Ich muss Dan nicht mehr aus dem Weg gehen, denn das übernimmt er jetzt selbst. Sein Name ist vom Wachplan verschwunden und dort aufgetaucht, wo ich nie Schichten übernehme. Es verletzt mich irgendwie, was verrückt ist, wenn man bedenkt, dass ich ja auch gar nicht mit ihm zusammenarbeiten möchte. Aber die Tatsache, dass er sich absichtlich von mir fernhält, fühlt sich nicht schön an. Er isst später zu Abend und setzt sich auch an einen anderen Tisch. Mir war gar nicht klar, wie sehr ich mich an ihn gewöhnt habe, wie sehr er Teil von meinem Alltag geworden ist. Bis jetzt, jedenfalls.
Die letzte Woche hatte ich sowieso nicht oft Nachtwache. Calebs und Tobys Tod hat uns vorsichtiger werden lassen, hat uns Angst gemacht. Bis auf einen kurzen Ausflug, um Holzbohlen und Blaubeeren von einem der verlassenen Bauernhöfe zu holen, haben wir keine Patrouillen gemacht. Wir haben mehr als genug Treibstoff, und der Garten will gezähmt werden, und so habe ich den Großteil meiner Arbeitszeit damit verbracht, das Obst und Gemüse, das wir nicht essen, haltbar zu machen.
Meine Finger sind lila gefärbt, weil ich die letzten zwei Tage nur Blaubeermarmelade gemacht habe. Wir haben zwei Herde auf dem Kies hinter dem Restaurant aufgestellt, und ich stehe an dem einen und rühre die Blaubeermasse. Es ist schweißtreibende Arbeit, aber immerhin sind wir an der frischen Luft und nicht in der stickigen Küche.
„Wir haben kein Pektin mehr“, erkläre ich Meghan. „Also musste du die Früchte länger kochen, damit die Marmelade im Glas fest wird. Oder wir könnten ein paar Äpfel mit reintun, wenn wir wollen. Die enthalten von Natur aus viel Pektin.“
Meghan wackelt mit dem Kopf und hebt ihren Löffel, um zu kontrollieren, wie dickflüssig die Masse in ihrem Topf ist. „Ich glaube, das braucht noch ein bisschen.“
„Ja, ein paar Minuten vielleicht.“
Sie wirft mir aus dem Augenwinkel einen vorsichtigen Blick zu. „Kann ich dich mal was fragen?“
Ich nicke, aber mir gefällt ihr Gesichtsausdruck nicht. Es ist der Gesichtsausdruck von jemandem, der einem gleich eine ganz persönliche Frage stellt.
„Du und Dan … seid ihr eigentlich noch zusammen?“, fragt sie.
„Nee“, antworte ich und schlage mit dem Löffel auf den Topfrand.
„Ah, ich dachte nur. Du weißt ja, dass wir eine Weile zusammen waren, oder?“ Sie kichert. Ich hoffe inständig, dass sie endlich zu Potte kommt. Wenn nicht, riskiert sie gleich einen tiefen Blick ins Innere meines Kochtopfs. „Na ja, ich dachte, vielleicht versuchen wir es ja noch mal. Aber ich wollte nicht dazwischenfunken, falls …“
„Er gehört dir“, sage ich, ein bisschen zu fröhlich.
Tatsächlich ist es mir während der letzten Woche gelungen, zu schlafen, aber es ist nicht so schön und erholsam, wie wenn da jemand neben einem liegt. Und vielleicht auch nicht bloß irgendjemand – es ist schön, neben Dan zu schlafen. Ich vermisse ihn, aber ich habe nicht gelogen, als ich sagte, dass ich ihn nicht liebe. Für diese Art von Liebe bin ich derzeit einfach nicht bereit. Überhaupt hätte ich mich nie auf so was einlassen sollen.
„Ich glaube, sie ist fertig“, urteilt Meghan, als die Marmelade dickflüssig genug am Löffel hängt. Ich zeige ihr, wie man sie in die Gläser füllt und im Einkochtopf platziert.
„Jetzt warten wir“, sage ich. „Dann holen wir sie raus und – tada – Marmelade.“
Ana kommt auf uns zu. Sie trägt ihren schlabberigen Gärtnerhut und ein Sommerkleid. Wären ihre dreckigen Arme nicht, könnte man fast annehmen, sie sei auf dem Weg zu einer schicken Gartenparty. Normalerweise würde ich mich als Allererstes über ihr Outfit lustig machen, aber ihr Gesicht ist angespannt. „Noch eine Sicherheitszone ist weg. John hat es gerade gehört.“
„Welche?“, frage ich.
