KAPITEL 64

„Ich wünschte, du würdest hierbleiben“, sage ich zu Nelly.

Er streicht sich das Haar aus der Stirn und wirft einen Blick zu Zeke hinüber, der neben dem Laster wartet. „Ich hab drüber nachgedacht, ob ich Adam nicht überreden kann, mit hierherzuziehen.“

Ich schnappe mir seine Hand und hüpfe begeistert auf und ab. „Was? Ernsthaft?“

Er hält mich fest, damit ich aufhöre. „Beruhig dich mal, du. Das heißt noch lange nicht, dass Adam auch ja sagt. Aber Zeke hat heute Morgen beim Frühstück drüber gesprochen, dass es eine gute Idee wäre, die Zonen zu vereinen. Ah, da fällt mir ein – warum hast du dich eigentlich aufs Zweiersofa gequetscht? Ich hab dich gesehen, als ich aufgestanden bin.“

„Na, du hast ja mein ganzes Bett eingenommen.“ Das ist nicht die Antwort, die er hören will, und so schaut er mich weiter erwartungsvoll an. „Es ist vorbei. Kein Ding, okay?“

„Was ist passiert?“

„Du musst los“, sage ich nur und gebe ihm einen freundschaftlichen Knuff in die Seite. „Geh, hol deine Sachen und komm zu mir zurück. Dann reden wir weiter.“

Er tritt zögernd ein paar Schritte zurück. „Na, sofort wird das sowieso nix. Aber noch vorm Winter. Und du bist wirklich okay?“

„Na klar doch“, lüge ich. „Ich hasse dich, sehr.“

„Ich hass dich mehr.“

Mit hüpfendem Herzen schaue ich dem Laster und dem Pick-up hinterher, wie sie die lange Auffahrt hinunterrollen. Nelly kommt zurück.

***

Ich habe meine Nachtwache mit Liz getauscht. Es war nicht einfach, Dan den ganzen Tag aus dem Weg zu gehen, aber irgendwie hab ich es doch geschafft, indem ich mich im Gemüsegarten versteckt und Tomaten gepflückt habe und zum Abendessen in die Hütte gegangen bin. Jetzt sitze ich mit George, einem älteren Mann mit dünn werdendem Haar und einem kleinen Bierbauch, der in diesen Zeiten kaum vom Bier herrühren kann, am Ost-Zaun.

„Vor kurzem hatte ich totale Kreislaufprobleme“, sagt George. „Ich konnte nur im Dreieck laufen.“

Ich lache, auch wenn es der schlechteste Witz aller Zeiten ist. Die letzten dreißig Minuten hat er mich mit seinen Flachwitzen unterhalten.

„Oh, ich weiß auch einen. Mein Lieblingswitz“, sage ich. „Klopf, klopf.“

„Wer da?“

„Unterbrechende Kuh.“

„Unterbrechend…“

„Muh!“, sage ich leise.

George gluckst. Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und trommle mit den Fingern auf den Armlehnen. Die Wache ist langweilig, aber ich habe keine Lust, meine neue Schlafsituation auf die Probe zu stellen.

Dann erscheint Dan im Licht der Laterne. „Hi.“

Ich murmle einen Gruß und wende den Blick ab. Mein Herz pumpt. Er und George unterhalten sich ein paar Minuten lang, ehe Dan mich ansieht. „Kann ich kurz mit dir reden?“

„Na ja, ich schiebe gerade Wache. Da kann ich nicht so einfach weg.“

„Ach, schon gut, geh“, sagt George. „Ich halte so lange die Stellung. Der Graben hat die Nachtwache sowieso beinahe obsolet gemacht – aber ich will mich nicht beklagen. Ich denk mir derweilen neue Witze aus.“

„Danke“, sage ich, obwohl ich ihm am liebsten meinen Pflock über den Schädel hauen würde.

„Wir sind in der Schule, wenn du uns brauchst“, sagt Dan.

Ich folge ihm zu dem kleinen Gebäude. Er macht eine Lampe an und dreht sich zu mir um. „Was ist los?“

„Was ist los?“, wiederhole ich. „Du wolltest doch reden.“

Ich weiche seinem Blick aus und starre die Kunstprojekte an, die in der Leseecke an der Wand hängen. Die Selbstporträts sind richtig gut geworden. Bits hat sich in Anas Klamotten gemalt, aber sie trägt auch ein Diadem und Feenflügel.

„Du bist letzte Nacht verschwunden“, sagt er.

„Das tu ich doch immer.“

„Ja, aber du nimmst nicht immer deine Zahnbürste mit und gehst mir danach den ganzen Tag aus dem Weg.“

„Na ja, drei Wochen sind um“, sage ich mit aufgesetzt leichter Stimme, obwohl dieser Moment alles andere als lustig ist.

