihr Kissen. „Aber was ist, wenn es doch passiert?“
„Es wird immer jemanden geben, der sich um dich kümmert. Du hast so viele Menschen um dich, die dich lieben, weißt du das eigentlich? Ich wünschte, ich hätte so viele liebe Menschen in meinem Leben wie du. Ich hab, was, fünf vielleicht? Wenn’s hoch kommt. Du hast eine Million. Mindestens!“
„So viele Leute wohnen hier nicht mal!“
„Das ist es ja gerade, was das Ganze so magisch macht“, sage ich. Bits verdreht die Augen und kichert leise.
„Mach dir um mich keine Sorgen. Und mach dir auch um dich selbst keine Sorgen. Das übernehme ich, ja?“
Ich drücke ihr einen Kuss auf die Stirn und sie schließt die Augen. Ich setze mich auf ihre Bettkante und warte darauf, dass sich ihre Brust regelmäßig zu heben und zu senken beginnt. Ihre Augen flattern unter den Lidern hin und her, und selbst im Schlaf umfasst sie die Halskette, die ich ihr geschenkt habe. Der Anhänger ist ziemlich groß, um die sieben Zentimeter lang und von der Art, die unsere viktorianischen Vorfahren nutzten, um kleine Porträts ihrer Geliebten immer bei sich zu tragen. Diesen Winter habe ich ein Porträt ihrer Mutter gemalt, aus meiner Erinnerung an die Fotos, die wir zurücklassen mussten. Bits musste weinen, weil sie vergessen hatte, wie ihre Mutter aussah.
„Du siehst genauso aus wie sie – dieselben schönen blauen Augen, das herzförmige Gesicht und die süße Nase“, habe ich zu ihr gesagt. „Du brauchst nur in den Spiegel schauen, um dich an sie zu erinnern.“ Und trotzdem legt sie die Kette mit dem Anhänger nie ab.
Ich gebe ihr noch einen Kuss auf die Stirn und krieche zurück ins Bett. Adrian zieht mich mit einer müden Armbewegung an sich, aber es will mir nicht gelingen, wieder einzuschlafen. Bits liegt reglos im Mondschein. Ich habe sie oft genug beim Schlafen beobachtet, um zu wissen, dass ich sie nicht immer atmen sehen kann, aber mit einem Mal bin ich felsenfest davon überzeugt, dass sie nicht atmet. Die Panik steigt so schnell in mir auf, dass ich Adrians Arm wegstoße, aus dem Bett springe und zu ihr renne, um ihr meine Hand auf die Brust zu legen. Als ich das sanfte Auf und Ab ihres Brustkorbes unter meinen Fingern spüre, fällt mir auf, dass ich selbst ganz vergessen hatte, zu atmen. Ich schleiche zurück ins Bett.
Adrians Augen sind geöffnet. „Was ist los?“
„Ich dachte, sie atmet nicht“, sage ich leise. „Verrückt, ich weiß.“
„Das ist überhaupt nicht verrückt.“
Ich gleite unter die Decke und flüstere: „Also bin ich nicht verrückt?“
„Natürlich bist du ein bisschen verrückt.“
Er zieht mich an sich, bis ich unter seinem Kinn liege, aber ich schaffe es einfach nicht, dieses panische Gefühl in meinem Bauch unter Kontrolle zu bringen. So viel kann schiefgehen, und ich fürchte, es ist nur eine Frage der Zeit, bis unsere Glückssträhne zu Ende ist. Wir haben es aus Brooklyn herausgeschafft. Wir haben es bis hierher geschafft. Ich liege im selben Bett wie Adrian, was eigentlich unmöglich hätte sein sollen. Wie viel Glück darf ein Mensch haben? Ich spüre, wie mir Tränen in die Augen steigen und spanne den Kiefer an. Den ganzen Winter über habe ich kaum geweint, aber in diesem Moment gelingt es mir nicht, die Tränen hinunterzuschlucken.
Adrian zieht mich noch enger an sich. „Nicht weinen, Schatz. Alles wird gut.“
Ich nicke an seiner Brust. Ich will die Daumen drücken, auf Holz klopfen, mir eine Handvoll Salz über die Schulter werfen, um das Pech auf Abstand zu halten. Ich bin nicht abergläubisch und weiß, dass das alles sowieso nichts bringt, aber ich habe zwei Dinge in meinem Leben, die ich auf keinen Fall verlieren kann, und beide sind hier bei mir.