Dwayne und Jeff sind jetzt schon seit über einer Woche weg, und keine einzige Sicherheitszone, mit der wir in Kontakt stehen, hat von den beiden gehört. Alle hoffen, dass sie einfach eine Panne hatten und irgendwo an einem sicheren Ort zwischenlanden mussten, um das Problem zu beheben, und im Geheimen hoffe ich für sie, dass sie eine gemütliche kleine, zombiefreie, tropische Insel gefunden habe, wo sie jetzt Piña Coladas schlürfen. Leider ist ersteres fast ebenso unwahrscheinlich wie letzteres.
Vom Ausguck aus haben wir einige große Herden gesehen, aber sie rangieren eher in überschaubaren Größenordnungen. Eher ein paar Hundert als ein paar Tausend. Und alles, was wir bisher gemacht haben, ist das Gas zu verschwenden, das wir eigentlich im Winter bräuchten. Eines Tages werden wir unsere Wäsche per Hand, ohne die Hilfe eines Generators waschen müssen, und ich hab genug „Unsere kleine Farm“ gelesen, um zu wissen, dass das kein Zuckerschlecken ist.
Dan klopft an die Seite des Krankenwagens. „Bereit?“
„Jepp!“, antworte ich und springe auf den Beifahrersitz.
Wir sind auf dem Weg zur morgendlichen Ausguck-Tour; der ersten des Tages. Bis zum Pfad, der zum Gipfel des Berges führt, brauchen wir weniger als zehn Minuten. Ich erspähe ein paar Lexer im Wald, die sich mehr schlecht als recht ihren Weg durchs Unterholz bahnen. Dann sehe ich etwa fünfzehn Meter vor uns auf der Straße weitere zehn. Sie kommen auf Kingdom Come zu; jedenfalls sind sie in nördlicher Richtung unterwegs.
„Kleine Grüppchen“, sagt Dan. „Gut.“
Er fährt langsam den Berg hoch. Am Wegrand sitzt ein Eichhörnchen und knabbert an seinem Eichhörnchen-Snack. In letzter Sekunde springt es vor den Krankenwagen. Ein dumpfer Aufschlag ertönt, als wir es erwischen.
„Scheiße“, flucht Dan. Er bleibt stehen und schaut in den Seitenspiegel. „Ich glaub, ich hab ihn zerquetscht. Ich will nicht, dass er sich quält.“
Ich folge seinem Beispiel und steige aus. Zerquetscht trifft es leider recht gut; das Eichhörnchen liegt auf der Erde, die kleinen Pfötchen zum Kopf gehoben. Dan hebt es sanft am Schwanz hoch und legt es auf den Seitenstreifen. Angesichts des erbärmlichen Anblicks bildet sich ein dicker Kloß in meinem Hals.
„Was ist los?“, fragt Dan. Ich schüttele den Kopf, denn nur ein Vollidiot trauert um ein Eichhörnchen, während die Welt von Zombies überrannt wird, und wenn ich den Mund aufmache, fange ich garantiert an, zu heulen. „Das Eichhörnchen?“
„Ja“, krächze ich. Wie befürchtet wird das Wort von einem Schluchzen begleitet. „Nein. Warum musste es ausgerechnet in dem Moment losrennen? Wir sind das einzige Auto weit und breit, verdammt noch mal, und unser Freund Chip hier sucht sich ausgerechnet diesen Augenblick aus, um die Straße zu überqueren?“
Ich ziehe ein Stofftuch aus der Hosentasche und schnäuze mich laut. Dan schaut mich an, als sei ich verrückt geworden. „Na ja“, sagt er. „Es ist ein Eichhörnchen. Die kennen sich mit Autos halt nicht so aus.“
„Alle sterben. Egal, was wir tun, egal, wie vorsichtig wir sind – sie hören nicht auf, zu sterben. Aber Chippie hätte nicht sterben müssen.“
Dan nickt verständnisvoll, aber er weiß offensichtlich immer noch nicht, wie er mit der Situation umgehen soll.
„Ich bin es so leid“, schluchze ich. „Ich bin den Gestank leid. Die Leichen. Es hätte nicht so losrennen sollen. Und es ist so süß und hat so weiches Fell …“
Als Dan die Heckklappe des Krankenwagens öffnet, verstumme ich. Er holt eine Schaufel heraus und hebt ein winziges Loch am Wegrand aus. Als es fertig ist, legt er das Eichhörnchen hinein und deckt es mit der Erde zu.
„Komm mal her“, sagt er.
Ich nehme seine ausgestreckte Hand. Er räuspert sich und senkt den Blick. Ich will ihm gerade dafür danken, dass er das Tier begraben hat, aber bevor ich auch nur ein Wort sagen kann, spricht er.
