KAPITEL 44

Es hat in letzter Zeit keine Herden von der Größe gegeben wie die, die Bits solche Angst eingejagt hat, aber fast jeden Tag kommen kleinere Gruppen von mindestens zwanzig Lexern an den Zaun und die verängstigen sie nicht weniger. Es gibt keine Möglichkeit, es ihr zu verheimlichen. Wenn sie den Trubel am Zaun nicht mitbekommt, sprechen die anderen Kinder am nächsten Tag darüber. Die einzige Lösung ist es, die Lexer zu erledigen, noch bevor sie bei uns aufkreuzen. Ana und ich geben uns die größte Mühe, aber es sind einfach zu verdammt viele.

Jeden Abend dauert es eine Stunde, ehe sie schlafen kann, und dann noch eine Stunde, um sie wieder in den Schlaf zu wiegen, nachdem sie aufgewacht ist. Das ist unausweichlich. Peter kümmert sich normalerweise um sie, wenn ich zur Nachtwache muss, aber die ganze letzte Woche gibt es außer mir niemanden, der sie beruhigen kann. Jede Nacht muss ich meinen Wachposten am Zaun verlassen, und ich mache die wertvolle Erfahrung, wie es sich anfühlt, jemanden mehr zu lieben als das Leben selbst und ihn gleichzeitig am liebsten erwürgen zu wollen.

Sie liegt in meinem Bett, verschwitzt und halb ins Laken eingewickelt. Ich bin kaum bis zur Tür gekommen, als sie ruft: „Cassie! Wo bist du?“

Ich schließe die Augen. Ich hätte schwören können, dass sie wieder eingeschlafen war. „Bits, ich muss zurück an den Zaun.“

„Ich will aber, dass du bei mir bleibst“, winselt sie. „Lass mich nicht alleine. Warum kannst du nicht hierbleiben? Du bist so gemein.“

Ich setze mich auf die Bettkante. „Bits, ich will doch gar nicht gemein zu dir sein. Ich will nur …“

Sie antwortet mit einem langgezogenen Heulen; man kann in letzter Zeit wirklich kaum mit ihr reden, sie benimmt sich wie eine Zweijährige. Ich lasse sie jammern und klopfe an den hölzernen Türrahmen von Peters und Anas Zimmer, der mit einem Vorhang verhangen ist. „Peter?“

Das Jammern wird zu einem Kreischen. Peter stolpert aus dem Zimmer, und wir schauen uns seufzend an, so wie meine Eltern sich früher immer angesehen haben, wenn Eric und ich kleine Arschlöcher waren. Immerhin ist Peter auch frustriert. Das hilft ein bisschen.

„Geh“, sagt er. „Ich nehm sie.“

Er zieht in mein Zimmer um, und beim Klang seiner ruhigen Stimme wird das Kreischen langsam leiser. Sie will, dass ich die ganze Nacht über bei ihr bleibe. Ich hab es ein paar Mal versucht, aber wenn man lange genug in die Dunkelheit starrt, wird man irgendwann auch verrückt. Und gegen Mitternacht koche ich innerlich vor Frust und Wut darüber, dass ich nie auch nur einen Moment für mich habe. Jeden Morgen fühle ich mich schlecht deswegen und nehme mir vor, beim nächsten Mal geduldiger und verständnisvoller zu sein, aber jede Nacht verliere ich aufs Neue die Geduld, und das jedes Mal schneller. Ich hasse mich dafür.

Ich ergreife die Flucht, ehe ich wieder in die Pflicht genommen werde, obwohl die Erleichterung ein wenig durch meine Schuldgefühle Peter gegenüber getrübt wird. Jetzt hat er sie an der Backe. Dan, Liz und Caleb sitzen beim ersten Tor am Campingtisch. Sie tragen T-Shirts und kurze Hosen. Die Nächte im Juli sind wärmer als im Januar, aber meiner Meinung nach braucht man mindestens einen Pulli.

„Hast du sie wieder in den Schlaf gekriegt?“, fragt Dan.