Er sieht mich verständnislos an, aber dann versteht er, was ich meine, und wird ganz steif. „Ich hab dich aber nicht gebeten, zu gehen. Und wenn ich ganz ehrlich bin, will ich auch gar nicht, dass du gehst. Also, was ist los?“

„Ich denke einfach, es ist besser, wenn wir uns nicht mehr sehen“, antworte ich. „Ich brauche ein bisschen Zeit für mich.“

Meine Finger spielen mit irgendwelchen Papieren auf Pennys Lehrertisch. Dan kommt auf mich zu und berührt meinen Arm. „Vielleicht kann ich helfen. Ich will nicht, dass wir uns nicht mehr sehen. Sprich mit mir.“

Ich muss es ihm sagen. Ich atme tief ein. „Ich hab gehört, was du gesagt hast. Letzte Nacht, als du ins Bett gekommen bist.“

Er starrt seine Stiefel an, ehe er den Kopf hebt und mir direkt in die Augen sieht. „Es stimmt aber.“

„Das geht aber nicht. Wir sind doch erst seit ein paar Wochen …“

„Ich kenn dich seit letztem Sommer.“

„Aber darum geht es doch gar nicht bei dieser … Sache zwischen uns“, entgegne ich.

„Und worum geht es dann? Benutzt du mich nur als Schlaftablette, oder was? Na, vielen Dank auch.“

Seine Stimme trieft vor Sarkasmus und sein Mund wird zu einer geraden, harten Linie. Ich dachte, wir verstehen uns. Ich dachte, die Regeln sind klar. Aber jetzt hat er die Regeln geändert, ohne mir Bescheid zu geben, und dann will er auch noch, dass ich mich deswegen schuldig fühle. Und das Letzte, was ich in meinem Leben brauche, sind noch mehr Schuldgefühle.

Ich lache freudlos. „Ich benutze dich? Das ist doch deine Masche. Was bin ich – Nummer vier, sechs, acht?“

Sein Gesicht ist rot geworden, aber er atmet tief ein und sagt dann: „Das ist doch völlig egal. Du bist die, die ich will.“

„Ich hab dir gesagt, dass ich das nicht kann. Dass ich nicht bereit bin. Du hast gesagt, dass wir einfach nur Spaß haben. Zusammen abhängen.“

„Ich hab gelogen, okay?“ Er blickt mich mit glasigen Augen lange an, ehe er den Blick senkt. „Ich hab gelogen, weil ich dachte, dass du vielleicht Gefühle für mich entwickelst, aber du bist ja nicht mal bereit, es zu versuchen.“

„Ich will’s nicht versuchen? Gefühle sollte man nicht versuchen, zu entwickeln. Die sind entweder da oder eben nicht.“

„Du erlaubst dir aber gar keine Gefühle. Sobald wir uns ein bisschen zu nahe kommen, verschließt du dich vor mir. Ich kann sehen, wenn es passiert.“

Er versucht, mich mit Argumenten dazu zu bringen, es mir anders zu überlegen, aber das wird nicht funktionieren. Ich weiß nicht, warum er mich nicht einfach in Ruhe lässt. Natürlich verschließe ich mich davor, Gefühle für einen anderen Mann zu entwickeln; die Person, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen wollte, ist gerade mal vor ein paar Monaten gestorben, und all meine Gefühle mit ihm. Ich bin wütend auf Dan, weil er mich so in die Ecke drängt, aber gleichzeitig tut er mir auch leid mit seinem schmerzerfüllten Blick, der meine Schuld ist.

„Ich mag dich, und ich will dir nicht wehtun, aber ich fühle einfach nicht dasselbe. Und das hat nichts mit dir zu tun. Ich kann nie wieder so für jemanden fühlen. Und deswegen denke ich, dass wir das Ganze hier abbrechen sollten.“

„Okay, na gut.“ Er lacht, aber seine Augen sind traurig. Dann dreht er sich um und geht zur Tür. Ich atme erleichtert auf, dass es endlich vorbei ist, aber dann dreht er sich doch noch mal um. „Bist du dir wirklich sicher?“

Warum quält er sich? Uns? „Ja“, flüstere ich.

Er schlägt die Tür hinter sich zu. Ich sage doch nur die Wahrheit. Er hat mir die Wahrheit quasi abgezwungen. Und auch wenn ich weiß, dass es das Richtige war, frage ich mich, wie glücklich es mich wohl machen wird, für den Rest meines Lebens mit einem Geist zu schlafen.