KAPITEL 67

Am nächsten Morgen werden wir von lautem Rufen und Schritten vor dem Zelt geweckt. Wir folgen der Menge, die aufgebracht in Richtung Obstgarten läuft. Und dann höre ich die Lexer, noch bevor ich sie sehen kann – eine Kakophonie des Stöhnens, Zischens und Grunzens, gefolgt von dumpfen Schlägen. Um die hundert müssen bereits im Graben gefangen sein, und ein paar Hundert mehr sind noch auf dem Weg. Sie schlurfen vorwärts und fallen hinein, stehen auf, stolpern verwirrt im Loch herum und suchen nach einem Ausweg.

Gott sei Dank haben wir den Graben. Wenn sich dreihundert Lexer auf eine Stelle des Zauns stürzen würden, hätten wir nie genug Zeit, um sie alle zu töten, ehe der Zaun einstürzt. Der Graben ist unsere Rettung, aber die ganzen Lexer nachher umzubringen, wird eine ganz schöne Sauerei. Ich denke sehnsüchtig an all die Dinge, die ich für meinen freien Nachmittag geplant hatte. Den kann ich mir jetzt abschminken.

„Wow“, staunt Bits, die irgendwie neben mir aufgetaucht ist, und nimmt meine Hand. „Das sind ja viele Lexer.“

„Bits, geh sofort zurück zur Schule!“, sage ich. „Warum bist du hier?“

„Ich musste auf Klo. Und dann wollte ich sehen, was hier los ist.“

„Okay, jetzt hast du’s gesehen. So, und jetzt gehen wir aber zurück.“

Sie baut sich breitbeinig vor mir auf und starrt weiter die Lexer an. Aber sie sieht interessiert aus, nicht verängstigt. „Warte noch kurz. Ich kriege gerade ein paar richtig gute Ideen für den Comic.“

„Bits, so sehr ich es liebe, wenn die Kunst das wahre Leben imitiert – du solltest wirklich nicht hier sein.“

Dan greift sich Bits und schwingt sie im Kreis. „Ab in die Schule mit dir, Kleine.“

Ihr perlendes Lachen lockt die Lexer in unsere Richtung und lässt sie aufheulen. Und obwohl sie knapp zehn Meter hinter dem Zaun in einem Loch in der Erde stecken, wird ihr Gesicht eine Nuance blasser. Ich kann das nur gutheißen – ein kleines bisschen Angst kann nicht schaden. Toby und Caleb hatten keine Angst, und was ist aus ihnen geworden?

„Okay“, sagt Bits. „Aber ich will, dass Dan mich bringt.“

Sie klimpert ihn mit ihren großen blauen Augen an, woraufhin er ihr sein charmantestes Lächeln schenkt. Und ich könnte schwören, dass sie ein bisschen dahinschmilzt. Aber das ist mir auch egal, solange sie dadurch vom Zaun verschwindet. Wir bringen sie zur Schule, und dann bringt Dan mich zu meiner Hütte.

„Gestern Abend hat Spaß gemacht“, sage ich. „Danke.“

„Ja, ich hatte auch Spaß. Schön, dass du geblieben bist.“

„Finde ich auch. Jetzt aber auf in die Schlacht. Bis gleich!“

Dan stöhnt und geht dann lachend davon.

***

Ein paar Vorteile hat es ja schon, wenn man den ganzen Nachmittag damit verbringt, dreihundert Lexer zu töten. Erstens gibt es danach dreihundert Lexer weniger auf der Welt. Und zweitens wächst auf fast allen von ihnen dieses schwarze Moos. Die meisten haben nur ein paar kleine Flecken, aber einige sind zur Hälfte damit bedeckt, und ein paar wenige kriechen über die Erde wie Schnecken. Sie hinterlassen sogar eine schleimige Spur aus Leichenflüssigkeit. Diese Gestalten sind am leichtesten zu erledigen; man braucht kaum Kraft aufwenden; sie zerfallen einfach wie Pulled Pork.

