Ich habe mich endlich dazu durchgerungen, wieder mit dem Kunstunterricht zu beginnen. Ich verspreche Bits andauernd, dass ich es tun werde, und dann verschlafe ich. Sie hat endlich aufgehört, mich anzubetteln, was mir ein noch viel schlechteres Gewissen macht. Aber viel zu tun gibt es sowieso nicht; der ganze Haufen arbeitet an eigenen Comics und Graphic Novels.
„Ich schau mal, ob ich euch nicht ein paar Comics mitbringen kann, wenn ich in ein paar Tagen auf Patrouille gehe“, sage ich zu den Kindern und ignoriere Pennys Starren.
„Und Papier“, erinnert mich Hank aus der Ecke, die er sich mit Bits teilt.
„Aber klar doch.“
Hank dankt mir, aber Bits tut so, als sei ich unsichtbar. Die Erleichterung darüber, dass die Lexer es nicht bis an den Zaun geschafft haben, hatte zunächst mehrere selige Tage ungestörten Schlafs zur Folge, aber glücklich war sie nicht, als sie gehört hat, was am Steinbruch passiert ist. Ich dachte, sie wäre froh, da es ja nun nichts geben wird, wovor sie Angst haben muss. Alles fühlt sich einfach nur noch falsch an zwischen uns, und ich weiß, dass ich schuld bin. Ich habe mich schließlich verändert, nicht sie. Aber was ist besser – eine traurige, ewig weinende Mutterfigur oder eine, die zumindest alles in ihrer Macht Stehende tut, um dich zu beschützen? Scheinbar ist beides scheiße.
Nach dem Unterricht spaziere ich durch den Gemüsegarten, wo ich auf Ana stoße, die sich zwischen den Tomaten versteckt. Sie hat dunkle Ringe unter den Augen, die höchstwahrscheinlich von den ewig langen Diskussionen herrühren, die man jetzt jede Nacht aus dem Nachbarzimmer hört.
„Ach, du auch hier“, sage ich.
„Hilf mir mal hoch.“ Ich reiche ihr die Hand und ziehe sie auf die Füße. Wenn Ana nicht von sich aus durch die Gegend hüpft wie ein Flummi, ist bei ihr eindeutig etwas nicht in Ordnung. „Ich hab versucht, mich den Pflanzen anzuvertrauen, aber ich glaube, sogar die sind wütend auf mich.“
„Himmelherrgott, entschuldige dich halt, dann ist es überstanden. Ich wette, mehr will er doch gar nicht.“
Sie wirft die Hände in die Luft und sieht tatsächlich so aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. „Eben nicht. Er will, dass ich ihm verspreche, dass ich nichts Gefährliches oder Dummes mehr tue. Aber wie kann ich ihm so was versprechen?“
„Ich hab’s Adrian versprochen, und er mir. So verrückt ist das nicht, Banana. Du reißt ein paar ziemlich dämliche Aktionen. Stell dir doch mal vor, du wärst an Peters Stelle. Wie fändest du es, wenn er dauernd so einen Scheiß machen würde?“
„Ja, nicht so gut“, gibt sie zu. Ihre Augen glitzern. „Aber ich bin einfach so viel besser in allem als er!“
Ich lege ihr lachend den Arm um die Schulter. „Weißt du, was Peter noch mehr an dir liebt als deine Bescheidenheit? Deine Furchtlosigkeit. Du hast einfach vor nichts Angst – seien es Zombies, Tomatenpflanzen oder eben ihn von ganzem Herzen zu lieben. Wenn du etwas machst, dann machst du es richtig, und das ist selten. Aber du musst dich manchmal einfach ein kleines bisschen zurücknehmen, weil, ganz ehrlich? Wenn ich Peter wäre, hätte ich dich schon längst umgebracht.“
Sie atmet tief aus. „Okay, ich weiß ja. Und was mach ich jetzt mit Penny? Sie ist so wütend.“
„Da weiß ich auch nicht weiter“, antworte ich. „Sag mir Bescheid, wenn du es herausfindest.“
***
Mein Rucksack ist gepackt, meine Haare sind zu zwei Knoten zusammengebunden und ich bin zu Pennys Zimmer gegangen, um mich von Bits zu verabschieden. Es sieht anders aus, aber als ich eintrete, trifft mich Adrians Duft, der noch immer in der Luft hängt, wie eine Faust mitten ins Gesicht. Ich hebe Fee vom Fußboden auf und verstecke mein Gesicht in ihrem Fell, bis ich mich wieder gefasst habe.
