„Bei Big Bend und Gila herrscht Funkstille“, informiert Zeke uns. Er zeigt auf die zwei neuen grünen Stecknadeln auf der Karte in der Zentrale. „Seit zwei Wochen haben wir keinen Mucks mehr gehört.“
Big Bend und Gila sind Sicherheitszonen, jeweils in Texas und New Mexico. Und beide befinden sich mitten im Nirgendwo. Aber selbst wenn Big Bend von einer Herde überrannt würde, erscheint es unwahrscheinlich, dass die Sicherheitszone in Gila ein ähnliches Schicksal ereilen würde. Als ich zwölf war, nahmen meine Eltern Eric und mich mit auf eine Fahrt quer durchs Land, und ich erinnere mich bis heute an die verschlungenen Wege und steilen Abhänge im Gila-Nationalpark.
„Wie viele Tage lagen denn dazwischen?“, fragt John. „Könnte es sich hier eventuell um eine große Herde handeln?“
„Den Gedanken hatte ich auch schon“, sagt Zeke. „Big Bend hätte sich ein paar Tage nach Gila melden sollen. Wir haben jeden Tag versucht, sie anzufunken, bisher ohne Erfolg.“
Zeke ist jetzt ganz offiziell das neue Oberhaupt von Whitefield. Und das zeigt sich deutlich an den dunklen Ringen unter seinen Augen und der Tatsache, dass er nicht so vergnügt Witze reißt wie noch vor ein paar Monaten. Er zwirbelt sich den Bart und zieht gedankenverloren daran. „Wir sind weiterhin mit den Zonen Grand Canyon und Monte Vista in Colorado in Kontakt. Die berichten nichts Außergewöhnliches.“
John runzelt die buschigen Augenbrauen und inspiziert die Karte eingehend. „Dwayne kann nur etwa neunhundert Kilometer weit fliegen, bevor er umdrehen muss. Das reicht nicht aus. Und es wäre Verschwendung von Treibstoff. Apropos – wie sieht es mit den Vorräten aus?“
Dwayne ist der einzige Pilot, der noch übrig ist – abgesehen von dem einen in Moose River. Die anderen gehörten zur Nationalgarde.
„Mickrig“, seufzt Zeke. „Will hatte geplant, mehr zu besorgen, aber er hat seine Pläne nicht aufgeschrieben. Ich weiß nicht, wo er noch Vorkommen vermutet hat. Alle umliegenden Flughäfen haben wir schon leergeräumt, und ohne die Einheit schaffen wir es nicht bis nach Portsmouth.“
„Tja, daran lässt sich nichts ändern“, meint John. „Aber vielleicht können wir noch öfter mit Colorado und Arizona kommunizieren.“
„Mein Respekt für Will ist immens gewachsen“, sagt Kyle. „Der landwirtschaftliche Teil ist ja schon schlimm genug. Aber der ganze andere Scheiß? Ich hab wirklich keine Ahnung, wie er das alles unter einen Hut gekriegt hat.“
Ich schiebe ihm ein Stück Papier über den Tisch hinweg zu. Kyle betrachtet es und entspannt sich sichtlich. „Das ist Whitefield“, sagt er und reicht Zeke das Papier. „Eine Karte und ein Plan über alle Nutzpflanzen, Getreide, Erntezeiten … Hast du das etwa gemacht, Cassie?“
„Adri…“ Ich räuspere mich. Ich habe seinen Namen bis jetzt kein einziges Mal ausgesprochen. „Nein.“
Kyle nickt schnell. „Danke.“
Heute ist der erste Juni, und das bedeutet, dass es Zeit zum Anpflanzen ist. Wir haben eine ganze Wagenladung Setzlinge und Lebensmittel mitgebracht, aber der Frühling wird trotzdem härter, als wir erwartet hatten.
„Eins noch“, sagt John. „Wir brauchen einen Treffpunkt, falls wir irgendwann mal ganz fix von hier wegmüssen. Will und ich hatten geplant, nach Norden, Richtung Kanada zu gehen. Nach Yukon oder Alaska. Die Zonen da sind Whitehorse, Talkeetna und Homer. Es macht keinen Sinn, irgendwohin zu gehen, wo es wärmer ist oder zu flach.“
Bei dem Gedanken an nördlichere Gefilde muss ich mich unwillkürlich schütteln. Vermont ist mir schon kalt genug. Aber auch der Gedanke daran, die Farm zu verlieren, behagt mir ganz und gar nicht. Die Vorstellung, dass Kingdom Come den Menschen Schutz und Sicherheit bietet, so wie Adrian es wollte, spendet mir Trost. Und ich mag es, dass ich ihm nahe sein kann, obwohl ich bis jetzt noch nicht einmal wieder in dem Teil des Gartens mit den Obstbäumen gewesen bin.
