Wir haben vereinzelte Lexer am Straßenrand gesehen und eine ganze Herde in der Kleinstadt, an der wir vorbeigefahren sind, aber abgesehen davon ist die Fahrt zurück nach Kingdom Come ruhig verlaufen. Marcus sitzt hinterm Steuer und summt leise vor sich hin, während Adrian und ich auf der Rückbank sitzen und versuchen, einzuschätzen, wie viel wir entbehren können, um Whitefield unter die Arme zu greifen. Ich kenne die Speisekammer wie meine Westentasche, weil ich mit Mikayla zusammen immer die Inventur mache. Und ich weiß, dass sie ab jetzt streng rationieren müssen, und das trotz der vielen Todesfälle. Das müssen wir aber auch. Ich habe im Gefühl, dass es in der Zukunft mehr Patrouillen geben wird als bisher, und der Gedanke behagt mir nicht im Geringsten.
Adrian blickt von der Liste auf, die er in ein Notizbuch kritzelt. „Ab jetzt untersuchen wir jeden, der neu ankommt. Vielleicht sollten wir sogar eine vierundzwanzigstündige Quarantäne einführen.“
Diesen Frühling haben wir noch keine Neuankömmlinge gehabt, aber ich weiß noch, wie es war, als wir letzten Herbst auf der Farm aufkreuzten: Sie haben Nelly nach seiner Wunde gefragt, aber als wir ihnen erklärten, was es war, glaubten sie uns sofort.
„Das dürfte nicht allen gefallen“, gibt Marcus zu bedenken.
„Dann können sie gehen“, sagt Adrian. „Das geht mir so was von am Arsch vorbei.“
Marcus heult vergnügt auf. Adrian mag den Eindruck eines sanften Riesen machen. Er mag alberne Lieder für Kätzchen komponieren und sabbernde Hunde in unser Bett lassen, aber er schreckt nie vor einem Kampf oder einer schwierigen Diskussion zurück.
Adrian hebt einen Finger. „Eine infizierte Person. Das war genug, um Whitefield dem Erdboden gleich zu machen. Ein verdammter Lexer. Wir gehen keine Risiken mehr ein.“
„Ich melde mich freiwillig für die Leibesvisitationen!“, ruft Marcus vom Fahrersitz.
Er biegt auf die Straße ab, die uns nach Norden bringt und uns kurz vor der Farm wieder ausspuckt. Noch fünf Kilometer und wir sind pünktlich zum Abendessen zu Hause. Ich überlege schon, was wohl auf dem Menü stehen mag, als Marcus flucht. Dutzende Lexer haben sich auf der rechten Spur vor uns versammelt. Es ist noch genug Platz, um an ihnen vorbeizufahren, und während wir sie passieren, sehe ich, dass sie mit einer Mahlzeit beschäftigt sind. Blutige Hände graben in einer Körperhöhle herum, die ich kaum sehen kann, und kommen tropfend daraus hervor. Beim Anblick der leeren Blicke und des mechanischen Fressens weicht meine Angst dem Ekel, der sich in Übelkeit verwandelt.
Marcus verdreht den Kopf, um sich über die Schulter zu sehen. „Habt ihr gesehen, was das war? Ein Reh? Ich hoffe, das war nicht jemand, der versucht hat, zur Farm …“
Adrian und ich schreien auf, als der Transporter nach rechts ausschert. Wir kommen von der asphaltierten Straße ab und die Beifahrerseite rutscht in den Graben. Marcus schaltet sofort in den Rückwärtsgang, aber die Reifen drehen durch und der Motor heult auf.
„Hör auf, hör auf, du machst es nur noch schlimmer“, sagt Adrian. Er klettert nach vorn und kurbelt das Fenster auf der Beifahrerseite herunter. „Vielleicht können wir den Wagen zurückschieben.“
Meine Hände sind schweißnass. Ich wirbele auf meinem Sitz herum und werfe einen Blick auf die Straße hinter uns, aber sie ist noch immer leer. Die Lexer sind direkt hinter der nächsten Ecke. Sie sind vielleicht zu beschäftigt mit ihrer Mahlzeit und haben das Aufheulen des Motors gar nicht gehört.
Marcus zieht scharf die Luft ein. „Scheiße. Scheiße! Tut mir leid!“
„Vielleicht erreichen wir die Farm.“ Adrian versucht es über das Autofunkgerät, aber ohne Erfolg. „Wir sind zu weit weg und die Bäume sind im Weg.“
Panik macht sich in meinem Magen breit. Schlimm genug, dass wir im Graben gelandet sind und eine ganze Horde Lexer nur wenige Meter von uns entfernt ist. Aber ich dachte – nein, ich wusste – dass wir per Funk Hilfe rufen könnten, die innerhalb von zehn Minuten hier gewesen wäre. Zehn Minuten würden wir locker standhalten. Aber es kommt keiner.
