Die Fahrt nach Quebec dauert beinahe drei Stunden, weil wir uns unterwegs den Weg freiräumen müssen. Besonders die Mautstellen sind komplett zugeparkt und behelfsmäßig mit Absperrungen verstellt. Immerhin sind sie nicht von Lexern überrannt, obwohl wir uns doch hin und wieder mal mit ein paar von ihnen herumschlagen müssen. Sie haben wohl versucht, sich vollständig von Kanada abzuschotten beziehungsweise umgekehrt, aber ganz offensichtlich mit wenig Erfolg. Je weiter wir uns von Kingdom Come entfernen, desto schlechter fühle ich mich. Ich weiß ja, dass ich nicht nichts habe – ich habe Bits. Derzeit mag ich nicht gerade der größte Fan vom Konzept Leben sein, aber wenn ich Bits verlieren würde, glaube ich nicht, dass ich auch nur das kleinste bisschen Kraft aufwenden könnte, um weiterzukämpfen. Dann gäbe es wirklich nichts mehr, für das es sich zu kämpfen lohnt.
Ich sitze auf der Rückbank des Transporters. Auf meinem Bauch liegt ein ungeöffnetes Buch. Dan fährt, während Peter, Toby und Ana mit wachsamen Blicken die Landschaft absuchen. Shawn, Jamie, Liz und Caleb fahren den Pick-up, der den Anhänger zieht. Im Anhänger befinden sich auch unsere Ölfässer, die wir mit Benzin aufzufüllen hoffen, und mit ein wenig Glück können wir den restlichen freien Platz morgen in Stowe und Waterbury mit Lebensmitteln auffüllen. Verlassene Bauernhäuser und überwucherte Felder sausen draußen vorbei, nur hin und wieder von Baumgruppen unterbrochen. Im Vergleich zu Kingdom Come ist es hier nicht sonderlich gebirgig, aber am Horizont verläuft die Landschaft weich und hügelig, und es sieht fast so aus, als habe jemand eine flauschige grüne Decke genommen und sie achtlos über die Erde geworfen.
„Erde an Cassandra“, sagt Peter.
Ich blicke auf. „Was? Sorry.“
Er klettert zu mir auf die Rückbank. „Ich hab gesehen, wie du und Penny euch unterhalten habt. Ihr habt beide nicht gerade glücklich ausgesehen.“
Ich blicke mich im Wagen um, aber die anderen sind gerade mit einer Gruppe von Lexern beschäftigt, die sich in einem Stacheldrahtzaun verfangen haben. „Ach, sie hat mir nur gesagt, was für eine Rabenmutter ich bin.“
Peter sieht so aus, als wolle er protestieren, aber ich nicke nur und lehne den Kopf hinten an der Kopflehne an. „Nein, sie hat ja recht. Ich bin eine Rabenmutter gewesen. Und das Schlimmste ist, dass ich mir selbst eingeredet habe, dass ich irgendwie was ganz Tolles für Bits tue, weil ich sie beschütze, und dass ich ihr übel genommen habe, dass sie so undankbar war. Dabei war ich total egoistisch.“
„Du bist nicht egoistisch. Alles, was du tust, tust du für andere.“
„Nein, du verwechselst mich mit Adrian.“
„Und warum glaubst du, hat er dich so geliebt? Du bist genau wie er.“
Ich weiß, dass das nicht stimmt. So zu sein wie Adrian war mein Ziel, aber ich habe einfach zu viele Macken, und diese verdammte Tendenz, immer alles zu versemmeln. Und dann musste er natürlich das Selbstloseste tun, was ein Mensch für einen anderen tun kann. Er hat es für mich getan, und ich hab’s nicht mal verdient.