„Es tut mir leid“, sagt er, an den winzigen Erdhaufen gerichtet. „Wenn du doch nur eine Sekunde früher losgerannt wärst, hätte ich rechtzeitig anhalten können.“
Ich trockne meine Tränen. Jetzt fühle ich mich dumm, weil ich wegen eines Eichhörnchens so eine Szene gemacht habe. Und obwohl Dan es nur lieb meint, ist es purer Wahnsinn, hier mitten im Lexerland über einem Eichhörnchengrab zu stehen. Gleichzeitig ist es aber auch irgendwie witzig. Ich drücke mir das Taschentuch vor den Mund, um das Lachen zu unterdrücken, das in meiner Kehle emporblubbert. Dan muss denken, dass ich weine, denn er drückt tröstend meine Hand.
„Ach, Eichhörnchen Chip“, sagt er feierlich. „Wir werden niemals wissen, warum du die Straße überqueren wolltest.“
Ich glaube kaum, dass er das mit Absicht macht, aber er klingt wie ein Südstaaten-Prediger, und das gibt mir den Rest. Ich senke den Kopf, als mir ein Prusten entfährt. Dann fange ich zu kichern an, und schließlich muss ich mir den Bauch halten vor Lachen und kriege kaum noch Luft.
Dan lässt meine Hand los und verschränkt die Arme vor der Brust. „Lachst du mich etwa aus?“
„Es ist bloß … du bist so ernst. Und … und … du hast ihn Eichhörnchen … Chip genannt.“ Ich breche erneut in schallendes Gelächter aus.
„Du hast ihn doch zuerst so genannt! Ich hab mir das nicht ausgedacht. Ich hab bloß versucht, dich aufzumuntern.“
„Ich weiß.“ Ich schlucke einen erneuten Kicherkrampf hinunter. Und das ist ihm auch gelungen, nur nicht so, wie er sich das gedacht hatte. „Hast du ja auch. Danke. Das war wirklich süß.“
„Jaja.“
„Okay, ich bin jetzt auch fertig. Versprochen.“
Er studiert misstrauisch mein Gesicht. „Das war das letzte Mal, dass ich dich auf eine Eichhörnchen-Beerdigung mitgenommen habe. Unangenehm war das.“
Ich verziehe keine Miene, und er runzelt die Stirn. „Darf ich zumindest über deinen Witz lachen?“, frage ich aus dem Mundwinkel.
„Du machst mich fertig, Knallkopf.“
„Tja, und du bist ein wundervoller Mensch. Danke.“
Er kratzt sich mit einem Achselzucken am Hinterkopf. Ich kann ihm aber ansehen, wie viel ihm meine Worte bedeuten, und der Anblick gefällt mir. Mir kommt der Gedanke, ob er mich nicht vielleicht schon ein kleines bisschen weichgeklopft hat. Und vielleicht hat er ja zum Teil sogar ein bisschen recht gehabt – vielleicht wollte ich mich ihm wirklich nicht öffnen. Wenn man liebt, kann man verlieren, und ich befürchte ganz einfach, dass unser Herz begrenzte Kapazitäten hat, wenn es um den Verlust geliebter Menschen geht. Aber wenn wir unser Herz öffnen, wird es immer jemanden geben, der uns hilft, über diese Verluste hinwegzukommen.
„Wir sollten uns auf den Weg nach oben machen“, sagt Dan. „Was ist denn jetzt schon wieder los?“
Ich habe ihn unbewusst angestarrt und senke jetzt schnell den Blick. „Ach, gar nichts.“
„Okay.“
Den Rest des befahrbaren Weges verbringen wir schweigend und klettern dann das letzte Stück. Von hier oben gibt es nichts zu sehen, außer ein paar vereinzelten Lexern auf den Feldern in der Ferne. Bisher haben nur wenige Bäume angefangen, sich zu verfärben, aber das goldene Licht des Sonnenaufgangs lässt die Farben richtig schön leuchten.
„Ist das nicht schön?“, frage ich.
„Hm-hm“, sagt Dan. Er klingt geistesabwesend, und als ich mich zu ihm umdrehe, erwische ich ihn dabei, wie er mich mit einem Gesichtsausdruck anblickt, den ich nicht deuten kann.