„Sie werden nach uns suchen“, sage ich. Ich höre einen schrillen, aber hoffnungslosen Unterton in meiner Stimme, der geradezu panisch klingt.
Adrian wirft einen Blick auf die leere Straße hinter uns und schaut mir dann ins Gesicht. „Irgendwann, ja. Aber wenn die uns hier umzingeln … Wir sollten zumindest versuchen, den Wagen anzuschieben. Wenn es nicht funktioniert, können wir immer noch zu Fuß weitergehen und Hilfe rufen, sobald wir näher dran sind.“
Beim Gedanken daran, fünf Kilometer zu Fuß auf dem Schotterweg zurückzulegen, während sich in unmittelbarer Nähe Lexer herumtreiben, schnürt sich mir die Kehle zu. Ich gehe ganz bestimmt nirgendwo hin. Ich renne.
„Marcus und ich schieben“, sagt Adrian. Er beugt sich vor, bis seine Stirn meine berührt. Entweder schiebt er gar keine Panik oder er versteckt sie sehr, sehr gut. „Und du fährst rückwärts, ganz vorsichtig, wenn ich Bescheid gebe.“
Ich nicke und spanne den Kiefer an, um meine Zähne daran zu hindern, zu laut zu klappern. Mein Blick huscht rastlos umher und sucht nach potenziellen Gefahren, während sie versuchen, etwas unter die Reifen zu schieben, um ihnen auf dem matschigen Untergrund ein wenig Halt zu geben. Sobald das erledigt ist, legen sie ihre Hände auf die Motorhaube und senken die Köpfe vor Anstrengung, während ich meinen Fuß langsam aufs Gaspedal sinken lasse und bete, dass es funktioniert. Die Reifen drehen haltlos im Matsch herum, bis Adrian eine Hand hebt, damit ich aufhöre. Er wird blass und stößt Marcus einen Ellenbogen in die Seite.
Ich wirbele herum und sehe, dass die ersten Lexer um die Ecke gekommen sind. Wir sind leise gewesen, aber das Geräusch sich drehender Reifen muss durch den Wald zu ihnen gedrungen sein. Oder sie sind uns von Anfang an gefolgt. Ist auch egal; das Einzige, was jetzt zählt, ist die Tatsache, dass sie direkt auf uns zukommen. Adrian und Marcus springen durch die Seitentür in den Wagen und schließen sie mit einem sanften Klicken. Die Lexer sind schnell, schneller, als wenn sie einfach nur ziellos durch die Gegend wandern.
„Runter“, sagt Adrian, kurz bevor der erste Lexer gegen den Wagen prallt.
Ein dumpfes Pochen und ein Fauchen erklingen. Ich krieche zwischen den Sitzen durch und drücke mich neben Adrian hinter die schützenden Sitze. Am liebsten würde ich die Augen schließen, wie ein kleines Kind, das glaubt, dass es unsichtbar wird, wenn es nichts mehr sieht. Wenn wir ganz leise sind und uns nicht sehen lassen, verlieren die Lexer vielleicht das Interesse, und dann warten wir einfach, bis Hilfe kommt. Jemand von der Farm wird vor Mitternacht hier vorbeikommen – sie wissen schließlich, dass wir auf dem Weg sind.
Adrian legt seine Hand auf meine, die sich krampfhaft an seine Jeans klammert. Er gibt sich die größte Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, aber ich spüre sein Zittern. Ein bisschen Angst muss man schon haben. Wenn man keine Angst hat, dann ist man wirklich verrückt. Angst ist etwas Gutes.
Aber das hier ist ganz und gar nicht gut. Denn sie wissen, dass wir hier drin sind. Das müssen sie einfach, so wie sie gegen die Scheiben hämmern. Etwas Flüssiges, Schwarzes rinnt über das Glas und eine Stirn hinterlässt einen schmierigen Streifen auf einem der Seitenfenster. Wir hören noch mehr schleifende Schritte, mehr Stöhnen, und dann nimmt das Geräusch von einbeulendem Metall auf der zur Straße liegenden Seite des Transporters zu. Eines der Fenster splittert mit einem Geräusch, das so klingt, als fiele ein Schuss, aber es hält. Fürs Erste.