„Du bietest immer deine Hilfe an, wenn jemand eine Schicht nicht machen kann oder will – sogar die Wäsche“, sagt Peter. „Und sogar am Scheiße-Waschtag. Du veranstaltest immer einen Riesenzirkus, wenn jemand Geburtstag hat. Du willst, dass alle glücklich sind, und tust, was du kannst, um die Leute zum Lachen zu bringen. Ganz besonders die, die keinen Grund zum Lachen haben.“
Ich zucke mit den Schultern. „Wer macht so was denn nicht?“
„Na, jede Menge Leute machen so was nicht.“
„Du machst es.“
„Ja gut, aber das liegt auch nur daran, dass ich ein ziemlich cooler Typ bin.“
Ich drehe den Kopf zur Seite, nur um mitten in sein breit grinsendes Gesicht zu starren. „Na ja, wie dem auch sei, eine Rabenmutter bin ich trotzdem.“
„Jetzt lass aber mal die Kirche im Dorf, wie John sagen würde. Du hast ein paar ganz schön harte Monate hinter dir. Und du hast dein Bestes gegeben.“
„Nein, habe ich nicht.“ Ich wende den Blick ab und beobachte die vorbeirasenden Bäume. „Das hätte ich sein sollen, da im Wald. Am Zaun. Die Leute brauchen ihn viel mehr als mich.“
„Wie bitte?“
„Ich hab alles kaputtgemacht, was gut war. Adrian hätte das nie gemacht.“
„Adrian wollte, dass du lebst, weil er nicht ohne dich sein wollte“, entgegnet Peter mit einer so entschlossenen Stimme, dass ich mich wieder zu ihm umdrehe. Er sieht beinahe wütend aus. „Du hast gar nichts kaputtgemacht. Du hast einfach nur vergessen, wie man trotzdem weiterlebt. Das war alles, was er wollte – dass du weiterlebst. Glaub mir, ich weiß das.“
Ich denke an den Tag in Bennington, an Peter, der auf den Müllcontainern stand und uns hinterherblickte, als wir ohne ihn davonfuhren. Er hatte glücklich ausgesehen, und er war glücklich gewesen.
„Es fühlt sich einfach falsch an“, flüstere ich. „Wie Verrat.“
Er legt mir einen Arm um die Schulter. „Das weiß ich auch. Aber das ist es nicht. Glaubst du mir das?“
Ich nicke, obwohl ich es ihm noch nicht glaube. Noch nicht so ganz jedenfalls. „Ich habe Bits angeschrien, bevor wir gefahren sind. Hab ihr Angst gemacht. Sie hat sich Sorgen gemacht, und anstatt es besser zu machen, hab ich’s noch viel schlimmer gemacht. Sie hasst mich, und ich kann es ihr nicht verdenken.“
„Nein, das tut sie nicht“, versichert er mir und drückt meine Hand. „Sie liebt dich. Und sie braucht dich, aber du … Na ja, du warst nicht da.“
Es tut weh, ihn das sagen zu hören, aber es ist wahr. Ich muss mir heute jede Menge Wahrheiten anhören, scheint mir. „Na ja, jetzt bin ich jedenfalls wieder da. Das Erste, was ich tue, wenn wir wieder zu Hause sind, ist, mich bei ihr zu entschuldigen.“
Ich will am liebsten sofort umdrehen. Ich will alles wiedergutmachen. Ich weiß noch nicht ganz, wie, aber ich fang jetzt sofort an. Ich lege meinen Kopf auf Peters Schulter und beobachte einen Lexer, der auf einem Feld herumstromert. Die hasse ich noch immer, und daran wird sich auch nie etwas ändern.
„Kann hier eigentlich jemand Französisch?“, fragt Toby. „Oder wie sollen wir verstehen, was die sagen?“
„Toby, du bist doch echt ein Volltrottel“, stöhnt Dan. „Wir haben Funkkontakt mit denen. Wie, meinst du denn, verständigen wir uns da?“
„Oh, ach ja.“
„Ich glaube, wir hätten an der letzten Kreuzung abbiegen müssen“, sagt Ana, die die Karte auf ihrem Schoß studiert.
Dan drosselt die Geschwindigkeit, woraufhin der Pick-up neben uns hält. Shawn lehnt sich aus dem Fenster. „Was ist los?“
„Ich glaube, wir müssen umdrehen. Kriegt ihr das mit Hänger hin?“, fragt Ana.
„Ich kann alles“, antwortet Shawn. „Das solltest du inzwischen wissen.“
Vom Beifahrersitz aus verdreht Jamie die Augen. „Haben wir uns verfahren?“
„Ich denke nicht“, sagt Ana. „Aber die ganzen französischen Straßennamen verwirren mich.“
„Google ist dein Freund!“, ruft Caleb vom Rücksitz.
„Der wird einfach nie alt, Cabe“, sagt Liz trocken.
