KAPITEL 76

Meine Eltern haben Eric und mich mal auf eine Demonstration in Washington mitgenommen. Und obwohl ich in New York City aufgewachsen bin, hatte ich noch nie so viele Menschen auf einem Fleck gesehen. Wir gingen, eingeschlossen von der Menge, durch die Straßen auf die National Mall zu. Hunderttausend Menschen, die sich in einem ruhigen Marsch langsam fortbewegten, alle mit dem gleichen Ziel.

Als wir den Ausguck erreichen, ist der Anblick, der sich uns von dort aus bietet, den Bildern, die wir am Abend der Demonstration in den Nachrichten hatten verfolgen können, nicht ganz unähnlich. Eine sich langsam, aber stetig fortbewegende Menschenmenge. Einzelne Stimmen, die in ihrer Einheit wie das Summen von tausend Bienen klingen. Nur, dass dies keine Menschen mehr sind, und das Summen ergibt sich aus dem Stöhnen Tausender verrottender Kehlen. Das müssen Zehntausende Lexer sein. Westlich vom Steinbruch ist bis an den Waldrand alles voll, und zwischen den Bäumen kommen stetig mehr hervor, während sich die Herde langsam vorwärts schiebt. Ich kann nicht mal mehr die Erde auf den Feldern sehen. