KAPITEL 29

Adrian und Marcus sind in den Teil des Gartens mit den Obstbäumen gebracht worden, wohingegen die anderen Körper zu dem Feld, wo wir sie aufstapeln oder begraben, transportiert wurden. Sie haben ihn unter einem Baum aufgebahrt, aber ich gehe nicht zu ihm, ehe sie nicht ein Tuch über ihn gelegt und sich entfernt haben. Ich hasse es, wie verängstigt ich bin, wie angeekelt vom Körper des Mannes, den ich so sehr liebe.

Die Apfelbäume stehen in voller Blüte und die weiß-rosa Blätter schweben durch die Luft und landen auf seinem provisorischen Leichentuch. Die Bäume in diesem Teil des Gartens sind knorrig und alt und sehen aus wie etwas, das einem Märchen entsprungen sein könnte, und die Luft ist süß und sauber, bis ich mich ihm nähere. Ich zwinge mich dazu, durch den Mund zu atmen, als ich mich neben ihm auf die Erde knie.

„Das hättest du nicht tun dürfen“, sage ich und erst jetzt, wo ich den Klang meiner Stimme höre, wird mir bewusst, wie wütend ich auf ihn bin. Ich will aber nicht wütend sein; ich will mich verabschieden.

Ich habe meine Schutzhandschuhe angezogen und hebe das Tuch weit genug an, um seine Hand zu nehmen. Unter seinen Fingernägeln klebt schwarzer Dreck, seine Haut ist runzlig und blass. Der Verwesungsprozess ist weniger fortgeschritten, als wenn er auf normale Weise vor drei Tagen gestorben wäre, aber die Tatsache, dass ich ihn ohne Handschuhe nicht anfassen kann – nicht anfassen will – macht mich noch viel wütender. Ich hatte ihn ja schon ein letztes Mal angefasst; damals wusste ich es nur noch nicht.

Mein Magen droht sich schon wieder zu entleeren. Ich versuche krampfhaft, an etwas Positives zu denken, aber ich kann immer nur sein Gesicht sehen, das sich gegen den Zaun drückt und wie er auf dem Metall herumkaut. Ich suche vergeblich nach seinem Lächeln oder seinem einen Grübchen oder der Wärme in seinen Augen. Ich muss ihn sehen. Mit angehaltenem Atem ziehe ich das Tuch zur Seite, nur um zu sehen, dass sie seine Augen geschlossen haben. So sieht er Adrian ähnlich genug, dass ich atmen kann. Der hässlich verzerrte Gesichtsausdruck ist verschwunden und einem weichen, entspannten Ausdruck gewichen, der ihn so aussehen lässt, als würde er schlafen.

„Okay“, flüstere ich. „Okay.“

Das Knirschen und das Kratzen der Spaten verstummt. Wir müssen ihn unter die Erde bringen. Ich will ihn in der Erde wissen, sicher unter unseren Füßen. Als sie starben, wurden meine Eltern direkt vom Leichenschauhaus zum Einäschern gefahren. So konnte ich mich nur noch von ihrer Asche verabschieden, nicht von ihren Körpern. Seitdem habe ich mich immer gefragt, wie man die Hand eines geliebten Menschen zum letzten Mal loslässt. Wie man sie unwiederbringlich, für immer loslässt. Aber jetzt weiß ich es – es hilft, wenn die Alternative noch viel schrecklicher ist.

„Was soll ich bloß tun?“, flüstere ich.

Der Gedanke hinterlässt eine große Leere in mir, so als sei da ein unendlicher gähnender Abgrund in mir, der hier beginnt und erst endet, wenn ich selbst einmal sterbe. Ich will ihm sagen, dass ich ihn liebe bis ans Ende der Welt und noch viel weiter, aber das weiß er ja schon, und ich glaube auch nicht, dass ich die Worte laut aussprechen kann.

Seine Jeans ist blutverkrustet und hat einen Riss, wo ein Gebiss oder vielleicht eine Hand eine Arterie erwischt hat. Ich will es gar nicht so genau wissen, will nicht zu viele grauenhafte Details seiner letzten Augenblicke kennen. Sein Messer hängt noch immer an seinem Gürtel. Es war ein Geschenk von meinem Vater, der immer gesagt hat, dass ein gutes Messer sein Gewicht in Gold wert ist. Als ich es aus der blutigen Halterung nehme, blitzt darunter etwas Silbernes auf; mein Verlobungsring ist halb aus seiner Hosentasche gerutscht.

Ich will schon danach greifen, aber dann halte ich inne. Ich will ihn nicht. Sein Messer hat noch immer einen praktischen Nutzen; glückliche Erinnerungen sind damit verbunden. Der Ring aber war ein Versprechen – ein Versprechen, das er jetzt nicht mehr halten kann. Aber ich kann ihm eins machen. Ich schiebe den Ring zurück in die Tasche, bis ich mir sicher bin, dass er festsitzt. Genau in dieser Tasche hat er ihn mit sich herumgetragen und auf den perfekten Augenblick gewartet. Den Unterwäsche-Moment. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber ein Lächeln kämpft sich durch meine Tränen.

„Bewahrst du ihn für mich auf?“ Die Worte sind kaum hörbar, aber ich weiß, dass er mich hört. „Aber wehe, du überlegst es dir anders. Gib ihn mir einfach wieder, wenn wir uns das nächste Mal sehen.“

Ich drücke seine Hand zweimal. Dann lasse ich los.