Die Patrouille hat mich müde gemacht, aber nicht müde genug, um zu schlafen. Ich lasse Fee und Bits zurück, die gemütlich eingekuschelt schlafen, und gehe zum Tor. Nelly hat heute Nachtwache und spielt gerade mit Mikes Sohn, Rohan, und Sue Karten. Als er mich hört, blickt er auf. Sue ist Ende vierzig und hat langes krauses Haar, das sie immer mit einer Baseballmütze zu bändigen versucht. Sie geht nicht mit auf Patrouille, weil sie ein Knie hat, das ihr Probleme macht, aber sie war als Kind oft mit ihrem Vater auf der Jagd und hat kein Problem damit, am Zaun Lexer zu beseitigen.
„Willst du ’ne Runde mitspielen?“, fragt Nelly.
„Was spielt ihr denn?“
„Poker. Texas Hold’em.“
„Ja, warum nicht.“ Ich ziehe einen Stuhl an den Tisch. „Aber ich erinnere mich nicht so gut an die Regeln.“
„Ich bring sie dir bei“, sagt Nelly. „Poker war ein Riesending in der Studentenverbindung.“
Rohan schiebt sich das schulterlange dunkle Haar hinters Ohr. „Du warst in ’ner Studentenverbindung?“ Selbst ist er eher Anhänger der Dungeons-and-Dragons-Fraktion und beäugt Nelly misstrauisch.
Nelly lacht. „Ja, schon, aber keine Sorge. Cass hätte sich nie mit mir abgegeben, wenn ich so ein toxisches Klischee gewesen wäre.“
Ich schneide eine Grimasse. „Niemals.“
„Aber lasst uns erst mal den Zaun abschreiten, bevor wir eine neue Runde anfangen“, schlägt Sue vor. „Ich nehm Westen. Rohan, nimmst du Osten?“
Nachdem sie gegangen sind, fragt Nelly: „Und, Zwerg, wie war dein Tag?“
„Gut. Ich hatte Spaß.“
Er blickt von den Karten auf, die er gerade mit routinierten Bewegungen mischt. „Gut? Spaß? Das sind zwei Worte, die ich eher weniger mit Patrouille verbinden würde. Erzähl mir mehr, bitte.“
„Ich bin halt gern da draußen. Da denkt man nicht so viel nach.“
Er versteht, aber das bedeutet nicht, dass er es gut findet. Zumindest, wenn man seinem Gesichtsausdruck Glauben schenken darf.
„Was ist los mit dir? Gerade eben noch machst du nichts anderes, als den ganzen Tag lang zu heulen – was wohlgemerkt völlig normal ist – und jetzt tust du plötzlich so, als sei nix passiert.“
„Ich tu überhaupt nicht so, als sei nix passiert! Was soll ich denn deiner Meinung nach machen? Mir für immer und ewig die Augen aus dem Kopf weinen? Es gibt immer noch genug zu tun, um zu verhindern, dass der Rest von uns auch noch stirbt, Nelly!“
Er legt seine Hand auf meine, die sich krampfhaft an der Stuhllehne festklammert. „Okay, alles gut, Zwerg. Ich hab’s ja gar nicht so gemeint, wie das jetzt vielleicht klang. Natürlich will ich nicht, dass du für immer und ewig nur rumheulst. Ich will aber auch nicht, dass du denkst, du müsstest so tun, als ob alles in Ordnung wäre.“
„Natürlich ist nicht alles in Ordnung“, sage ich mit zittriger Stimme und muss blinzeln, um die Tränen zurückzuhalten. „Aber ich fühl mich eben am meisten wie ich , wenn ich nicht auf der Farm bin.“
„Du solltest dich lieber so fühlen, als seist du am wenigsten in Sicherheit, wenn du nicht auf der Farm bist“, murmelt Nelly mit einem melodramatischen Seufzer. „Aber was zählt meine Meinung schon? Ich bin ja nur dein bester und klügster Freund auf der ganzen Welt.“
Er versucht, mich aufzumuntern, denn natürlich hat er die Tränen in meinen Augen bemerkt, und dafür liebe ich ihn. „Nein. Das ist Penny.“
„ … dein bester und am besten aussehendster Freund?“
„Das war mal. Jetzt, wo Peter und ich so gut miteinander auskommen, fürchte ich, ist die Stelle auch schon besetzt.“ Ich falte die Hände unterm Kinn und klimpere verträumt mit den Wimpern. „Diese Wangenknochen! Die gerade Nase! Die dunklen, tiefsinnigen Augen! Aber keine Sorge, du siehst auch ganz okay aus.“
Nelly hält sich mit gespielt verletzter Miene die Brust.
„Du bist mein bester und lustigster Freund!“, sage ich. „Und das ist die wichtigste Rolle von allen. Du darfst mich niemals verlassen. Versprochen?“
Er beißt sich auf die Lippe und wendet den Blick ab.
„Was?“, frage ich. „Was ist los?“
„Ich dachte … wenn wir diese Woche nach Whitefield fahren … Ich dachte, ich bleib ’ne Weile dort.“
Ich starre die Tischplatte an. Wäre Adrian hier, würde ich Nelly ohne zu zögern ziehen lassen, obwohl ich ihn natürlich vermissen würde. Aber jetzt fühlt es sich so an, als würden alle anderen mit Glück und Liebe überhäuft – alle, außer mir.
„Ihr kommt ja in nächster Zeit sowieso immer alle zwei Wochen rüber“, spricht Nelly hastig weiter. „Also sehen wir uns ja trotzdem dauernd. Und ich komm her. Versprochen. Und wir können per Funk …“
„Nels, du weißt genau, dass ich es hasse, zu telefonieren.“ Ich verschränke die Arme vor der Brust und tue so, als würde ich schmollen. Ich sehe ihm an, dass ihm die Entscheidung nicht leichtgefallen ist und wie sehr es ihm davor gegraut haben muss, sie mir mitzuteilen. „Und das Funkgerät ist noch viel schlimmer! Ich besuch dich, aber nur, wenn du versprichst, mir die lokale Clubszene zu zeigen.“
„Das sagst du mir ? Als ob das Nachtleben nicht das Erste wäre, was ich auschecken würde.“ Sein Blick wird ernst. „Danke dir, Zwerg.“
„Wofür bedankst du dich? Ich will, dass du glücklich bist. Aber es gibt da eine Sache, die du für mich tun musst, bevor du mich hier einsam und allein zurücklässt.“
„Was auch immer es ist – betrachte es als gebongt.“
„Du musst mir verraten, wie weit du und Adam …“
Er lässt die Stirn auf den Campingtisch knallen. „Ich wusste es! Gott, wie ich dich hasse!“