Ein paar Leute schießen mit Pfeilen auf sie, aber hier gibt es niemanden, der wirklich gut im Bogenschießen ist, und so prallen die meisten Pfeile an Schädeln ab und landen auf der Erde. Die Bolzen für die Armbrüste, die wir haben, sind kürzer, was es schwieriger macht, sie aus einer Schädelhöhle herauszuziehen, um sie sauberzumachen und wiederzuverwenden. Ana und ich sitzen nah genug an der Kante des Grabens, um ihnen die längeren Pflöcke in die Augenhöhlen zu stoßen. Nach zwanzig ist es Routine. Nach vierzig ist mein Arm taub und wegen des Gestanks habe ich einen fauligen Geschmack im Mund. Nach einer halben Unendlichkeit liegen sie endlich alle leblos im Graben. Wir lehnen uns an den Zaun und leeren gierig unsere Wasserflaschen.

„Was machen wir mit den ganzen Leichen?“, frage ich John.

„Wir bringen sie zum Feld, wie sonst auch“, sagt John. „Aber wir brauchen wohl bald ein neues, so wie sich die Dinge entwickeln.“

Hier können sie auf keinen Fall bleiben. Sie nehmen zu viel Platz weg, und sie stinken zum Himmel. Und das wird bestimmt nicht besser, bevor es viel, viel schlimmer wird. Ich ziehe mir die Handschuhe wieder an. Der Graben umfasst nicht die gesamte Farm; Gebiete wie die Auffahrt ab dem ersten Tor und noch ein paar andere Flaschenhälse sind ausgespart worden, damit landwirtschaftliche Maschinen und schwere Fahrzeuge passieren können. Und an einer dieser Aussparungen senken wir jetzt gerade eine metallene Rampe in den Graben, damit John mit dem ersten Anhänger hinunterfahren kann.

Obwohl wir jeden einzelnen unserer Pick-ups benutzen, ist es fast dunkel, bis wir endlich alle Lexer abtransportiert und auf das Feld geworfen haben, das unser Friedhof ist. Meine Muskeln schmerzen vom schweren Tragen der toten Körper. Ich lehne meinen Kopf an der Nackenstütze des Beifahrersitzes an und schließe die Augen.

„Ich kann mir fast denken, dass du heute Abend nicht in Kniffel-Laune bist“, sagt Dan, nachdem wir das letzte Mal durchs Tor gefahren sind.

„Muss duschen. Und schlafen. Und sichergehen, dass Bits okay ist. Ich glaub, ich möchte heute Nacht bei ihr bleiben.“

„Ja, na klar“, sagt er, aber ich höre seiner Stimme an, dass er enttäuscht ist.

Dan muss zurück in sein leeres, einsames Zelt, während auf mich eine Hütte voller Wärme und guter Gesellschaft wartet. Er hat Freunde, aber nicht solche wie ich – Freunde, die ich schon vor all dem hier kannte, die ich um mich haben wollte, selbst wenn das Ende der Welt uns nicht dazu verdonnert hätte. Ich habe ihn eine Armlänge von alledem ferngehalten. Aber wenn wir richtige Freunde werden wollen, muss ich ihn mit einbeziehen.

„Hey, warum kommst du nicht noch mit zur Hütte? Du kannst Bits unterhalten, während ich dusche. Ich hab Ana und Peter gesagt, dass ich was zu essen aus der Küche hole. Mikayla hat uns was vom Abendessen aufgehoben.“

Er parkt den Pick-up. Irgendjemand wird sich um die Reinigung der Fahrzeuge kümmern, aber nicht wir; wir haben für heute mehr als genug getan. „Ich mach mich kurz frisch und bin in zehn Minuten da.“

Als ich geduscht habe und mit Schüsseln voller Nudeln und Brot zurückkomme, sind Dan und Bits tief in ein Gespräch vertieft. Fee sitzt auf seinem Schoß und drückt ihren kleinen Kopf gegen seine Hand, während er die magische Stelle hinter ihrem Ohr krault. Ana und Peter sitzen auf dem Zweiersofa und werfen mir amüsierte Blicke zu.

„Cassie“, sagt Bits stirnrunzelnd. „Dan meint, dass du ihn nicht magst.“

Ich stelle das Essen auf dem Tisch ab. „Was? Quatsch. Natürlich mag ich Dan.“

„Nein, also, dass du ihn nicht lieb hast. Ich hab ihn gefragt, wen er mag, und er hat gesagt, dass er dich mag. Und dass du ihn nicht magst, was aber okay ist, weil ihr ja Freunde seid.“

Meine eigenen Worte werden gegen mich verwendet. Als Nächstes fragt sie uns wahrscheinlich, wie weit wir gegangen sind, was wir schon gemacht haben. Dan steht auf und hilft mir dabei, das Essen auf Teller zu verteilen.