„Hey Bits, ich mach mich langsam auf den Weg. Bekomme ich einen Kuss?“ Sie liegt in ihrem Bett am Fenster und starrt die Decke an. Ich setze mich auf den Bettrand und streiche ihr das Haar hinters Ohr. „Bitte?“
Ihre Lippen werden schmal. „Ich will nicht, dass du fährst.“
„Ich weiß, aber ich muss.“
„Warum? Warum musst du?“
„Da haben wir doch schon so oft drüber gesprochen, Süße. Wir brauchen Lebensmittel und Treibstoff. Wir müssen uns schützen.“
„Du haust immer ab“, murmelt sie. „Du willst ja bloß nicht mit mir zusammen sein.“
Es ist nicht so, dass ich nicht mit ihr zusammen sein will. Ich will nur nicht hier sein. Ich liebe sie genauso sehr wie zuvor, aber ich weiß nicht, wie ich mit ihr so sein kann wie zuvor. Manchmal erscheint mir der Aufwand zu hoch, die Verantwortung zu groß.
„Ich hab dich so, so lieb, Bits. Aber die letzten paar Monate waren hart. Es ist nicht …“
Ihre Augen verengen sich. „Du ignorierst mich andauernd! Du bist so egoistisch. Ich hasse dich!“
Ich versuche noch, mich zu beherrschen, aber die Worte, die ich eindeutig verdient habe, und dieses Zimmer, das mich an alles erinnert, was ich verloren habe, sind der letzte Tropfen, der das Fass endlich überlaufen lässt.
„Ach ja? Woher, meinst du denn, kommen deine Klamotten und die Schuhe? Woher kommen deine Süßigkeiten? Die Kekse, die du so gerne isst, sind mit Zucker gemacht, Bits! Die fallen nicht einfach so vom Himmel, weißt du!“ Meine Stimme wird lauter. So habe ich noch nie mit Bits gesprochen. Ich sollte wirklich aufhören und ich will aufhören, aber ich tu’s nicht. „Warum kannst du mich nicht einmal gehen lassen, ohne ein Riesentheater zu machen? Willst du etwa, dass die Zombies an den Zaun kommen? Willst du das?“
Ihre Augen werden kugelrund und sie dreht sich mit bebenden Schultern zur Wand. Ich will mir selbst den Hintern dafür versohlen, dass ich in zwei Sekunden all das Gute, was ich in den vergangenen Monaten für sie getan habe, zerstört habe.
„Bits, es tut mir leid. Entschuldige bitte, das hätte ich nicht sagen sollen. Okay?“ Ich versuche, ihr einen Kuss zu geben, aber ihr Arm wirbelt herum und trifft mich im Gesicht. Draußen tönt die Hupe des Transporters zweimal.
„Bits, ich muss jetzt los. Bekomme ich bitte eine Umarmung?“
„Nein.“ Ihre Stimme ist belegt. „Ich hasse dich.“
„Okay. Ich kann verstehen, dass du wütend bist, und es tut mir ehrlich leid. Aber ich hab dich lieb.“ Ich drücke ihr einen Kuss auf den Scheitel. Sie reibt ihn mit der Hand wieder weg. „Tschüss“, flüstere ich.
Penny steht mit vor der Brust verschränkten Armen und steinernem Gesicht im Flur. Ich gehe schnurstracks an ihr vorbei und springe die Treppe zur Veranda hinunter. Das Fliegengitter fällt klappernd hinter mir zu.
Penny folgt mir auf den Rasen und bleibt mit den Fäusten in die Hüfte gestemmt stehen. „Cassie!“
„Ich kann jetzt nicht“, versuche ich sie abzuwimmeln.
„Warum? Weil du Zombies killen gehen musst?“
Ihr Tonfall trieft vor Sarkasmus und sie wedelt mit der Hand in der Luft herum, als sei allein diese Idee die abwegigste der Welt. Am liebsten möchte ich ihr eine Ohrfeige verpassen, aber stattdessen verschränke ich die Arme vorm Oberkörper. „Ja, Penny. Genau deswegen.“
„Das ist so ein Schwachsinn, und das weißt du auch. Du redest ja kaum mit mir, wenn du hier bist. Und jetzt schreist du schon Bits an?“
„Ich muss los. Bits lässt mich nicht gehen, ohne dass es Theater gibt. Was soll ich denn deiner Meinung nach tun?“
Penny tritt einen Schritt auf mich zu. „Hm, lass mich mal überlegen. Du könntest hierbleiben? Sie braucht dich, und du flüchtest vor ihr, sobald sich die Gelegenheit bietet. Du meidest sie wie die Pest!“
Das hat gesessen, wahrscheinlich, weil es wahr ist, und ich versuche krampfhaft, mir eine gute Antwort zu überlegen, die vom wirklichen Thema ablenkt. „Die ganze Welt hat die Pest, falls es dir noch nicht aufgefallen ist. Und ich tu, was ich kann, um zu verhindern, dass wir uns alle anstecken!“
„Ach, stimmt ja.“ Penny verdreht die Augen. „Du musst ja die Welt retten. Schon klar. Und meinst du, eine Schachtel Kekse ist es wert, ein kleines Mädchen dafür unglücklich zu machen? Sie will keine Süßigkeiten, sie will dich!“
„Ich sorge dafür, dass sie nicht noch viel unglücklicher wird. Bits hat so viele Menschen um sich, die sich um sie kümmern können. Warum bleibt trotzdem alles an mir hängen?“
Sobald die Worte ausgesprochen sind, fühle ich mich schrecklich. Ich weiß, dass ich Bits in jedem anderen Bereich im Stich lasse. Das Einzige, was ich ihr bieten kann, ist Sicherheit.
