Ana war die ganze Nacht am Tor stationiert und kommt jetzt in die Küche gerannt. „Am Turm ist eine Herde von Lexern!“
Adrian ist am Turm, dem kleinen ausgebauten Hochsitz beim ersten Tor. Ich lasse die Gabel in die Pfanne mit dem Bacon-Fett fallen und drehe mich zu Mikayla um, die mir mit aufgerissenen Augen zu verstehen gibt, dass ich mich beeilen soll. Ich zerre mir die Schutzhandschuhe über die schweißnassen Hände und hebe meinen Schädelspalter auf, der neben der Tür steht. Wir rennen zur Hintertür hinaus und auf den überdachten Parkplatz hinter dem Speisesaal. Ana öffnet die Fahrertür des Krankenwagens und ich nehme die Beifahrerseite.
„Caleb ist zu den Zelten, um alle aufzuwecken.“ Sie reicht mir das Funkgerät. „Hier, ruf an. Sie sind okay. Da oben kommt keiner hoch.“
Ich drücke auf den Knopf. „Adrian? Wir sind auf dem Weg!“
„Cass, alles ist okay“, sagt er mit ruhiger Stimme. „Es sind nur fünfzig, und die Leiter ist oben. Entspann dich.“
Er ist derjenige, der von Lexern umgeben ist, und trotzdem sagt er mir , ich solle mich entspannen. Nelly öffnet die hintere Tür und steigt gemeinsam mit Jamie, Shawn, Dan, Caleb und Marcus ein. Ana steckt den Schlüssel ins Zündschloss und lässt den Motor anspringen. Vor dem Ausbruch des Bornavirus ist sie kaum je gefahren, aber jetzt tut sie es mit derselben manischen Einstellung, wie sie alles tut – ganz oder gar nicht. Aus dem Laderaum erklingt Rumpeln und Fluchen, als sie den Wagen mit quietschenden Reifen auf der Stelle herumwirbeln lässt und den Schotterweg entlangdonnert. Als sie Peter am ersten Tor erreicht, steigt sie auf die Bremse, was erneut diverses Rumpeln von hinten zur Folge hat.
„Was ist der Plan?“, fragt er.
Es ist einfach, sie einen nach dem anderen durch den Zaun hindurch abzustechen, aber fünfzig auf offenem Feld zu konfrontieren ist eine Garantie für einen schnellen Tod. Ich spreche erneut ins Funkgerät. „Adrian? Was denkst du? Sollen wir zu euch kommen und sie weglocken?“
„Die kommen bloß wieder. Wir müssen sie abstechen und die, die wir nicht erreichen, erschießen wir. Wir haben genug Munition. Das könnte aber noch mehr anlocken, also bleibt ihr bitte, wo ihr seid. Wir haben alles unter Kontrolle.“
Es macht mich ganz verrückt, wie ruhig er ist. Versteht er denn nicht, dass das hier eine von den Situationen ist, in denen es absolut legitim ist, zumindest ein bisschen in Panik zu verfallen? Ich starre das Funkgerät in meiner Hand an und knirsche mit den Zähnen.
Nelly kniet in der Öffnung zwischen Laderaum und Fahrerkabine und legt mir eine beruhigende Hand aufs Bein. „Er macht das schon, Zwerg.“
Ich atme ein paarmal tief ein und aus, bevor ich wieder ins Funkgerät spreche. „Okay. Wir sind auf der anderen Seite des Tors. Gib uns Bescheid, sobald es sicher ist.“
„Versprochen.“
Wir sitzen schweigend da und warten. Das Tor, durch das man mit dem Auto auf die Farm gelangt, ist aus Wellblech und hat links und rechts je eine kleine Plattform, von der aus man sehen kann, was auf der anderen Seite passiert. Ich steige auf eine davon und wünschte, ich könnte sehen, was vierhundert Meter entfernt passiert. Aber alles, was mir bleibt, ist die Bäume anzustarren und mir vorzustellen, wie sie vom Hochsitz aus ihre langen Spieße von oben in die Köpfe der Lexer stoßen. Als der erste Schuss fällt, zucke ich unwillkürlich zusammen; jetzt geht es denen, die sie mit den Spießen nicht erreichen, an den Kragen.
Wenn man den Filmen Glauben schenkt, ist ein sauberer Kopfschuss kein Ding. Zielen, abdrücken und fertig. Die Körpermitte zu treffen ist leicht, aber den Kopf einer Person zu treffen, die in Bewegung ist, ist so viel schwieriger, als sie es immer aussehen lassen. Beim Üben am Papierziel ist ein Kopfschuss schon eine Herausforderung, aber wenn dann noch Bewegung, Angst und wenig Zeit zum tatsächlichen Zielen dazukommen, wird das Ganze extrem schwierig. Adrian ist jedoch ein wirklich guter Schütze, und zudem hat er die Zeit auf seiner Seite. Ich weiß, dass er in Sicherheit ist, aber ich kann nur tatenlos abwarten, und wenn es ein Gefühl gibt, das ich verabscheue, dann ist es dieses.