„Und Alaska würde uns aufnehmen?“, fragt Zeke.
„Die sagen, je mehr desto besser. Scheint eine gute Truppe zu sein. Und diesen Frühling haben sie bisher kaum Lexer zu verzeichnen gehabt. Sie denken, dass der harte Winter dort wahrscheinlich mehr von ihnen erwischt hat als hier. Sie haben zwar noch immer mit ein paar Verirrten aus Fairbanks und Anchorage zu kämpfen, aber sie denken nicht, dass es viele aus dem Süden über die Berge schaffen.“
„Das ist ja mal was ganz anderes als hier“, sagt Peter.
Wir haben in letzter Zeit durchschnittlich dreißig Lexer pro Tag am Zaun. Das ist noch nicht dramatisch, aber genug, um uns auf Trab zu halten. Und genug für eine gute Ausrede, am Zaun zu bleiben und andere Pflichten wie Kunstunterricht und die Frühstücksschicht sausen zu lassen. Mikaylas mitleidige Blicke reichen mir langsam; die meiste Zeit will ich ihr einfach nur einen Topf an den Kopf werfen.
„Und was machen wir dann?“ Ana lehnt sich zurück, legt die gestiefelten Füße auf den Tisch und schürzt die Lippen. „Das wäre ja todlangweilig.“
„Langweilig ist gut“, belehrt Peter sie. „Langweilig ist das Ziel.“
Ana zwinkert mir zu. Sie beschäftigt mich mit Kampftraining und Wache schieben. Sie ist unermüdlich und brüsk wie eh und je – zwei Eigenschaften, die mich früher in den Wahnsinn getrieben haben, die mir aber in der gegenwärtigen Lage überaus entgegenkommen. Sie packt mich nicht in Watte, und sie urteilt nicht. Ich tue so, als würde ich nicht sehen, wie Peter missbilligend die Stirn runzelt, weil ich noch nicht einmal versuche, mein Grinsen zu unterdrücken.
***
Nelly und Adam haben sich in einem der Zimmer in der Baracke eingerichtet. Ich habe Nelly ein gerahmtes Foto geschenkt, das ich unter Adrians Sachen gefunden habe. Adrian, Nelly und ich sitzen Arm in Arm auf einem Felsen und sind noch immer verschwitzt vom Wandern. Wir sehen alle ziemlich verwegen aus, aber unsere fröhlichen Gesichtsausdrücke sind so echt, dass es immer eins meiner liebsten Bilder von uns dreien gewesen ist. Ich habe es mit dem Handy abfotografiert, damit ich es ebenfalls habe.
Nelly streckt mir die Arme entgegen. „Kannst du mir mal erklären, wie es möglich ist, dass ich jemanden, den ich so hasse, so schrecklich vermissen werde?“
„Ich hasse dich auch“, murmle ich an seiner Schulter. „So, so sehr.“
Nelly hat sich immer um mich gekümmert, selbst wenn das nur bedeutete, dass er mich herumkommandierte und sich über mich lustig machte, bis ich wieder einigermaßen normal war. Ich weiß, dass er nicht weit weg sein wird, aber es fühlt sich so an, als würde ich ihn für immer verlieren. Ich drücke ihn ein letztes Mal an mich und drehe mich dann zu Adam um. „Du bist jetzt für ihn verantwortlich. Manchmal wird er ein bisschen größenwahnsinnig. Dann braucht er jemanden, der ihn einen Kopf kleiner macht.“
„Glaub mir“, versichert Adam lachend. „Ich weiß das.“
Ich traue mir nicht zu, noch mehr zu sagen, ohne dass ich in Tränen ausbreche, also winke ich nur und gehe auf unsere Wagen zu. Henry und Hank kommen mit nach Kingdom Come. Ihre wenigen Habseligkeiten liegen bereits auf der Ladefläche des Pick-ups. Hank ist so aufgeregt, dass er seinen Vater mehr oder weniger vor sich herschiebt, und schon fühle ich mich ein bisschen weniger einsam als noch vor einem Augenblick.
Ich zupfe am Ärmel von Zekes schwarzem T-Shirt. „Ruh dich aus, Zekey.“
„Gott weiß, ich versuch’s. Du auch, Süße“, sagt er. „Wir haben beide Augenringe bis unter die Achseln.“
„Zeke! Soll das etwa heißen, du findest, dass ich scheiße aussehe?“
„Niemals, meine Liebe. Wenn ich könnte, würde ich dich höchstpersönlich zur Miss Sicherheitszone ernennen.“
Ihn so ernst zu sehen, ist kaum auszuhalten, und so freue ich mich doppelt über das schallende Lachen, das mir die unsichtbare Krone einbringt, die ich mir selbst aufsetze. Ich werfe ihm einen Luftkuss zu und springe neben Hank auf die Ladefläche.