„Iowa.“
Ich visualisiere kurz eine Landkarte der Vereinigten Staaten. „Das liegt nördlich. Vielleicht ziehen sie ja wirklich nach Norden, wie James gesagt hat.“
„Ja, aber dieses Mal haben sie sich per Funk gemeldet. Sie haben wohl irgendwas von einer riesigen Herde gesagt, bevor das Signal verschwunden ist.“
„Haben sie gesagt, wie groß genau?“
„Nein“, antwortet Ana. „Aber wer auch immer in Whitefield am Funkgerät gesessen hat, hat wohl noch ‚tausend‘ oder ‚Tausende‘ gehört, aber die Verbindung war schlecht.“
Mein Kiefer fällt herunter. Tausend. Vielleicht sogar Tausende – Plural. Unser kleiner Graben könnte die nie alle auffangen. Der Zaun würde mit ziemlicher Sicherheit kollabieren. Plötzlich ist mir eiskalt, trotz Herd und Marmelade und Sommerhitze.
„Was bedeutet das?“, fragt Meghan. Sie greift nach Anas Handgelenk. „Wir sind hier doch sicher, oder?“
Ana tätschelt Meghans Hand. „Meghan, wir sind niemals sicher. Niemals.“
***
James hat versucht, zu kalkulieren, wo die Herde sich jetzt gerade befinden könnte, auf der Grundlage der Zeit, die sie für den Weg zur Zone in Iowa gebraucht haben. „Sie haben etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt, wenn sie denn auf dem Weg hierher sind. Ich würde Dwayne noch nicht losschicken, nicht mit seiner Reichweite von knapp tausend Kilometern. Nächste Woche vielleicht.“
John und Ben nicken. Das Abendessen ist vorbei, und alle Erwachsenen, die am Gespräch teilhaben wollten, sind geblieben. Es ist so voll, dass die meisten stehen müssen.
Mikayla sitzt neben Ben und hat die Hände still im Schoß gefaltet. Ich glaube nicht, dass ich sie jemals so ruhig erlebt habe. „Aber das bedeutet immer noch nicht mit Sicherheit, dass sie wirklich hierher unterwegs sind, oder?“
James schüttelt den Kopf. „Wir wissen nichts mit Gewissheit. Außer, dass Iowa überrannt wurde und dass sie gesagt haben, es seien viele Lexer. Das ist alles.“
Die Leute murmeln aufgeregt. Josephine hält sich mit verkrampfter Hand den Hals. Mein Blick fällt auf Dan, der neben Meghan steht. Er starrt mich an und schaut weg, gerade in dem Moment, als ich ihn anlächeln will.
„Außer abwarten und Tee trinken können wir wirklich nichts tun“, meint John. „Und wir haben einen Plan für den Ernstfall. Ihr habt alle einen Notfallrucksack in eurem euch zugeteilten Fahrzeug deponiert. Wenn nicht, sprecht mich nachher an. Der Plan ist, Richtung Norden durch Kanada abzuhauen, nach Alaska oder Whitehorse. Nur, um das noch mal gesagt zu haben. Für den Fall, dass wir uns auf dem Weg verlieren.“
Johns Stimme ist fest, was das Gemurmel ein wenig verklingen lässt. Ich bin nicht die Einzige, die sich durch seine ruhige Art gleich viel sicherer fühlt. Nachdem noch ein paar Fragen geklärt wurden, auf die es keine guten Antworten gibt, gehen alle ins Bett. Wir treten hinaus in die Nacht. Die Tatsache, dass wir nicht sehen können, was da draußen hinterm Zaun lauert, ist schon schlimm genug. Aber das Thema des Abends lässt die Nacht noch dunkler und gruseliger erscheinen als sonst. James hat seine Hand auf Pennys Kreuz gelegt und geht neben ihr her. Sie weicht zur Seite aus und starrt ihn genervt an.
„Ich kann schon selbst laufen“, fährt sie ihn an. James hebt beschwichtigend die Hände. „Tut mir leid. Leute, ich hab echt Schiss. Was, wenn die wirklich hierherkommen? Ich kann nicht wegrennen. Ich bin so breit wie ein kleines Haus, und ich werde ja nicht gerade schmaler.“
„Du brauchst nicht wegzurennen“, sagt Ana und legt ihrer Schwester den Arm um die Schulter. „Wir bringen dich hier weg. Ich bring dich hier weg. Dich und meine kleine Nichte. James, du schaffst das auch alleine, oder?“
James lacht. „Kein Problem.“
„Oh Gott, was ist bloß aus der Welt geworden?“, fragt Penny. „Meine kleine Göre von Schwester muss mich vor Zombies beschützen.“ Sie ignoriert Anas Protestrufe und holt mich an ihre andere Seite.
„Die Tatsache allein, dass Ana dich überhaupt vor irgendetwas anderem beschützt als schlecht sitzenden Klamotten, ist schon unglaublich“, sage ich.
Wir kichern, als Ana empört aufschreit. So haben wir sie immer geärgert, seit sie ganz klein war. Ich zupfe an ihrem Haar, und sie stimmt in unser Gelächter mit ein. Ich habe vielleicht keinen Bruder mehr, aber was für ein Glück, dass ich meine Schwestern noch habe.