„Tut mir ehrlich leid, wenn ich daran schuld war, dass du dich blöd gefühlt hast.“
„Nein, ach was. Ganz im Gegenteil.“
Sein Haar ist golden, seine Haut ist golden – alles an ihm ist von der aufgehenden Sonne erleuchtet. Ich will meine Hand über seinen goldenen Kiefer gleiten lassen. Ich will ihn küssen. Mein Herz rast, als ich mir vorstelle, wie es wäre, wenn ich mich jetzt einfach vorbeugen und ihn überraschen würde. Ich will es gerade tun, als er den Mund aufmacht:
„Komm, lass uns zurückfahren. Wir haben schon genug Zeit mit Eichhörnchen-Chips überkandidelter Beerdigung verschwendet. Die anderen machen sich bestimmt schon Sorgen.“
Ich versuche, mir einzureden, dass es einfach nur der Moment gewesen ist, der Sonnenaufgang, die Farben … aber das Bedürfnis, ihn zu küssen, verfolgt mich den ganzen Weg vom Gipfel zurück zum Krankenwagen. Er startet den Motor. Jetzt oder nie! Ich will es später nicht bereuen, nichts unternommen zu haben.
„Ich hab das vorhin übrigens ernst gemeint – ich finde, dass du ein wundervoller Mensch bist.“ Ich schaue ihm in die Augen und atme tief ein. „Danke, dass du gewartet hast, bis ich bereit bin.“
Mehr kann ich nicht sagen, denn ich kann noch keine Versprechungen machen. Ich kann ihm nicht versprechen, dass ich ihn lieben werde – zumindest nicht so, wie ich Adrian geliebt habe – oder dass es einfach sein wird. Aber ich kann ihm versprechen, dass ich in diesem Moment hier bei ihm sein will. Dass ich es versuchen will. Ich fahre mir mit den behandschuhten Händen nervös über die Oberschenkel und hoffe, dass er die Perfektform in meinem letzten Satz richtig gedeutet hat.
Aber Dan ist kein Dummkopf. Er lässt die Hand sinken, die schon auf dem Schalthebel gelegen hat. „Was?“
„Danke. Weil du gewartet hast.“
Er rührt sich nicht von der Stelle, als ich mich vorbeuge; vielleicht will er sichergehen, dass es wirklich meine Entscheidung ist. Ich schließe die Augen, als meine Lippen seine berühren, und ich weiß, dass es die richtige Entscheidung ist. Sein Geschmack ist mir inzwischen vertraut. Und ich habe ihn vermisst. Jeder Teil meines Körpers, der je von ihm berührt worden ist, will mit einbezogen werden, und so klettere ich ihm kurzerhand auf den Schoß. Seine Hände fahren über meinen Rücken abwärts, legen sich um meine Taille, suchen meinen Hals. Als es ihm auch beim zweiten Versuch misslingt, meine Jacke zu öffnen, brummt er frustriert. Ich muss ihm recht geben; es ist verrückt, wie viele Schichten ich hier draußen aus Sicherheitsgründen trage, und mich aus allen herauszuschälen, wird nicht einfach – vor allem auf so engem Raum wie auf dem Fahrersitz eines Krankenwagens.
„Cassie, Dan, wo seid ihr? Bitte kommen!“, knarzt es aus dem Funkgerät.
Dan stöhnt und drückt mich an sich, während er das Funkgerät betätigt. „Hier ist alles klar. Wir sind auf dem Weg zurück.“
„Okay. Wir sehen uns in zehn Minuten.“
Er legt das Funkgerät ab und lehnt sich mit geschlossenen Augen zurück. Seine Hände liegen noch immer fest um meine Taille. „Ich muss auch Wäsche waschen. Und dann mach ich heute Mittag die zweite Tour hier hoch.“
„Mensch, und ausgerechnet heute hab ich den restlichen Tag frei“, sage ich. „Zu blöd.“
Dan öffnet die Augen und verzieht den Mund zu einem schiefen Lächeln. „Aber heute Abend sehen wir uns auf jeden Fall.“
„Aber klar.“
Heute Abend wird er noch viel mehr von mir sehen. Ich drücke meine Stirn gegen seine, bevor ich wieder auf meinen eigenen Sitz zurückkehre. Er manövriert den Wagen zurück auf den schmalen Weg bergab und fährt uns nach Hause. Seine Hand liegt auf meinem Knie. Ich schiebe meine Finger zwischen seine, und in meinem Bauch tobt vor lauter Aufregung und Angst ein ganzer Schmetterlingsschwarm. Und mit Angst meine ich die von der allerbesten Sorte, wie die Angst, die man spürt, kurz bevor man vom Fünfmeterbrett ins warme blaue Wasser springt.
Als wir wieder auf dem Parkplatz stehen, fragt Dan: „Und, was machst du heute an deinem freien Tag?“
„Ach, so dies und das“, antworte ich. In Wirklichkeit will ich an dem Gemälde für ihn. Ich habe in einem Buch ein Foto vom Fenway-Park-Stadion gefunden und ein kleines Brett, das als Leinwand herhalten muss, konnte ich auch ergattern. Es ist fast fertig, und ich will es ihm heute Abend geben, auch wenn es dann bestimmt noch nicht ganz trocken sein wird.