Die nächste Straße ist gepflastert, und wir folgen ihr entlang eines Sees, der mit einer Konstruktion aus Seilen, Stacheldraht und Holzplanken eingezäunt ist, bis wir die Abfahrt erreichen. Ein kleiner dunkelhaariger Mann Mitte sechzig steht hinter dem mit Vorhängeschloss gesicherten Gittertor.
„Kingdom Come?“, fragt er mit dickem Quebecer Akzent.
Dan nickt, und als der Mann lächelt, verwandelt sich sein breites Gesicht in ein Netzwerk aus feinen Linien und Falten. „Herzlich willkommen! Ich bin Gabriel. Ich bring euch zum Haupthaus.“
Er nickt einem älteren Mann mit Schirmmütze zu, der das Vorhängeschloss öffnet und das Tor aufschwingen lässt. Gabriel steigt auf ein Fahrrad und winkt uns, ihm den unbefestigten Weg hinab zu folgen. Er führt uns durch dicht bewaldetes Gelände, in dem alle hundert Meter oder so eine Lichtung mit einem großen Haus auftaucht. Es sind schöne Häuser; die meisten sind zweigeschossig, haben Veranden, von denen aus man den Seeblick genießen kann. Das Wasser ist spiegelglatt und reflektiert den blauen Himmel und die kleinen Wölkchen.
Angesichts der gestutzten Rasenflächen vor den Häusern können wir nur staunen. Wir haben Unkraut oder Matsch. Das Einzige, was die neue Realität verrät, sind die Gemüsegärten, die Plumpsklos, die ein Stück entfernt vom See gebaut wurden, und die an die Dächer montierten Ofenrohre. Vor einem der Häuser spielen ein paar Kinder mit einem Ball, während ihnen eine Frau auf einem Liegestuhl gähnend zusieht.
Wir passieren vier Häuser, ehe Gabriel anhält und auf ein Steinhaus zeigt, das auf einer Lichtung steht, die so groß ist wie ein kleiner Park. Mehr als ein Dutzend Menschen sitzen an Picknicktischen auf dem Rasen links vorm Haus, und auf der rechten Seite erstreckt sich ein Gemüsegarten, der nur so strotzt vor grünem Leben. Wir kommen auf der runden Auffahrt zum Stehen und treten hinaus in die frische, duftende Luft. Ich liebe Kingdom Come, aber bei uns riecht es nicht annähernd so gut – Nutztiere und ein riesiger Komposthaufen können ganz schön stinken.
Die Leute an den Tischen stehen auf und folgen uns durch die Terrassentür ins Steinhaus. Das Erdgeschoss ist offen und voll mit Tischen und Stühlen, es gibt einen großen Kamin mitten im Raum, gotisch anmutende Fenster und glänzende Holzdielen. Eine große schlanke Frau in Gabriels Alter kommt durch eine Tür zu unserer Linken und trocknet sich die Hände mit einem Handtuch ab. Ihr graues Haar ist zu einem strengen Dutt zusammengebunden, was die markanten Wangenknochen und ihr Gesicht, das zwar vom Alter gezeichnet, aber noch immer ausgesprochen hübsch ist, hervorhebt.
„Hallo! Wir freuen uns so, dass ihr gekommen seid. Mein Name ist Clara.“
„Meine Frau“, ergänzt Gabriel, nicht ohne einen gewissen Stolz.
Die Leute, die uns ins Innere des Hauses gefolgt sind, sitzen an den umliegenden Tischen und warten geduldig, während das Essen hereingebracht wird. Auf Tellern, wie in einem Restaurant. Ein Teller voll mit etwas, das aussieht wie Pommes mit weißen Klecksen darauf, wird von einem lächelnden Teenager vor mir auf den Tisch gestellt. Was auch immer das sein mag – es duftet himmlisch.
„Was ist das denn?“, murmelt Shawn, der neben mir sitzt. „Hat da etwa ein Vogel draufge…“ Jamie rammt ihm den Ellenbogen in die Rippen und er verstummt.