Marcus presst sich eine Hand auf den Mund, als wir weiter seitwärts in den Graben rutschen. Wenn sie fest genug drücken, landen wir auf der Seite, und dann haben sie uns. Ich sehe schon vor mir, wie ihre suchenden Arme durch zerbrochene Fenster eindringen und dann ihre Körper, und wie sie auf uns herunterfallen, und ich muss mir so fest auf die Zunge beißen, dass ich Blut schmecke.
„Wir hauen ab, oder?“, fragt Marcus leise.
Die Seitentür, die zum Wald führt, könnte unsere einzige Chance sein. Der Abhang ist steil genug, dass sie noch nicht auf diese Seite herumgekommen sind. Ich nicke. Als Adrian mir einen Blick zuwirft, greife ich nach meinem Schädelspalter und kontrolliere mein Messer und meine Pistole.
Marcus zieht sich hoch, sodass er gerade eben aus dem Fenster sehen kann, um die Lage einzuschätzen. Als er wieder zu uns herunterkommt, ist sein Gesicht noch blasser als zuvor. „Sie sind im Wald.“
Adrian zeigt auf die Straße vor uns. Dort sind noch nicht so viele von ihnen, und von hier aus sind es nur noch knappe fünf Kilometer bis zur Farm. Mit Ana bin ich schon weitere Strecken gelaufen, und obwohl ich jede Minute davon hassen würde, könnte ich in diesem Moment einen Marathon laufen, wenn das bedeuten würde, dass ich sicher nach Hause komme.
Der Transporter rutscht noch ein Stück weiter in die Tiefe. Marcus greift nach dem Türgriff, nimmt einen tiefen Atemzug und öffnet die Tür mit einem Ruck. Ich starre in den Wald, und der Anblick verschlägt mir einen Augenblick lang den Atem – nicht, dass ich vorher viel geatmet hätte. Vereinzelte Lexer stolpern durch den Wald und haben nur ein Ziel: uns. Wir sind umgeben von der größten Herde, die ich dieses Jahr gesehen habe.
Vor der Motorhaube bleiben wir stehen, als auf der linken Straßenseite Lexer aus dem Wald strömen. Damit schneiden sie uns den Fluchtweg ab. Normalerweise finde ich immer meine innere Ruhe im Auge des Sturms, aber in diesem Moment ist da nichts außer der absoluten Gewissheit, dass dies meine letzten Augenblicke sind. Marcus zeigt auf einen Pfad durch die Bäume, wo verstreute Lexer umherstolpern. Wir schlagen uns den Abhang hinunter, als wir hinter uns mit einem lauten Krachen und dem Splittern von Glas den Transporter auf die Seite fallen hören.
Ich schwinge meinen Schädelspalter nach allem, was uns in den Weg kommt. Als einer nach Marcus’ Jacke greift, stoße ich ihm den Spieß in die Augenhöhle, und einer, der mit ausgestreckten Armen vor uns steht, kriegt den Hals durchgeschnitten. Alles passiert so schnell. Ich kann unmöglich in jede Richtung gleichzeitig gucken, also renne ich einfach neben Adrian her und halte den Blick starr nach vorn gerichtet. Wenn wir uns einfach nur schnell genug durchschlagen, geben wir ihnen gar nicht erst die Gelegenheit, die Überhand zu gewinnen.
Marcus’ Fuß trifft die Hacke meines Stiefels, was mich aus dem Gleichgewicht bringt und einem Lexer direkt in die Arme laufen lässt. Das schwarze Moos, das an seinem Arm hinaufwächst, bis es unter dem zerrissenen Ärmel seines T-Shirts verschwindet, hat ihn nichts von seiner Stärke einbüßen lassen. Ich schreie auf, als er seine Zähne im ledernen Ärmel meiner Jacke versenkt. Sie können unmöglich bis auf die Haut durchgedrungen sein, aber vor Schmerz lasse ich meinen Schädelspalter zu Boden fallen. Mit der linken Hand kriege ich mein Messer nicht zu fassen, und meine Fingerspitzen haben eben nur den Griff meiner Pistole berührt, als mir mein linker Arm von hinten weggerissen wird. Ein anderer Lexer zieht mich in die entgegengesetzte Richtung, als sei das hier eine absurde Form von Tauziehen.
Adrian will mir zu Hilfe kommen, aber er ist selbst von drei Lexern umgeben. Er ruft etwas über die Schulter; mit verzerrten Gesichtern knurren die Lexer laut, aber ich höre nichts mehr außer meinem angestrengten Keuchen und dem donnernden Herzschlag. Wenn sie mir zu nahe kommen, schubse ich sie weg, aber mit jedem Kraftaufwand werden meine Arme müder.