„Weil du für sie das bist, was einer Mutter am nächsten kommt“, sagt Penny. Ihre Wangen sind gerötet und ihre Stimme leise, aber genauso gut hätte sie mich anschreien können. „Weißt du eigentlich, dass sie dich den anderen Kindern gegenüber manchmal Mama nennt? Du kannst dir nicht aussuchen, wann du ihre Mutter bist und wann nicht. Du rennst los und tötest Lexer und es ist dir egal, ob du wiederkommst oder nicht. Du bist total lebensmüde.“
Ich zucke mit den Schultern, auch wenn alles, was sie sagt, zu einhundert Prozent stimmt. Die Tatsache, dass Bits mich ihre Mutter nennt, ist wie ein Messer mitten ins Herz. Ich will nichts mehr, als wieder zu ihr reinzugehen, aber dafür bin ich zu stur. „Ich würde es eher lebensschläfrig nennen.“
„Oh, haha. Sehr witzig. Wer bist du – Ana? So einen Scheiß würde ich von meiner Schwester erwarten. Ich weiß, dass sie eines Tages nicht zurückkommt, jeder hier weiß das. Aber was soll ich Bits sagen, wenn du nicht zurückkommst? ‚Sie hat dich geliebt, aber eben nicht genug, um tatsächlich für dich da zu sein‘? Was ist dein Problem?“
„Was mein Problem ist?“, frage ich. „Du bist es doch, die an allem, was ich tu, irgendetwas auszusetzen hat. Ich sehe es in deinem Blick, immer, wenn du mich ansiehst. Tut mir leid, dass du denkst, ich hab alles kaputtgemacht, aber wir können nicht alle so ein Glück haben wie du, weißt du!“
Sie kommt noch ein Stück näher und lacht leise. „Glück? Ernsthaft?“
Okay, scheinbar ist jetzt der Moment für dieses Gespräch. Ich bin mehr als bereit. „Ja, Glück. Du hast James, du hast dein Baby, du unterrichtest in einer kleinen Schule wie eine gottverdammte Pionierin. Als wärst du scheiß Laura Ingalls. Du brauchst dir die Hände nicht schmutzig zu machen. Du brauchst dir um überhaupt nix Sorgen zu machen.“
„Aha.“ Sie zieht das Wort unnatürlich in die Länge.
„Ja. Genau. Dein Leben ist so gut wie normal. Du hast keine Ahnung, wie sich das anfühlt – du hast doch alles. Und weißt du, was ich habe? Ich hab gar nichts.“ Ich halte die Tränen mit aller Macht zurück. Ich werde jetzt bestimmt nicht losheulen. Ich werde ihr auf keinen Fall zeigen, dass sie mich getroffen hat.
„Du hast recht. Ich weiß nicht, wie das ist. Aber du hast nicht nichts. Weißt du eigentlich, wie sich das anfühlt, wenn du so was sagst? Ich verlange doch gar nicht, dass du jetzt auf Krampf glücklich sein musst, aber du könntest zumindest versuchen, am Leben zu bleiben.“
Pennys Augen sind rot geworden und sie wischt sich eine Träne von der Wange. „Glaubst du etwa, ich weiß nicht, dass dieses Baby ein weinender, schreiender Zombiemagnet ist? Ich hab eine Scheißangst, Cass. Ich brauche meine beste Freundin zurück.“
Ich will ja zurück, aber ich finde den Weg einfach nicht. Ich bin so neidisch auf Pennys Zufriedenheit und wütend über ihre Missbilligung. Aber Penny ist schon immer gut darin gewesen, ihre Ängste zu verbergen, und vielleicht ist der Grund für ihre Missbilligung in Wirklichkeit ihre Angst davor, mich zu verlieren. Die Gedanken wirbeln mir wirr und undeutlich durch den Schädel. Jemand ruft meinen Namen, und ich bin dankbar für die Ablenkung.
„Sind wir fertig?“, frage ich. Es klingt viel härter, als es klingen sollte.
Penny seufzt und dreht sich um. „Ja, was auch immer, Cass. Wir sind fertig.“
Ich riskiere einen schnellen Blick über die Schulter, als ich im Transporter sitze, und denke noch, dass ich ihr vielleicht noch zulächle oder winke, aber Penny ist schon wieder im Haus verschwunden.