Nelly steigt auf die Plattform und stellt sich neben mich. Seine Haare sind wirr und die Klamotten zerknittert, aber sein Blick ist scharf.
„Wer ist bei ihm?“, frage ich. „Ich hab’s vergessen.“
„John“, antwortet Nelly.
Die Tatsache, dass gleich zwei meiner Lieblingsmenschen da draußen sind, macht mich nicht gerade glücklich, aber das Wissen, dass John einer von ihnen ist, hilft doch ein wenig gegen die Angst. John ist der beste Schütze, den ich kenne. Jetzt, wo ich weiß, dass er es ist, erkenne ich ihn auch an den Schüssen. Sie fallen langsam und rhythmisch. Bumm. Bumm. Bumm. Nelly legt mir einen Arm um die Schulter, als er bemerkt, dass ich zittere.
„Sie sind okay“, sagt er. „Mach dir keine Sorgen. Erzähl mir irgendwas.“
„Okay. Wie läuft’s mit Adam?“
Er schüttelt den Kopf und schnaubt.
„Es war deine Idee, Nelly!“, protestiere ich. „Das Mindeste, was du tun kannst, ist, mit mir darüber zu reden.“
„Na gut. Es läuft gut. Ich mag ihn.“
Ich halte meinen Blick eisern auf den Weg vor mir gerichtet. „Mag mag?“
Keine Antwort. Das müssen jetzt knappe zwanzig Schüsse gewesen sein, aber diese verdammten Kopfschüsse sind auch wirklich nicht leicht. „Nelly!“
„Ja, Cass. Ich mag ihn.“
„Also, wie weit seid ihr …“
„Cass?“ Adrians Stimme erklingt aus dem Funkgerät.
„Ja? Ich bin hier.“
„Wir haben sie alle erwischt. Ihr könnt jetzt herkommen und uns beim Aufräumen helfen. Aber vorsichtig, im Wald könnten noch mehr warten.“
Ich schließe die Augen. „Alles klar, wir sind in ein paar Minuten da.“
***
Die Wiese rund um den Hochsitz ist mit toten Körpern bedeckt. Adrian und John lehnen an der Reling, die den ausgebauten Hochsitz umgibt, und könnten selbstzufriedener nicht aussehen. Ich klettere die Leiter hinauf, die sie zu uns herunterlassen, und als ich die Plattform erreiche, zieht Adrian mich an sich. Ich vergrabe meine Finger im Rückenteil seines Mantels und atme erleichtert aus.
„Ich war die ganze Zeit über in Sicherheit, Süße …“, sagt er.
„Ich hatte trotzdem eine Scheißangst. Wie wäre es dir ergangen, wenn ich hier gewesen wäre und nicht du?“
„Ich wäre panisch gewesen.“
Ich lasse von Adrian ab und umarme John. „Gut gemacht, Männer!“
„Es hat sogar ein bisschen Spaß gemacht“, meint John und lächelt verhalten unter seinem Rauschebart. „Hab das Üben vermisst.“
„Schön! Solange das nicht zur Gewohnheit wird.“ Ich lasse meinen Blick über die Lichtung schweifen. Die anderen haben bereits damit begonnen, die Lexer auf einen Haufen zu werfen, und ein Anhänger ist auf dem Weg, um sie zu dem Feld zu transportieren, das wir für diesen Zweck reserviert haben. „Ich denke nicht, dass wir zukünftig noch jemanden hier stationieren sollten. Das ist Zeitverschwendung. Falls doch noch Leute kommen, können sie direkt zum ersten Tor kommen.“
„Da hast du recht“, stimmt John mir zu und macht sich auf, die Leiter hinabzuklettern. „Ich gehe beim Aufräumen helfen.“
„Das sollten wir auch“, sage ich zu Adrian.
„In Ordnung“, erwidert er. Er gibt mir einen schnellen Kuss, und ein altbekannter Duft übertüncht für einen Moment den Gestank verrottender Hirnmasse, der in der Luft hängt.
Ich öffne fassungslos den Mund und halte ihm meine offene Hand hin. „Gib mir auch eins!“
Er setzt eine gespielt ratlose Miene auf, so als wüsste er nicht, wovon ich spreche. „Was soll ich dir geben?“
„Ich weiß, dass du Gummibärchen hast! Ich kann sie riechen!“ Süßigkeiten sind eine der wenigen Luxusgüter, die wir uns noch immer erlauben, aber unsere Vorräte schwinden mit rasender Geschwindigkeit.