„Sie hat gefragt“, sagt er. „Und man soll doch nicht lügen.“ Normalerweise wäre ich stinksauer, dass er Bits mit in unsere Angelegenheiten hineinzieht, aber Dan macht es einem nicht leicht, wütend auf ihn zu sein.

„Tja, jetzt, wo du so bereitwillig die erste Frage beantwortet hast, mach dich gefasst aufs Kreuzverhör“, warne ich ihn. „Das hast du jetzt davon.“

„Lass sie fragen. Ich bin bereit.“

Ana steckt sich eine Gabel voll Nudeln in den Mund und stellt fest: „Da ist ja Schinken drin. Wen essen wir heute?“

„Gus“, antworte ich.

Sie stellt ihre Schüssel auf dem Tisch ab und verzieht das Gesicht. „Ich mochte Gus. Er war so süß.“

„Ana will nichts mit dem Schlachten zu tun haben“, erklärt Peter Dan. „Sie weint jedes Mal, wenn sie eins der Tiere töten.“

„Ich weine überhaupt nicht!“

„Genau, sie schwitzt nur aus den Augen“, witzele ich. „Wenn geschlachtet wird, findest du Ana am anderen Ende der Farm, mit den Fingern in den Ohren und laut singend.“

„Wer hätte gedacht, dass unser Zombiekiller Nummer eins eine sensible Seite hat?“, sagt Dan. Ana lächelt und beißt in ein Stück Brot.

Bits schiebt sich Nudeln in den Mund und grinst. „Hm, Gus!“

„Bits hingegen hat absolut gar kein Problem damit“, sagt Peter.

Ich nehme einen Bissen; Gus ist wirklich lecker. Dan lehnt sich mit der Schüssel in der Hand auf dem Stuhl zurück. Er scheint sich wohlzufühlen. Er lässt ein Stück Schinken für Barnaby fallen, der es sofort verschlingt, und gibt auch Fee eins.

„Magst du lieber Hunde oder Katzen?“, fragt Bits ihn.

„Beides. Ich mag Katzen, weil sie unkompliziert sind, aber Persönlichkeit haben. Und ich mag Hunde, weil sie trottelig und loyal sind.“

„Barny ist so trottelig“, sagt Bits und streichelt ihm mit dem nackten Fuß den Rücken. „Aber wir haben ihn trotzdem lieb. Was ist deine Lieblingsfarbe?“

„Grün.“

„Was ist das Schlimmste, was dir je passiert ist? Also, außer Zombies natürlich.“

Dan schaut mich an. „Du hattest ja wirklich recht. Ähm, als meine Tante gestorben ist.“

„Und das Beste?“

„Als ich sieben war und mein Bruder mir beim Rumtoben das Schlüsselbein gebrochen hat.“

„Was?“, fragt Bits und reißt die Augen auf. „Wie kann das denn bitte das Beste sein, was dir je passiert ist?“

„Na ja, ich war im Baseballverein und musste am Wochenende immer zu irgendwelchen Spielen und zum Training. Ich hab gern Baseball gespielt, aber mein Bruder konnte am Wochenende immer zu Hause bleiben und Zeichentrickfilme gucken.“

„Warum musste er nicht Baseball spielen?“, fragt Bits.

„Weil Mike schon älter war. Er hatte schon ein paar Jahre gespielt. Na, jedenfalls wurde mein Vater am selben Wochenende, an dem das größte Baseballturnier meiner Mannschaft stattfinden sollte, ins Fenway-Park-Stadion eingeladen, bevor es aufmachte. Das ist das Stadion der Red Sox.“

„Weiß ich“, erwidert Bits. „Mein Papa war ein Red-Sox-Fan.“

„Ich wusste gleich, dass du mir gefällst“, sagt Dan und Bits grinst. „Na ja, statt Mike durfte ich mit, weil ich ja ein gebrochenes Schlüsselbein hatte und nicht zu meinem Turnier konnte. Es war ganz früh am Morgen. Und ich durfte aufs Spielfeld. Das war das Schönste, was ich je gesehen habe. Ich hab sogar das grüne Monster berührt.“

Bits und Peter nicken andächtig, als wüssten sie, wovon er spricht. Für mich klingt das irgendwie unanständig, also frage ich: „Was zur Hölle ist das grüne Monster und warum wolltest du es unbedingt anfassen?“

