Zum Abendessen gibt es Pasta und frischen Salat. Allem zivilisierten Anschein zum Trotz gehen die Quebecer oft auf Patrouillen und haben es diesen Sommer bis zu den Ausläufern von Montreal und Quebec City geschafft. Sie meinen, genug Lebensmittel für den Winter zu haben, auch wenn die Ernte karg ausfällt. Es kann schon beunruhigend sein, wenn man darüber nachdenkt, wie nah wir immer wieder am sicheren Untergang vorbeischlittern – wir sind Eigenbedarfsbauern, Jäger und Sammler geworden.
Und wenn alles andere schiefgeht, können sie immer noch Ahornsirup trinken. Sie haben uns literweise davon gegeben und haben selbst noch Unmengen übrig. Alice hat uns ihr Met-Rezept überlassen, nachdem sie sich endlich damit abgefunden hat, dass Dan keine Lust hat, den Partylöwen zu spielen. Toby dagegen hat sich bereitwillig breitschlagen lassen, und ist schon vor Stunden grinsend abgeschleppt worden. Die anderen sind mitgegangen. Die Sonne geht unter und aus dem heißen Tag wird innerhalb kürzester Zeit ein kühler, aber schwüler Abend. Ich sitze am See und wärme meine Füße im letzten sonnenbeschienenen Flecken Sand auf, bevor ich zurück zum Steinhaus gehe, wo wir unsere Schlafsäcke auf dem Boden des Speisesaals ausgebreitet haben. Ich mache ein Foto vom See, um ihn Bits zeigen zu können. Vielleicht kann ich sie nächstes Jahr mitbringen, damit sie auch baden gehen kann – falls sie bis dahin wieder mit mir spricht.
„Du bist wie eine Eidechse“, höre ich Dans Stimme hinter mir.
Ich blicke mir über die Schulter und zeige mit dem Finger auf ihn. „Guck, das ist eine gute Anmache. Ich wusste, du kannst dir was Besseres einfallen lassen als ‚ein hübscher Name für ein hübsches Mädchen‘. Es ist zwar nicht gerade schmeichelhaft, aber du kriegst Punkte für Einfallsreichtum.“
Dan lacht. „Ich meine nur, dass du die Sonne aufsaugst wie eine Eidechse.“
„Ach so, ich dachte schon, du willst mir einen Wink mit dem Zaunpfahl geben, dass meine Haut ein bisschen Feuchtigkeitscreme vertragen könnte.“
Er lässt sich in den Stuhl neben mir sinken. „Nee, ach was, du bist perfekt.“
„Es macht dir wirklich Spaß, mich zu belästigen, was?“
„Ich mach dir ein Kompliment, ich belästige dich nicht. Du nimmst mich bloß nicht ernst.“
„Da hast du zur Abwechslung mal recht“, stimme ich ihm zu.
Er öffnet den Mund, schließt ihn aber gleich wieder und beobachtet stattdessen die fluffigen rosa und lachsfarbenen Wolken. Aus dem Partyhaus dringen fröhliche Stimmen.
„Hör mal, was du gerade verpasst“, sage ich.
„Danke, dass du mich gerettet hast. Einen Moment lang dachte ich ernsthaft, du wirfst mich den Wölfen zum Fraß vor.“
„Na, Wölfe kann man die doch kaum nennen. Obwohl ich gehört habe, dass Sofia ziemlich gut mit dem Gewehr ist, also würde ich mich mit der lieber nicht anlegen. Du brauchst sie doch nie wiederzusehen. Und trotzdem sitzt du hier am See wie ein alter Mann, der vergessen hat, wie man Spaß hat.“
„Mit dir hab ich Spaß“, erwidert Dan.
„Oh ja, ich bin eine richtige Spaßbombe. Vielleicht sollte ich da rübergehen und mich betrinken, damit ich endlich mal wieder schlafen kann.“ Ich muss mich selbst ermahnen, dass niemand Lust auf mein Selbstmitleid hat. Das ist Phase eins der nigelnagelneuen Cassie – kein Selbstmitleid mehr. „Tut mir leid. Ich leide an Schlaflosigkeit.“
„Ach, was du nicht sagst, du Knallkopf. Wer macht denn andauernd mit dir Nachtschicht?“
„Mein Vater hat mich immer Knallkopf genannt“, sage ich und lache.