„Ja, und dann wieder nein, und jetzt versucht Peter sein Glück.“

„Als ich ein Kind war, hatte ich andauernd Albträume“, sagt Liz. „Ich konnte kaum alleine schlafen. Hatte vor allem Angst.“

„Wirklich?“, frage ich. Liz ist der furchtloseste Mensch, den ich kenne. Ich kann sie mir kaum als Kind vorstellen. Vielleicht gibt es ja doch noch Hoffnung für Bits; obwohl ich in diesem Moment echte Angst um sie habe.

„Ja. Ich hab auch heute noch manchmal Albträume, aber ich glaub, das ist einfach meine Art, die Dinge zu verarbeiten, weißt du? Wenn ich wach bin, macht mir nicht viel Angst, aber irgendwo da drin muss ja trotzdem irgendwas passieren, und das kommt dann eben nachts an die Oberfläche. Immerhin ist es billiger als eine Therapie.“

Sie senkt den Kopf, wahrscheinlich ein wenig peinlich berührt, nachdem sie so viel von sich preisgegeben hat. Caleb leckt sich über die Lippen und legt ihr zaghaft eine Hand aufs Knie. „Du weißt aber schon, dass du mich immer wecken kannst, wenn du mal mitten in der Nacht aufwachst und nicht alleine sein willst?“

Caleb mag Liz. Er mag mag Liz. Ich drehe mich überrascht zu Dan um, der sich mit der Hand über die Bartstoppeln fährt. Wir schauen zu, während Calebs Hand ihr Knie massiert.

„Caleb, was zur Hölle machst du da?“, fragt Liz.

„Ich mein doch bloß …“

Liz steht auf. „Zeit, den Zaun abzulaufen. Ich geh Richtung Westen.“ Sie zieht sich die Handschuhe an und greift sich einen Pflock und eine Taschenlampe, ehe sie hastig davonstiefelt.

Dan und ich sitzen mit offenen Mündern da. Caleb schaut zu uns herüber. Die beinahe durchsichtigen blonden Wimpern, die seine runden Augen einrahmen, lassen ihn wie ein Baby aussehen. „Was denn? Ich mag Liz.“

„Cabe“, sagt Dan. „Du bist mehr als zehn Jahre jünger als sie.“

„Na und?“

Dan dreht sich hilfesuchend zu mir um, aber ich zucke nur mit den Schultern. „Na, wird schon passen. Wenn sie dich auch mag.“

„Glaubt ihr denn, sie mag mich?“, fragt Caleb und sieht dabei so hoffnungsvoll aus wie ein Welpe, dem ein Hundekuchen versprochen wurde.

„Schwer zu sagen, Cabe“, antwortet Dan. Er muss sich wirklich bemühen, nicht loszulachen. „Da musst du sie schon selber fragen.“

„Das werd ich auch. Wenn ich zurückkomme.“

Er springt auf und marschiert am Zaun entlang davon. Ich lege meinen Kopf auf den Tisch und stecke mir den Zipfel meines Pullis in den Mund, um mein Gelächter ein wenig zu dämpfen. Als ich wieder einigermaßen Luft bekomme, trocknet sich Dan gerade die Augen und schüttelt den Kopf.

„Ich bin so dankbar, dass ich das miterleben durfte!“, japse ich. „Mein Gott, diese Welt bringt doch wirklich die wundersamsten Paarungen hervor, oder?“

„Da hast du recht“, stimmt mir Dan zu. „Aber vielleicht ist das auch alles Teil des großen Plans: So finden sich die, die von Anfang an zusammenfinden sollten.“

„Dann wäre Adrian hier.“ Er verstummt. Und mir wird bewusst, dass ich gerade zum allerersten Mal seit zwei Monaten Adrians Namen laut ausgesprochen habe. „Tut mir leid. Lass uns das Thema wechseln.“

„Es ist okay, drüber zu sprechen.“

„Ich will nicht. Aber danke“, sage ich. Ein leichter Wind ist aufgekommen, und ich ziehe mir die Ärmel über die Hände.