„Die Anzeigetafel“, sagt Dan. „Das ist eine riesige Holzwand, die grün angestrichen ist. Die Punkte werden immer noch per Hand aufgehängt. Das ist so cool. Das war einer der besten Tage meines Lebens.“

Ich schüttele den Kopf. „Die Anzeigetafel hat einen Namen? Wer gibt einer Anzeigetafel einen Namen? Sport. Daraus werde ich nie schlau werden.“

„Wie viele Jahre hast du noch mal den Superbowl geguckt, bevor dir endlich aufgefallen ist, dass das Spiel nicht immer in der Mitte des Spielfelds beginnt?“, fragt Peter. Er war selbst nie ein großer Sport-Fan, aber nachdem ich das endlich raushatte, konnte er die ganze Nacht nicht aufhören zu lachen.

„Achtundzwanzig“, antworte ich stolz. „Und das liegt auch nur daran, dass der Superbowl für mich einfach ein guter Anlass zum Essen und Trinken ist, wo zufällig dauernd so ein nerviger Lärm im Fernsehen läuft.“

„Das überrascht mich nicht im Geringsten“, sagt Dan mit einem Blick auf meine zweite Portion Nudeln. Aber er soll sich mal schön zurückhalten: Er ist bereits bei Portion Nummer drei. „Na ja, und deswegen war das das Beste, was mir je passiert ist. Und ich durfte den ganzen Frühling über bestimmen, welche Zeichentrickfilme wir gucken. Ich brauchte nur so zu tun, als würde ich das Baseballspielen ganz furchtbar vermissen.“

Bits lehnt sich mit verschwörerischem Blick zu ihm hinüber. „Das war ja ganz schön ausgefuchst.“

„Ich weiß“, sagt Dan und zwinkert ihr zu, als sei es ein Geheimnis, was die beiden jetzt teilen.

Bits seufzt, wahrscheinlich, weil sie alles für morgendliche Zeichentrickfilme am Wochenende tun würde, egal, was für welche. Ich übrigens auch. Wir essen beim Licht der Laterne, während Bits ihn weiter ausfragt. Er stellt ihr ebenfalls tausend Fragen und macht sich erst zum Gehen auf, als sie alles aufgezählt hat, was sie mag und was sie gar nicht mag.

„Ich geh mal besser“, sagt er. „War ein echt langer Tag.“

Bits schlingt ihre Arme um Dans Hals und bleibt dort hängen, bis Peter sie kitzelt und sie aufgeben muss. Ich folge Dan hinaus in die Dunkelheit und stelle mich auf die unterste Stufe vor der Hütte. „Du hast eine nicht ganz so heimliche Verehrerin.“

„Sie erinnert mich an dich, weißt du“, sagt Dan. „Sogar die Sommersprossen sind gleich.“

„Ich wünschte, ich hätte noch so schöne Sommersprossen im Gesicht. Die sind fast alle weg. Überall sonst auf mir sind Millionen davon. Außer im Gesicht.“

„Du bist perfekt, so, wie du bist.“

Die Zärtlichkeit in seiner Stimme bringt irgendwas in meinem Magen dazu, sich umzudrehen. Ich bin alles andere als perfekt. „Kannst du bitte so was nicht zu mir sagen? Erstens stimmt es nicht, und zweitens fühle ich mich dann komisch.“

„Aber ist es nicht das, was du mal gesagt hast? Dass die andere Person perfekt für einen sein muss?“ Ich weiche seinem Blick aus und starre die Nachbarhütte an. Er dreht mein Kinn zurück zu ihm. „Okay, tut mir leid. Ich sag es nicht noch mal. Okay?“

„Okay.“

Das Lächeln, mit dem er garantiert schon mehr Frauen rumgekriegt hat, als ich zählen kann oder will, breitet sich auf seinem Gesicht aus. „Aber früher oder später kriege ich dich schon weichgeklopft.“

Ich drehe mich um, um mein Schmunzeln vor ihm zu verbergen. „Gute Nacht, Danny.“

„Gute Nacht, Knallkopf.“

Seine Schritte knirschen auf dem Kies, bis sie in der Dunkelheit in Richtung seines Zelts verschwinden. Ich hätte nichts dagegen, von Dan weichgeklopft zu werden, und fast möchte ich es darauf ankommen lassen. Ich glaube zwar nicht, dass er es schaffen wird, aber er wäre meine erste Wahl.