„Meiner auch.“ Er steckt die Hand in die Innentasche seiner Jacke und zieht seinen silbernen Flachmann hervor. „Hier, nimm einen Schluck. Das hilft beim Einschlafen.“
„Aha, der Flachmann! Ich hab mich schon gefragt, warum du den immer mit dir herumträgst. Du trinkst nie daraus.“
„Der ist halt für den Fall der Fälle“, murmelt er und wendet mit zusammengepressten Lippen den Blick ab.
Wie mysteriös. Das klingt jetzt aber doch irgendwie interessant. „Für welchen Fall der Fälle?“
„Falls ich mal so richtig tief in der Scheiße sitze und mir selbst die Kugel geben muss. Ich dachte, wenn ich das vorher runterstürze, ist es vielleicht einfacher.“ Er seufzt, und ich sehe einen Augenblick lang seine locker-flockige Fassade bröckeln.
Ich schüttele langsam den Kopf. „Das ist ja wohl das Deprimierendste, was ich jemals gehört habe. Ich glaube, du bist noch schlimmer dran als ich. Weißt du, was du bist? Du bist der Bernhardiner des Todes.“
Er lacht so laut, dass die Vögel, die am Ufer entlangstaksen und nach Futter suchen, mit wild flatternden Flügeln aufschrecken und davonfliegen. „Was zur Hölle ist denn bitte ein Bernhardiner des Todes?“
„Hast du noch nie von den Schweizer Lawinenhunden gehört? Die hatten immer so ein kleines Fässchen mit Branntwein um den Hals, um im Schnee eingeschlossenen Wanderern das Leben zu retten.“ Er nickt, aber seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen denkt er, ich sei völlig übergeschnappt. „Na ja, ich hab immer gedacht, dass du irgendwie wie so ein Bernhardiner bist mit deinem kleinen Flachmann, aber jetzt weiß ich, dass er gar nicht dazu da ist, jemandem das Leben zu retten, sondern umgekehrt.“
Ich beuge mich zu ihm und tätschle seinen Kopf, als wäre er ein Hund. Nachdem er sich wieder eingekriegt hat und nur noch leise kichert, fragt er: „Was geht da nur in deinem Kopf vor sich?“
„Oh, das willst du gar nicht wissen. Ein verrückter Ort ist das.“
Er reicht mir den Flachmann. Der Schnaps brennt sich seinen Weg durch meine Speiseröhre. Ich wische mir mit dem Handrücken über den Mund und gebe ihm den Flachmann zurück. „Das ist ja furchtbar. Was ist das?“
„Stark ist es. Und das ist das wichtigste.“
„Ja, wenn man sterben will, vielleicht. Aber nicht zum Spaß.“
Dan steht auf. „Bin gleich wieder da.“ Er verschwindet in der Dunkelheit zwischen den Bäumen und taucht fünf Minuten später mit einer Weinflasche wieder auf. „Probier mal. Ahorn-Met.“
Es schmeckt himmlisch, der scharfe Alkohol ist ein angenehmer Kontrast zur Süße. Ich nehme ein paar große Schlucke, bevor ich ihm die Flasche zurückgebe. „Hm, lecker. Danke. Wie konntest du so schnell entkommen?“
„Ich hab gesagt, dass ich in zehn Minuten wiederkomme.“
„Nein! Jetzt warten sie die ganze Nacht auf dich.“
„Ach, die sind besoffen. In zehn Minuten haben sie schon längst vergessen, dass ich jemals da war.“
Ich grinse und verjage eine Mücke und dann noch eine. Die kleinen Biester lassen mich nicht in Ruhe. Ich will noch nicht reingehen, weil es so gemütlich ist mit Dan, aber in einer Stunde würde ich es bereuen, wenn ich mit Mückenstichen übersät bin.
„Ich schlage gleich mein Zelt auf“, sagt Dan. „Wir können doch da abhängen, dann sind wir zumindest vor den Mücken in Sicherheit.“
„Warum schläfst du nicht im Haus?“, frage ich ausweichend, um nicht gleich antworten zu müssen. Irgendwie fühlt es sich komisch an, mit ihm in sein Zelt zu gehen, auch wenn sein Vorschlag nicht im Geringsten wie eine zweideutige Einladung geklungen hat.
„Ich bin eben gern für mich. Schon immer.“
„Ich auch. Die Gelegenheit bietet sich in letzter Zeit nur immer seltener.“ Ich versuche so unauffällig wie möglich, eine Mücke von meinem Arm zu verjagen und gleichzeitig mein Fußgelenk zu kratzen, wo gerade ein neuer Stich zu jucken beginnt.