Das war’s also. So werde ich sterben .
Kurz bevor ich vollends in blinde Panik verfalle, finde ich meine innere Ruhe. Ich muss wütend sein und darf Angst haben, aber nicht starr vor Angst sein. Ich muss mich einzeln um sie kümmern. Das sagt John immer – einen nach dem anderen. Ich warte, bis der Erste nah genug ist und ramme ihm meinen Kopf gegen die Brust. Als mein Schädel auf sein Brustbein trifft, erklingt ein hässliches Knacken, und dann ergießt sich etwas Nasses über meinen Kopf. Ich selbst bin wahrscheinlich überraschter als er über die Kraft meines Schlags, aber sie lässt ihn rückwärts stolpern und mich loslassen. Jetzt, wo meine rechte Hand frei ist, ziehe ich mein Messer aus dem Holster und versenke es im Auge des anderen.
Adrian rammt seine Machete dem Ersten von unten durchs Kinn, sodass sie oben aus dem Schädel wieder rauskommt. Blitzschnell hebe ich meinen Schädelspalter vom Boden auf und dann rennen wir los. Marcus übernimmt die Führung und verschwindet ein paar Meter vor uns in einer Senke. Sekunden später erklingt ein schriller Schrei, der jäh verstummt. Wir kommen schlitternd zum Stehen, kurz bevor wir den steilen Abhang erreichen. Marcus liegt auf der Erde, umgeben von Lexern, die ihn bedecken wie Fliegen eine Leiche, und diejenigen, die noch nicht über ihm hocken, sind auf dem Weg.
Sie kommen von der Straße, von vorn, von links und von rechts. Adrian wirft einen Blick auf Hunderte von untoten Körpern, die mit leeren Gesichtern näher kommen. Er greift nach meiner behandschuhten Hand, und erst jetzt bemerke ich, dass er keine Handschuhe trägt; er hat sie ausgezogen, als er die Liste schrieb, und sie in der ganzen Aufregung nicht wieder angezogen.
Er drückt meine Hand zweimal und sagt: „Lauf.“
Ich renne los, auf eine kleine Baumgruppe zu, die hoffentlich ein wenig Schutz bietet. Seine Hand entgleitet meiner. Ich wirbele panisch herum und erwarte schon fast, ihn auf der Erde liegend vorzufinden wie Marcus. Aber er rennt in die entgegengesetzte Richtung.
„Adrian!“, schreie ich.
Ein Lexer mit langen Haaren grabscht von hinten nach mir. Ich drehe mich um und ramme ihm meinen Schädelspalter in die Stirn, und als ich mich wieder nach Adrian umsehe, ist er zu weit weg, bewegt sich in östlicher Richtung zur Farm. Die Lexer verfolgen ihn. Ich presse meinen Rücken gegen einen Baum. Das Adrenalin, das eben noch durch meinen Körper gebrandet ist, weicht einem eisigen Kribbeln, das es mir nicht erlaubt, mich von der Stelle zu rühren.
„Cassie, lauf!“, ruft Adrian. „Lauf! Wir sehen uns zu Hause!“
Er ruft es wieder und immer wieder, macht Lärm, um sie von mir wegzulocken. Und es funktioniert; die Lexer ignorieren mich. Aber ich will nicht weglaufen. Ich werde ihn nicht hier zurücklassen. Adrian feuert seine Waffe ab und geht rückwärts zwischen den Bäumen hindurch. Seine Jacke ist verschwunden und sein weißes T-Shirt hebt sich hell und deutlich von den verblassten, farblosen Klamotten der Lexer ab. Sie umzingeln ihn, Hunderte von ihnen, die ich nie allein bekämpfen könnte.
Ich schreie seinen Namen. Noch kann er sich durch ihre Reihen kämpfen. Wir können zusammen laufen. Das will ich ihm sagen, aber alles, was ich hervorbringen kann, ist ein weiterer Schrei. Dann geben meine Stimmbänder nach und alles, was kommt, ist heiße Luft. Ich stolpere zur Seite, als ein Nachzügler nach mir greift, der durch meine Schreie angelockt worden ist, und springe hinter einen anderen Baum. Eine kleine Gruppe von fünf Lexern nähert sich interessiert. Adrian hat die meisten von ihnen weglocken können, aber es sind immer noch zu viele von ihnen. Irgendwann müssen sie mich ja bemerken, egal, wie leise ich bin. Ich habe keine andere Chance, wenn ich überleben will. Ich weiß nicht, ob ich mir jemals selbst vergeben kann, aber ich renne los.