Er streift meine Lippen mit seinen. „Wir sehen uns beim Abendessen.“
„Ja, bis dann.“ Ich sehe ihm nach. Ich kann es kaum erwarten.
***
Ich habe den Tisch bis an die offene Tür der Hütte geschoben, damit ich besseres Licht zum Malen habe. Fenway Park ist leer, und das Licht des frühen Morgens liegt auf dem noch taunassen Gras. Man kann gerade eben so das grüne Monster sehen, was wirklich ein hirnrissiger Name für eine Anzeigetafel ist, aber diese Sportfans sind sowieso alle verrückt. Das Motiv sieht so aus, als würde es sich außerhalb von Zeit und Raum befinden, leuchtend und beinahe magisch – genau so, wie es ein kleiner Junge vor so vielen Jahren wahrgenommen hätte. Ich stelle meinen Pinsel in den Becher mit Terpentin und betrachte das fertige Werk. Plötzlich taucht ein Schatten darauf auf, als jemand die Stufen zur Tür heraufkommt und mir das Licht nimmt.
„Hey. Oh …“, sagt Dan.
Es ist zu spät, das Bild vor ihm zu verstecken, also lächle ich nur und sage: „Für dich.“
„Wirklich?“
„Nein, weißt du, ich habe Fenway Park gemalt, weil ich es so liebe. Natürlich ist es für dich. Aber pass auf, die Farbe ist noch nicht trocken.“
Dan beugt sich über das Bild und inspiziert es ungelogen eine ganze Minute lang, sodass ich schon anfange, mich zu fragen, ob ich mich vielleicht getäuscht habe und es in Wirklichkeit potthässlich ist. Als er aufblickt, sind seine Augen feucht.
„Es ist …“, setzt er an. Aber dann presst er die Lippen aufeinander und wendet sich mit einem Kopfschütteln ab. Heute ist wirklich ein emotionaler Tag: Eichhörnchen und Gemälde. Wer hätte das gedacht?
Er weint, wie harte Kerle in Filmen weinen – drei Tränen, ein paar unterdrückte Schluchzer und Hände, die mich so fest an sich drücken, als habe er Angst, er könne gleich zusammenbrechen. Das war’s. Aber er lässt mich nicht gleich los.
„Ganz ehrlich?“, sage ich und streichle seinen Rücken. „Du hast mich tausendmal gefragt, wie ich dein Holzkästchen finde. Und du? Nachdem ich jede freie Minute damit verbracht habe, dieses Bild für dich zu malen, kannst du dich nicht mal bedanken?“
Seine Schultern hüpfen auf und ab, als er mir ins Ohr lacht. „Danke.“
„Gern geschehen. So, und jetzt sag mir aber mal, warum du dich überhaupt so anschleichst?“
„Ich wollte fragen, ob du nicht Lust hättest, auf die zweite Tour zum Ausguck mitzukommen?“
„Aber warum sollte ich?“
„Ach, ich weiß auch nicht. Vielleicht wegen der guten Gesellschaft?“ Er schiebt mich gegen die Wand und küsst mich sanft. „Danke. Ich liebe es.“
„Das freut mich zu hören. Und natürlich komme ich gern mit. Ich hol nur schnell meine Sachen und verwandle mich in Prinzessin Leia.“
„Ah, sehr gut. Du hast nicht zufällig irgendwo einen goldenen Bikini rumliegen, oder?“
Ich lache, weil es endlich mal eine Star-Wars-Anspielung ist, die auch ich verstehe, und drücke mich unter seinem Arm hindurch, um mich schnell fertig zu machen.
Zwanzig Minuten später fährt Dan in die Auffahrt des verlassenen Hauses. Er wirft einen Blick auf die Uhr und dann auf mich. „Wir sind früh dran.“
Dieses Mal muss keiner auf den anderen warten. In der entstandenen Stille höre ich den leichten Wind und das Klicken des erkaltenden Motors und dann noch etwas, was ich hier oben noch nie gehört habe: ein leises Summen. Eine Menschenmenge in der Ferne. Oder das, was davon übrig ist.
Dan erstarrt wenige Zentimeter vor meinem Gesicht. Sein Gesicht wird schlaff. Mein Verlangen nach ihm ist von einem anderen Instinkt ersetzt worden: Die aufsteigende Panik pulsiert in meinen Eingeweiden. Wir springen aus dem Krankenwagen und rennen los.