Ich finde John im Funkraum, wo er die Frühschicht absolviert. Er hat die Hände hinterm Kopf verschränkt und starrt die Karte an, die über dem Funkgerät an der Wand hängt. Sie ist mit Stecknadeln versehen wie die in Whitefield, und auch hier zeichnet sich ein deutliches Bild ab: Der Süden wird grün. Langsam, aber sicher.
„Was gibt’s Neues von Zeke?“
„Sie erreichen Grand Canyon nicht mehr“, sagt er. „Ich wünschte, ich wüsste, was da los ist.“
„Schauen die Leute von Monte Vista nach dem Rechten?“
Sein Kiefer arbeitet und er lässt die Faust auf den Tisch sinken. „Nein. Die haben zu viel Angst. Einerseits kann ich sie ja verstehen, aber es ist einfach töricht, den Kopf in den Sand zu stecken. Man sollte doch meinen, sie wollten wissen, wenn da was auf sie zukommt.“
„Auf jeden Fall.“ Ich würde es wissen wollen. „Wie geht’s Nelly?“
„Gut. Er hat Zeke gebeten, Grüße auszurichten. Zeke sagt, sie wissen seine Hilfe sehr zu schätzen. Alle lieben Nelly, aber das ist ja nicht Neues für dich.“
Und niemand liebt ihn mehr als ich. Ich kann es kaum abwarten, ihn morgen zu sehen, wenn wir nach Whitefield fahren. Ich habe versucht, mit Peter und Dan herumzualbern, wie Nelly und ich es immer tun, aber es ist einfach nicht dasselbe.
„Na ja, wie auch immer – wir müssen den Graben fertigstellen“, sagt John. „Wir stellen extra Wachposten auf, aber das Wichtigste ist, dass die ganze Farm so bald wie möglich komplett geschützt ist.“ Er lehnt sich vor. „Wie geht es dir, mein Mädchen? Ich hab das Gefühl, ich seh dich nur noch beim Abendessen.“
Das mag daran liegen, dass ich lieber für mich bin, wenn ich nicht gerade auf Nachtwache bin oder zum Ausguck hochfahre.
„Mir geht’s gut.“
Die Wahrheit, die ich ihm vorenthalte, ist, dass sechs Wochen vergangen sind, und dass ich mich immer noch mehrmals am Tag so fühle, als habe mir gerade jemand einen gehörigen Schlag in die Magengrube versetzt. Dass Ana und ich da draußen heimlich Grüppchen von Lexern aufspüren und abschlachten, und dass ich dabei so viel Spaß habe, dass ich mir schon selbst Angst mache. Dass ich mich zurückhalten muss, um Bits nicht anzuschreien, wenn sie mich nachts umklammert und aufwacht, sobald ich mich auch nur einen Millimeter bewege. Das alles spreche ich nicht aus, aber ich bin mir sicher, dass er mir den Frust anmerkt, egal, wie gut ich ihn zu verbergen versuche. Ich kann kaum atmen, während ich von diesen ganzen Menschen umgeben bin, die alle andauernd etwas von mir wollen. Es gibt keinen Sauerstoff, nicht einmal in meinem eigenen Bett.
„Es dauert seine Zeit, aber es wird besser“, versichert er. „Als Caroline starb, erschien mir mein eigener Tod als nächster Schritt gar nicht so unattraktiv. Ich konnte einfach nicht sehen, was ich hier noch sollte ohne sie.“
Ich starre das Funkgerät an. Ich will nicht sterben; aber das Leben erscheint mir gerade einfach nicht sonderlich lebenswert. Das ist ein feiner Unterschied, aber immerhin ein Unterschied.
