Nachdem ich eine weitere Woche im Zelt verbracht habe, lässt sich Penny endlich dazu breitschlagen, mein Zimmer zu übernehmen. Ich habe das Bild behalten, sein Handy und sein Messer. Ein paar seiner Sachen sind wieder in den Gemeinschaftsbesitz übergegangen, und Penny hat mir dabei geholfen, den Rest auf dem Dachboden zu verstauen. Dabei habe ich die meiste Zeit nur auf dem Bett gesessen, geweint und sie dabei beobachtet, wie sie die meiste Arbeit macht. Wir haben sogar eine eingespielte Routine entwickelt – ich hielt ihre Haare, während sie sich übergab, und sie reichte mir Taschentücher, sobald die alten zu durchnässt waren.
Aber seit zwei Tagen habe ich nicht mehr geweint. Nach knappen drei tränenreichen Wochen. Ich kann einfach nicht mehr. Und ich bin mir sicher, dass auch alle anderen mein Gejammer inzwischen leid sind. Wir haben keine weiteren Herden gesehen, nur kleine Grüppchen von Lexern, die mehrmals am Tag am Zahn aufkreuzen. Ich trage mich fast jede Nacht für den Wachdienst ein und habe auch keine Skrupel mehr, allein am Zaun entlangzugehen. Die Lexer machen mir keine Angst, und wenn ich einem von ihnen einen Pflock ins Auge stoße, ist es das befriedigendste Gefühl der Welt. Mein Hass gibt mir Kraft in diesen Augenblicken – anstatt im Selbstmitleid zu versinken, verwende ich meine Energie für etwas Nützliches.
Wenn ich nicht gerade Wache schiebe, starre ich in ein geöffnetes Buch, ohne die Worte zu lesen; ich unterhalte mich mit Bits, ohne zuzuhören, und ich liege nachts da, ohne zu schlafen. Erst am frühen Morgen, wenn ich höre, wie die anderen sich langsam für den neuen Tag bereitmachen, finde ich für ein paar Stunden Schlaf. In diesem Bereich der Farm ist es lauter, hier, zwischen den Hütten und den großen Zelten, aber ich mag unsere kleine Hütte. Das Schlafzimmer, das ich mir mit Bits teile, ist groß genug für ein Einzelbett, ein Feldbett und einen Kleiderschrank. Die Wände sind aus Holz, es gibt ein Fenster und eine Reihe von Kleiderhaken, wo wir unsere Jacken aufhängen, wenn wir nicht zu faul sind. Adrians Bild, Bits Zeichnungen und ihre Papierblumen auf dem Fensterbrett verleihen dem Raum eine gemütliche, warme Atmosphäre.
Ich bin gerade in einen leichten Schlaf abgedriftet, als Bits zu mir ins Bett springt. „Cassie! Schläfst du?“
Verschlafen öffne ich ein Auge. Ihr Gesicht ist so nah, dass ihre Sommersprossen vor meinen Augen verschwimmen. „Ja. Ich schlafe.“
Sie kichert. „Machst du heute den Kunstunterricht? Bitte, bitte? Uns ist so langweilig. Penny ist so …“ Ich muss lachen, als sie das Gesicht verzieht und sich den Bauch hält. „Und wir müssen doch unsere Porträts fertig malen!“
Ich fühle mich schlecht, weil ich die Kinder so lange ihrer Kunststunden beraubt habe und denke an Frida Kahlos Selbstporträt mit Diego Rivera auf der Stirn. Auf meiner Stirn wäre Adrian zu sehen, überlebensgroß. „Ja, okay. Ich komm gleich.“
Sie zieht sich an und springt in den angrenzenden Wohnraum. Peter, der auch leidenschaftlich Zahnseide benutzt, stellt sicher, dass sie sich die Zähne putzt, bevor sie frühstücken gehen. Sobald sie gegangen sind, ist es zu still im Haus, um zu schlafen. Ich starre die Wand an und versuche, nicht darüber nachzudenken, dass ich jetzt in einem Einzelbett schlafe. Stattdessen denke ich an die Patrouille, die wir in zwei Tagen antreten werden. Früher hatte ich immer einen Heidenrespekt davor, aber jetzt kann ich es kaum abwarten, hier rauszukommen. Manchmal, wenn ich nachts den Zaun abschreite, stelle ich mir vor, wie es wäre, einfach abzuhauen. Einfach durch eins der Tore hinauszuschlüpfen und auf unbestimmte Zeit zu verschwinden. Und als normaler Mensch zurückkehren. Aber in Wirklichkeit würde ich wohl eher als Zombie zurückkehren.
***
Der Tag und der Kunstunterricht sind überstanden. Ich sitze beim Abendessen und stochere in meinen Spaghetti herum. Die Leute werfen dem Mädchen-dessen-Verlobter-gestorben-ist aus den Augenwinkeln verstohlene Blicke zu, aber meine Augen bleiben trocken.
„Es geht also nach Montpelier?“, frage ich Dan, der inzwischen einen festen Platz an unserem Tisch hat.
Er saugt mit einem schlürfenden Geräusch eine einzelne Nudel auf. „Jepp. Toby hat den Plan auf der Karte eingezeichnet.“
„Wer kommt mit?“
„Du, ich, Caleb, Toby, Ana und Peter.“
„Ich kann’s kaum erwarten!“, freut sich Ana.
„Ich auch nicht“, sage ich.
Peter atmet durch die Nase aus und legt seine Gabel auf den Tisch. Penny verändert fast unmerklich ihre Haltung, scheint aber nicht genug Energie zu haben, um uns zurechtzuweisen. Stattdessen widmet sie sich wieder ganz ihrer Ingwer-Limonade. Ich muss unbedingt mehr von dem Zeug finden, wenn wir unterwegs sind.
„Hat Shawn die Fahrzeuge untersucht?“, fragt John. Dan nickt. John wirft mir einen langen Blick zu. Ich bin mir sicher, wenn er mich so ansieht, kann er meine Gedanken lesen. „Seid bitte einfach vorsichtig.“
Ich nicke ernst, obwohl ich schon längst zu der Überzeugung gekommen bin, dass Vorsicht überbewertet wird. Adrian war vorsichtig, ich war vorsichtig. Und trotzdem passiert dauernd irgendwelche Scheiße. Vorsicht mag das Unausweichliche hinauszögern, aber früher oder später erwischt es uns alle.
„Und nächste Woche geht’s dann nach Whitefield, richtig?“, fragt Nelly.
„Genau“, sage ich. „Dann bringen wir ihnen unsere Beute.“
Und das bedeutet noch einmal drei Tage weg von hier. Irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft müssen wir auch die Sicherheitszone in Quebec besuchen. Und anschließend braucht Whitefield bestimmt schon wieder frische Lebensmittel.
„Wünschst du dir etwas Bestimmtes, Bits?“, fragt Peter.
„Nein, danke“, antwortet Bits und konzentriert sich angespannt darauf, die Spaghetti auf ihrer Gabel aufzurollen. Sie will nicht, dass wir beide gehen. Ich weiß, dass sie Angst hat, aber dabei vergisst sie, dass es genau das ist, was ihre Sicherheit garantiert. Wie viel Angst hätte sie erst, wenn es keinen Zaun, keine Freunde und nicht genug zu essen für alle gäbe.