„Ich hab sie ganz unten in einem Schrank in der Speisekammer gefunden“, flüstert er. „Keine Sorge, ich hab dir eins aufgehoben.“
„Eins? Ein lausiges Gummibärchen? Das ist ja schlimmer als gar keins! Und das, nachdem ich alles stehen und liegen gelassen hab, um dir zu Hilfe zu eilen!“
Adrian zwinkert mir zu. „Was denkst du von mir? Ich hab natürlich die meisten für dich und Bits aufgehoben. Ich geb sie dir später, ja?“
Die anderen wuchten die Lexer auf den Anhänger, während Ana, Jamie und ich den Waldrand im Auge behalten. Dies ist einer der seltenen Momente, in denen ich mein Geschlecht schamlos ausnutze – wenn ich es irgendwie umgehen kann, einen schweren, stinkenden Leichnam durch die Gegend zu tragen, dann tu ich das auch. Ein Knacken ertönt und ich sehe eine Bewegung zwischen den Bäumen. Ana wirbelt zu mir herum, als ich das Signal, einen kurzen Pfiff, gebe, um die anderen zu alarmieren. Erneut blitzt etwas Blasses auf, jetzt schon wesentlich näher. Sie haben uns entdeckt. Es sind fünf, also halte ich fünf Finger hoch, unmittelbar bevor sie auf die Lichtung treten. Einige Lexer bewegen sich mit derselben Geschwindigkeit wie letzten Sommer, während andere von ihnen noch unsicher auf den Beinen zu sein scheinen. Zum Glück sind diese fünf Kandidaten von der letzteren Sorte.
Die mir inzwischen so bekannte Mischung aus Angst und Ekel macht sich in meinem Magen bemerkbar; mir ist schlecht. Ich bin nicht wie Ana – ich würde jedes Mal am liebsten schreiend wegrennen, aber ich hab mir angewöhnt, immer zuerst die Lage zu checken und erst wegzurennen, wenn es sinnvoll und sicher ist. Manchmal macht es mehr Sinn, ruhig stehen zu bleiben und zu warten. Das macht es aber nicht weniger schwierig, gegen die Überlebensinstinkte des eigenen Körpers anzukämpfen. Ich muss mir sagen, dass es in einer Minute fünf Lexer weniger auf der Welt gibt. Dass jeder einzelne zählt. Der Lexer, den ich jetzt umbringe, hätte sonst vielleicht Bits auf dem Gewissen oder Adrian oder sonst jemanden von der Farm. Wir sind einigermaßen sicher hier, aber wir müssen doch hin und wieder mal raus – um Holz zu besorgen, um die Felder zu bestellen, um Ausrüstung, Lebensmittel oder anderes zu erbeuten – und fünf Lexer weniger können im Ernstfall einen wichtigen Unterschied machen: den zwischen der sicheren Heimkehr und der Rückkehr als einer von ihnen.
Ana und ich positionieren uns nebeneinander, die Schädelspalter bereit, sodass wir ihnen gemeinsam gegenübertreten können. Wir werden keine Schusswaffen verwenden, wenn es nicht absolut notwendig ist. Mehr Lärm bedeutet mehr Lexer, und das kann sich ganz schnell in einen Teufelskreis verwandeln. Als sie nah genug heran sind, trennen wir uns und treten stattdessen von links und rechts an sie heran. Die Lexer brauchen einen Augenblick, um zu reagieren, was uns genug Zeit gibt, um die ersten zwei ins Jenseits zu befördern. Schädelspalter rein, Schädelspalter raus.
Zwei stolpern auf mich zu, einer zu Ana. Ich lege die Klinge meiner Waffe unter das Kinn der Einen und drücke zu. Was mich letztes Jahr noch enorme Kraft gekostet hätte, fühlt sich inzwischen mehr wie ein sanfter Druck an. Das ewige Trainieren macht sich bezahlt. Es gibt ihr den Rest und lässt sie rückwärts gegen ihren Kollegen sacken, der daraufhin zu Boden sinkt. Ich will gerade auf ihn zu gehen, aber bevor ich ihn erreiche, rammt Adrian ihm seine Machete in den Schädel. Er lässt sie stecken und hebt eine Hand.
„Ist es zu viel verlangt, dass ihr euch zur Abwechslung einfach mal im Hintergrund haltet und sie nicht im Alleingang killt?“, fragt er mit zusammengebissenen Zähnen.
„Wir waren halt gerade hier.“ Ich wusste, dass wir das locker hingekriegt hätten, egal, wie sehr meine Hände gezittert haben. „Hast du nicht gesehen, wie langsam sie waren?“
„Nein, das habe ich nicht, weil ich damit beschäftigt war, dich bei einer komplett idiotischen Aktion zu beobachten.“
Er starrt mit zusammengekniffenen Augen an mir vorbei in den Wald. Ich schaue mich um, um zu sehen, was die anderen denken, aber niemand außer ihm scheint sonderlich aufgebracht zu sein. Eher neugierig.
„Können wir vielleicht später drüber sprechen?“, frage ich leise.
„Na gut“, sagt er, aber er will mir noch immer nicht in die Augen sehen.
Ana wirft mir einen verständnisvollen Blick zu, als Adrian von dannen stiefelt. Sie ist diese Art von Reaktionen gewöhnt, und das nicht nur von Peter – aber für mich ist das neu. Ich starre die herumliegenden Kadaver verwirrt an. Und dann werde ich wütend.