Clara sitzt am Kopfende des Tisches. Glücklicherweise scheint sie nichts gehört zu haben oder sie ist zumindest taktvoll genug, um sich nichts anmerken zu lassen. „Das ist Poutine. Ein beliebtes Gericht hier in Quebec. Pommes frites mit Käsebruch und Bratensauce. Wir dachten, aus den letzten Kartoffeln machen wir etwas Besonderes. Und ihr seid unsere allerersten Gäste.“
Ich habe das Gefühl, eine andere Dimension betreten zu haben. Nicht nur, dass ich gerade bedient wurde wie in einem Restaurant, ich bekam auch noch einen Teller Fritten mit Käse und Sauce. Und plötzlich vermisse ich Penny. Zu Schulzeiten haben wir so manch einen Sonnenaufgang in einem Diner verbracht und kichernd über Fritten mit Käse und Sauce die Ereignisse der vergangenen Nacht diskutiert.
„Bitte, greift zu“, fordert Gabriel uns auf und hebt die Gabel zum Mund.
Die Pommes frites mit Käsebruch und Bratensauce sind reichhaltig und salzig. Das muss Peter zu Hause unbedingt mal für alle nachkochen. Diese Leute hier wissen wirklich, wie man lebt.
„Wo sind eure Tiere?“, frage ich. Ich weiß, dass es welche geben muss, denn woher hätten sie sonst den Käse? Aber dieser Ort ist so sauber, dass man fast glauben könnte, sie hätten ihn einfach so auf die Teller manifestiert.
„Es gibt hier neun Gebäude“, antwortet Gabriel. „Die zwei größten davon haben wir zu Ställen umgebaut. Sie sind am weitesten vom Eingang entfernt, auf der Ostseite des Sees.“
„Das hier ist köstlich“, sagt Jamie mit einem vielsagenden Seitenblick auf Shawn, der eifrig nickt. „Vielen Dank. Esst ihr immer so? Also, mit Kellnerinnen?“
Die Quebecer lachen, auch die an den umliegenden Tischen. „Ach was, nein!“, sagt Clara. „Das ist nur wegen euch. Normalerweise bauen wir im hinteren Teil des Raums ein Buffet auf, wo wir uns dann ums Essen streiten. Im Sommer wird hier gekocht, aber im Winter kocht jedes Haus für sich, zumal da auch geheizt wird.“
Das klingt schon realistischer. Ich hatte langsam schon das Gefühl, hier sei einfach alles viel zu perfekt.
„Hier leben insgesamt neunundachtzig Menschen“, erklärt Gabriel, „aufgeteilt auf die anderen Häuser. Ihr seid in jedem davon willkommen, ihr entscheidet selbst, wo ihr schlafen möchtet. Wir haben zwar keine extra Gästebetten, aber es gibt genug Platz, um es sich auf dem Boden gemütlich zu machen.“
So viele Menschen, verteilt auf sieben Häuser? Das muss eng sein, auch wenn sie groß sind. Aber zumindest haben sie richtige Häuser und keine Großraumzelte wie wir, obwohl Dan größere Hütten entworfen hat, die sich sogar schon in den ersten Stadien des Baus befinden.
„Wir haben Zelte mitgebracht“, sagt Dan. „Wir wollen niemandem zur Last fallen.“
„Quatsch“, entgegnet Clara. „Obwohl es schön sein muss, bei diesem Wetter draußen zu schlafen. Es ist viel kühler.“
Der Tag ist heiß und schwül. Es ist so heiß, dass mir trotz der offenen Fenster das T-Shirt am Rücken klebt. Wer auch immer sich den Vormittag damit um die Ohren geschlagen hat, für uns Pommes zu frittieren, verdient eindeutig eine Medaille. Ich blicke auf den See hinaus und fange beim Gedanken an einen kleinen Badeausflug beinahe an, zu sabbern.
Peter folgt meinem Blick und fragt: „Ist der gesamte See eingezäunt?“
Ein junger Typ Mitte zwanzig mit roten Haaren und Sommersprossen antwortet: „Ja, genau. Wir haben hauptsächlich Seile und Stacheldraht verwendet. Wir wollten nicht, dass das Wasser verunreinigt wird. Wir haben etwa sechseinhalb Kilometer abgezäunt.“ Er spricht nahezu akzentfrei, aber seine kanadische Herkunft ist nicht zu überhören.
„Heißt das, dass wir schwimmen gehen können?“, fragt Ana und wirft begeistert den Kopf in den Nacken, als er nickt. „Okay, mehr brauch ich nicht zu hören. Ich ziehe ein!“
„Wir haben Badeanzüge, die ihr leihen könnt“, sagt Clara und lächelt. „Wie wär’s mit einer kleinen Führung, und dann könnt ihr baden gehen?“