„Okay, also es mag ein Schuss ins Blaue sein, aber ich glaube irgendwie nicht, dass dein zweiter Vorname wirklich Eiszapfen ist“, bricht Dan das Schweigen. Ich blicke ihn verständnislos an. „Das hast du mal gesagt. Dass dein zweiter Vorname Eiszapfen ist.“

Ich muss lachen. „Nein, mein zweiter Vorname ist Mae. So hieß meine Großmutter mütterlicherseits. Sie ist gestorben, als meine Mutter noch ganz klein war.“

„Cassandra Mae.“

„Oh ja.“ Ich setze meinen besten Appalachen-Akzent auf: „Cassie Mae, sehr erfreut. Meine Mutter war aus West Virginny.“

„Ein hübscher Name für ein hübsches Mädchen.“

Ich lasse den Kopf in den Nacken fallen und stöhne. „Bitte, bitte sag mir, dass du den Spruch nicht bei jeder bringst. Der ist ja furchtbar!“

„Na ja, ein oder zwei Mal hat er schon funktioniert.“ Er lacht. „Dir gegenüber würde ich ihn natürlich nie bringen.“

„Ach, wirklich? Was, meinst du, würde denn bei mir funktionieren?“

Ich höre meinen flirtenden Tonfall. Ich flirte mit Dan. Beinahe fühle ich mich schuldig, aber es bedeutet ja so rein gar nichts. Es ist bloß zum Spaß. Und manchmal ist es auch ganz schön, sich einfach ganz normal zu fühlen.

„Ich versuche schon die ganze Zeit, das herauszufinden.“

Er legt den Kopf leicht schief und mustert mich. Sein Blick treibt mir trotz der Kälte die Wärme in den Körper und die Röte ins Gesicht. Das war eine blöde Idee. Ich hab schon öfter mit Dan geflirtet, aber da war Adrian hier und es konnte ja zu nichts führen. Meine Brust schnürt sich zusammen und ich fummle nervös an der Wasserflasche herum, während sich das Schweigen endlos in die Länge zu ziehen scheint. Der merkwürdige Moment findet sein natürliches Ende, als Liz aus den Schatten an den Tisch tritt und sich auf ihren Stuhl setzt, nachdem sie sich zuerst vergewissert hat, dass Caleb immer noch unterwegs ist.

„Caleb mag dich“, warne ich sie. „Und er will dich fragen, ob du mit ihm gehen willst, also überleg dir ruhig schon mal, was du antworten willst.“

„Was zur Hölle ist denn bloß los mit dem?“, fragt Liz. Sie drückt die Fingerspitzen gegeneinander und blickt uns verzweifelt an. Ich habe sie noch nie so verlegen gesehen.

„Nichts ist los“, sagt Dan. „Du bist einfach eine gute Partie. Schon mal daran gedacht?“

Liz schnaubt.

„Was denn?“, fragt er. „Nicht jeder will immer nur die mädchenhaften Mädchen. Und er würde dir jeden Wunsch von den Augen ablesen. Du könntest ihn herumkommandieren, so viel du willst. Er bittet ja förmlich darum.“

Ich muss lachen, als Dan eine klauenförmige Hand raubkatzenartig vor sich durch die Luft sausen lässt. Liz verbirgt das Gesicht in beiden Händen und stöhnt.

„Hm, jetzt versteh ich auch, warum er dich immer so neckt“, sage ich. „Ja, da ist ein kleiner Altersunterschied, aber …“

„Ich bin einunddreißig und er ist neunzehn!“

„Zwanzig! Ich bin jetzt zwanzig!“, erklingt Calebs Stimme. Er kommt aus dem Wald und sieht zwar ein wenig peinlich berührt, aber entschlossen aus. Er wird sie schon noch weich kriegen.

„Caleb“, sagt Liz und blickt ihn ernst an, „jetzt ist nicht der Moment, das zu besprechen.“

Caleb nickt gehorsam. Dan hat recht gehabt; sie könnte ihren eigenen Lakaien haben, wenn sie wollte.

Ich wechsle das Thema. „Und, wer kommt nächste Woche mit nach Quebec?“

Alle drei nicken. Wir bringen ihnen eine Ladung Samen, da ihre Tomaten von der Dürrfleckenkrankheit befallen worden sind. Und James hat ihnen einen Haufen Elektronik versprochen. Dafür bekommen wir einen Jahresvorrat an Ahornsirup. Im Anschluss geht es Richtung Süden nach Waterbury und Stowe, wo wir etwas elektronische Ausrüstung holen und eventuelle, noch vorhandene Lebensmittelvorräte. Das Getreide gedeiht, aber in der Landwirtschaft gibt es keine Garantien, und wir wollen nicht riskieren, diesen Winter hungern zu müssen.