KAPITEL 21

„Ich glaube, wir gehen dieses Wochenende auf Patrouille“, sagt Ana von ihrem Stuhl aus. Wir überwachen heute den Westteil des Zauns. „Vielleicht Richtung Montpellier.“

Ich wusste, dass es früher oder später so kommen würde. Alle Pflanzen sind in der Erde und Ana juckt es in den Fingern, etwas zu tun.

„Und warum ausgerechnet Montpellier?“, frage ich.

„Da ist ein Walmart.“

„Warum müssen wir denn so bald schon los?“

„Wir brauchen Medikamente und Beauty-Kram. Wir haben schon wieder kaum Pflegespülung.“

„Du und deine Spülung immer“, stöhne ich. „Du hast nicht mal mehr lange Haare.“

„Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht schön seidig und geschmeidig sein sollen.“ Ana schwingt ihre Haare, als sei sie in einer Shampoo-Werbung. „Und der Doc sagt, dass wir immer Medikamente gebrauchen können. Wir brauchen auch Verhütungsmittel und Seife, Rasierer – all das halt. Und so viel Essen, wie wir finden können. Bitte sag mir, dass du mitkommst.“

Ich denke an das Versprechen, das ich Adrian gegeben habe. Abgesehen davon will auch ich mein Leben nicht riskieren, ohne dass es einen wirklich guten Grund dafür gibt. Wenn wir Lebensmittel und Medikamente wirklich bitter nötig hätten, wäre es etwas anderes, aber dem ist nicht so. „Ich glaube nicht.“

„Aber warum?“, kreischt Ana. „Ich brauch dich!“

„Banana, du brauchst mich nicht. Du willst mich, aber du brauchst mich nicht wirklich.“

Sie schiebt die Unterlippe vor und trommelt mit den Fingern auf ihren Oberschenkeln herum. Wir sitzen an einem Teil des Zauns, der aus Maschendraht besteht, aber ein Stück weiter, neben den Ställen, ist er aus dicken Holzbohlen gefertigt, sodass er aussieht wie eine kleine Festung. Ich trete an den Zaun und stütze mich mit dem Kopf am Metall ab, um hinter die Bohlen spähen zu können. Ich kann gerade eben etwas im mittleren Teil der hölzernen Sektion erkennen.

„Lexer hinter den Brettern, Banana.“

Ana springt auf und schlendert in Richtung der Holzbohlen. „Hierher, meine Kleinen! Putt, putt, putt!“

Wir bleiben an der Stelle stehen, an der der Maschendrahtzaun zur Festung wird. Ana steckt zwei wackelnde behandschuhte Finger durch die Maschen und schnalzt mit der Zunge. Ein Kopf schnellt vor und schnappt nach ihrer Hand, aber die Zähne klappen ins Leere. Sie ist zu schnell.

„Verdammt!“, flucht Ana. Sie schüttelt ihre Hand. „Du bist aber ein ganz Fixer, was?“

Was früher einmal eine Frau in einem geblümten Wickelkleid war, wirft sich gegen den Zaun. Sie schnappt mit einer solchen Bösartigkeit nach dem Metall, dass ich einen Schritt zurücktrete. Ich weiß, dass sie keine Gefühle haben, aber manchmal kommt mir ihr Hunger so sehr wie Hass vor, dass es mich ernsthaft beunruhigt.

Ana ignoriert das Knurren der Frau und deutet auf ihre Klamotten. „Hey, das war mal ein echt schönes Kleid. Ich wünschte, wir hätten auch so schicke Klamotten. Wir sollten mal auf eine Shopping-Patrouille gehen!“

„Ich hätte auch gern neue Klamotten, aber das ist die blödeste Idee, die ich seit Langem gehört habe. Im Gegensatz zu dir bin ich nämlich lieber lebendig als schick angezogen. So, und jetzt geh mal aus dem Weg, damit ich diese arme, aber sehr modebewusste Dame von ihrem Elend erlösen kann. Oder willst du?“

Es macht mir nicht nur Angst, es macht mich auch traurig zu sehen, was aus den Menschen geworden ist. Ich will sie einfach nur tot wissen. So richtig tot.

„Oh, ach ja, stimmt.“ Ana versenkt einen Pflock mit Handgriff im Auge der Frau und wendet sich von dem zusammensackenden Körper ab. „Wir brauchen aber früher oder später neue Klamotten – also warum nicht welche, die ein bisschen hübsch sind?“

Ich lasse meinen Blick von Anas ausdruckslosem Gesicht zu dem unförmigen Haufen auf der Erde gleiten. Ich erwarte keine Reue von ihr, nicht, dass ich das in diesen Momenten jemals selbst fühlen würde, aber immerhin irgendeine Gefühlsregung – Angst, Trauer über den Zustand der Welt, wenigstens einen Hauch von Atemlosigkeit, verdammt noch mal – wäre eine nette Erinnerung daran, dass Ana immer noch ein Mensch aus Fleisch und Blut ist. Ich weiß, dass es irgendwo in ihr steckt; ich wünschte nur, sie würde sich nicht sträuben, es auch zu zeigen. „Ist dir das eigentlich völlig egal, wenn du so was machst?“

Ana schweigt, während wir zu unseren Campingstühlen zurückgehen. Sie lässt den Pflock in einen Eimer voller Chlorreiniger fallen, sodass es in alle Richtungen spritzt. Als sie sich zu mir umdreht, sind ihre Augen dunkel. „Ja, weil sie schon lange tot war. Die wollen uns fressen, Cass. Meine Gefühle spare ich mir für die Menschen auf, die tatsächlich am Leben sind. Die Lexer wollen mir an die Wäsche? Ich mach die fertig, ey.“

„Du klingst gerade so Brooklyn.“ Penny, Ana und ich sind dort aufgewachsen, aber nur hin und wieder mal kommt das auch durch, wenn wir sprechen.

Sie lacht und singt: „Boricua für immer!“

Ana versteckt sie meisterhaft, aber für den Bruchteil einer Sekunde habe ich sie gesehen: die Verzweiflung, die ich spüre. Dieses Bedürfnis, die Menschen, die sie liebt, zu beschützen, auch wenn sie selbst dabei draufgeht. Und so leichtsinnig, wie sie ist, muss sie ja früher oder später irgendetwas Dummes machen. Ich sollte da sein, um auf sie aufzupassen.

„Vielleicht geh ich doch mit auf Patrouille“, sage ich. „Aber nur, wenn Adrian auch mitkommt. Also mach dir lieber nicht allzu große Hoffnungen.“

Ana hüpft auf den Fußballen auf und ab und quietscht vor Freude.