„Ich habe in Gott Kraft gefunden“, sagt John. Er hebt die Hand. „Ja, ich weiß, wir haben ziemlich unterschiedliche Auffassungen, was Religion betrifft.“
Das kann man wohl laut sagen: Er ist Christ, ich bin Agnostikerin. Er lächelt und spricht weiter: „Aber Gott hat mir die Arbeit nicht abgenommen, weißt du. Meine Kraft musste ich in mir selbst finden. Du kannst dich vor einer Herde von Lexern auf die Straße legen und beten, aber wenn du dir nicht selbst hilfst, indem du aufstehst und abhaust, fressen sie dich trotzdem. Du hast diese Kraft in dir, mein Mädchen.“
Er räuspert sich und glättet sich mit einem Finger den Kragen seines Hemdes. „Ich dachte auch, dass ich mich nie wieder verlieben würde, aber da hab ich mich ganz schön geschnitten. Und das erzähl ich dir jetzt nur, weil ich will, dass du weißt, dass das Leben weitergeht, auch wenn es jetzt gerade vielleicht nicht so wirkt.“
Maureen. Ich jauchze begeistert auf und drücke ihm einen dicken Kuss auf die Wange.
„Ja, ja, das reicht jetzt“, grummelt er, aber sein Blick ist alles andere als abweisend. „Verstehst du, was ich dir sage?“
„Ja, ich versteh’s.“ Ich liege nicht auf der Straße – ich stehe aufrecht und kampfbereit, den Schädelspalter in der Hand. Das ist die einzige Art von Kraft, die ich derzeit aufbringen kann. Ich wechsle das Thema. „Und, was machen wir jetzt wegen Arizona?“
„Nicht das Geringste. Es sei denn, Colorado beschließt endlich, seinen Mann zu stehen.“
Oliver, ein Mann Mitte vierzig, tritt ein, um John abzulösen. „War irgendwas Interessantes?“
John bringt ihn auf den neuesten Stand, und als wir gemeinsam die Hütte verlassen, nehme ich seinen Arm. „Danke dir, John.“
„Es wird schon wieder werden, mein Mädchen. Gib nur nicht auf.“
John mag ja wieder Liebe gefunden haben, aber ich bin mir sicher: Ich werde nie wieder jemanden so lieben können, wie ich Adrian geliebt habe. Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Und ich will’s auch gar nicht; ich habe auch so schon genug Menschen in meinem Leben, die ich nicht verlieren will.
***
Ich spüre, wie ich mich unwillkürlich versteife, als Penny sich beim Abendessen neben mich setzt. Seit Wochen haben wir uns kaum richtig unterhalten. Es ist kein richtiger Streit, aber es fällt mir schwer, sie anzusehen, jetzt, wo ich weiß, was sie über mich denkt.
„Es geht mir so viel besser“ freut sie sich und schiebt sich eine Gabel voll Salat in den Mund. Im milden Frühlingswetter gedeiht das Gemüse wie verrückt, und sogar diejenigen unter uns, die früher über Salat nur die Nase gerümpft haben, verschlingen ihn, als wäre er Schokolade.
„Toll!“, sage ich und verfalle erneut in Schweigen.
„Alles okay bei dir?“
„Ja, alles gut. Ich denk nur grade über die Fahrt nach Whitefield morgen nach. Muss mich noch vorbereiten. Ach ja, und Bits hat gerade wieder Schwierigkeiten, einzuschlafen, seit der Sache am Zaun, also musst du bei ihr bleiben, bis sie eingeschlafen ist. Und das kann dauern.“
Ich habe es gar nicht als bewussten Seitenhieb gemeint, aber sie zuckt verletzt zusammen. „Hör mal, es tut mir wirklich leid, dass Bits das mit ansehen musste. Ich hätte sie und die anderen Kinder irgendwie daran hindern sollen, rauszulaufen, aber es ging einfach zu schnell …“
„Ich weiß, und es ist ja auch alles okay. Ich versuch einfach nur, alles in meiner Macht Stehende zu tun, damit sie so was nie wieder sehen muss.“
Penny zupft am Ende ihres Pferdeschwanzes herum. Sie ist im Begriff, etwas zu sagen, was ich nicht hören will, also schiebe ich meinen Stuhl nach hinten. „Ich geh packen.“
„Okay.“
Wir sind beste Freundinnen, seit wir zehn sind, und ich kann ihr an der Nasenspitze ansehen, wenn sie verletzt ist. Aber ich bin es auch. „Bis später.“
Ich gehe nach draußen und bin mir sicher, dass meine Wut berechtigt ist. Aber dadurch fühle ich mich nicht besser oder weniger einsam. Ich mag nur Adrian verloren haben, aber langsam bekomme ich das Gefühl, auch alle anderen Menschen in meinem Leben zu verlieren.