„Die fressen dich ja bei lebendigem Leib auf“, sagt Dan. „Komm, wir gehen in mein Zelt. Da ist es auch kühler als im Haus. Du kannst bei mir schlafen, wenn du willst.“ Ich blicke mit angehobenen Augenbrauen von meinem Fuß auf. „Na, ich meine natürlich in deinem eigenen Schlafsack.“
Ich muss lachen. „Ich dachte schon, du versuchst, mich ins Liebesnest zu locken.“
„Würde ich ja, aber ich hab so ein Gefühl, dass du sowieso nein sagen würdest.“
„Und schon wieder hast du recht.“ Die Vorstellung, Dan zu küssen, taucht plötzlich in meinem Kopf auf. Einen kurzen Augenblick lang kribbelt es in meinem ganzen Körper, der sich danach sehnt, berührt zu werden, aber ich ersticke die Idee im Keim. Das Einzige, was ich interessant finde, ist die Vorstellung, nicht allein zu sein. „Okay, na gut. Ich hol meinen Schlafsack.“
Ich packe meine Sachen zusammen, während Dan die Küche in Augenschein nimmt. Die anderen sind noch nicht von der Party zurück, was gut ist. So muss ich nichts erklären. Egal, wie unschuldig die Situation auch sein mag – die Witzeleien würden nie ein Ende nehmen. Er hat sein Zelt bei den Picknicktischen aufgestellt, und ich folge ihm hinein, sobald er die kleine Laterne angeschaltet hat. Ein Schlafsack bedeckt den Boden und sein Rucksack steht daneben. Aus der Öffnung lugt ein Buch. Ich setze mich auf den Schlafsack und beobachte, wie er den Met in zwei Tassen gießt, die er offenbar aus der Küche mitgenommen hat.
„Für die Dame“, sagt er und reicht mir eine davon.
„Danke.“
Er zieht die Stiefel aus und stellt sie neben den Eingang. Dann holt er ein selbstaufblasendes Kissen aus dem Rucksack und legt es hinter mir auf den Schlafsack. Dann wühlt er erneut im Rucksack herum und zieht Zahnbürste und Zahnpasta hervor.
„Ah, fast wie zu Hause“, schmunzle ich. Ich gieße mir noch etwas Met ein und stürze ihn hinunter. Er ist ziemlich stark oder ich bin einfach nichts mehr gewöhnt – jedenfalls bin ich schon leicht angesäuselt. Ich lege mich hin und schließe die Augen.
„Schlaf ruhig“, sagt Dan. „Das stört mich nicht. Ich lese noch ein bisschen. Dann bist du nicht alleine.“
Das ist genau das, was ich brauche – das Gefühl, das jemand über mich wacht – und es überrascht mich, dass Dan das versteht. Ich weiß nie, was er denkt. Er ist immer so cool mit allem, so locker, was auch der Grund ist, warum ich in letzter Zeit so viel Zeit mit ihm verbracht habe.
Ich höre die Seiten seines Buches rascheln und öffne die Augen. Es ist Picknick mit Bären . Es ist nicht die gleiche Ausgabe, die ich in meinem Rucksack hatte, als wir vor über einem Jahr Brooklyn verließen, und die mit der Hütte meiner Eltern niederbrannte, aber Adrians Ausgabe ist in der Bibliothek der Farm. Ich versuche, nicht daran zu denken, und sage: „Ich liebe das Buch. Gefällt es dir?“
„Du hattest mir ein anderes von seinen Büchern empfohlen, weißt du noch? Ich find’s richtig gut. Ich kann dir vorlesen, wenn du willst.“
Zähneputzen ist schon längst vergessen. Wenn ich jetzt einschlafe, krieg ich vielleicht sogar mal wieder volle acht Stunden Schlaf. Ich höre zu, wie Dan leise aus Bill Brysons Abenteuern vom Appalachian Trail vorliest, und lache, wenn seine Stimme bei den lustigen Teilen versagt. Adrian und ich wollten immer den Appalachian Trail wandern. Das war eine von den Sachen, die wir unbedingt machen wollten, bevor wir Kinder hätten. Nur wir beide und dreitausend Kilometer weit nichts als Bären, Blasen und Wildnis.
Und dann kriege ich wieder diesen Kloß im Hals. Ich bin es so leid, ihn zu vermissen und mich einsam zu fühlen. Ich konzentriere mich auf die Worte, bis ich wieder normal atmen kann und öffne die Augen. Dan blickt von seinem Buch auf.
„Das Leben gibt es nicht mehr“, sage ich. „Wandern zum Spaß. In Gaststätten essen. Vor nichts Angst haben außer vielleicht einem Schwarzbären.“
„Irgendwann muss es aufhören“, erwidert Dan und legt das Buch zur Seite. „Sie können ja nicht ewig leben.“
„Aber vielleicht sterben wir alle vorher. Einer nach dem anderen.“
Ich will, dass Dan mich überzeugt, dass er recht hat, aber er zuckt nur mit den Schultern. „Wenn du dran bist, bist du dran.“
Na toll, das war wenig hilfreich. Ich schüttele den Kopf und sage: „Ich will aber nicht sterben. Ich will Bits aufwachsen sehen. Ich will Pennys Baby in den Arm nehmen.“
Beides will ich wirklich mit aller Macht. In meiner Brust wird es ganz warm und leicht. Es fühlt sich beinahe an wie Glück.
„Ich will auch so einiges“, sagt Dan. „Aber es gibt für nichts ’ne Garantie. Daran denk ich immer, dann kann ich auch nicht so enttäuscht sein, wenn es nichts wird.“
„Daher auch der Flachmann“ sage ich und setze mich auf. Er lächelt mich verhalten an. „Und, was willst du?“
Ich halte ihm meine Tasse hin und er füllt sie schweigend. Zuerst denke ich, dass er mir nicht antworten wird, aber dann hebt er den Blick und sieht mir direkt in die Augen. Sein Adamsapfel hüpft auf und ab. „Jetzt in diesem Moment will ich dich küssen.“
Die Hitze, die in meinem Bauch zu brodeln beginnt, hat nichts mit dem Met zu tun. Ich will, dass er mich küsst. Dann will ich es wieder nicht. Ich erstarre, die Tasse schwebt noch in der Luft, bis er endlich Mut fasst und sich zu mir vorbeugt. Er schmeckt nach Ahornsirup und riecht nach Seewasser und Leder. Ich überlege einen kurzen Moment lang, mir einfach vorzustellen, er sei Adrian, aber ich denke schon genug an Adrian. Ich will etwas Echtes fühlen.
Dan zieht den Kopf zurück und seine Augen flackern verunsichert. „Bist du …“
Ich unterbreche ihn mit einem weiteren Kuss. Ich will nicht reden. Ich will nichts Sanftes. Ich will den Zauber nicht brechen, denn ich weiß, dass ich dann abhaue. Und ich will nicht abhauen. Ich ziehe sein T-Shirt aus und fahre mit meinen Zähnen über die Sommersprossen auf seiner Schulter. Als ich wieder zu ihm aufblicke, ist das Weiche, das Vorsichtige aus seinen Augen verschwunden. Zum Glück.
Mit einer Hand, und schneller als ich es je könnte, öffnet er den Verschluss meines BHs. Dan hat in seinem Leben schon unzählige BHs geöffnet, möchte ich wetten. Ich lasse meine Zunge über seine Unterlippe gleiten, die noch immer süß nach Met schmeckt, und fahre mit der Hand über seine Brust abwärts, bis ich den Knopf seiner Jeans erreiche. Er atmet schwer, atmet mir in den Mund und legt mich auf den Boden.
Sein Gewicht auf mir fühlt sich gut an. Es erdet mich und nimmt mir dieses Gefühl, dass ich einfach nicht loswerde – als sei ich ein Heliumballon an einer bunten Schnur, wie die, die ich früher als Kind immer auf dem Jahrmarkt bekam. So schnell waren sie einem aus der Hand geglitten, so schnell davongeschwebt. Ich habe sie immer beobachtet, wie sie davonflogen und immer kleiner wurden, nur ein kleiner dunkler Punkt am blauen Himmel, bis sie gänzlich verschwunden waren. Ich habe Angst gehabt, dass ich auf bestem Weg in den Himmel bin, wo mich keiner mehr sehen kann, geschweige denn zu fassen kriegt. Aber jetzt, in diesem Moment, ist meine Schnur fest um Dans Handgelenk gebunden. Ich bin auf der Erde verankert.
Und dann gibt es nur uns zwei. Für Adrian ist kein Platz mehr. Es gibt nur dieses Zelt und Dan und den glatten Nylonstoff des Schlafsacks unter mir, und alles leuchtet golden im warmen Licht der Laterne.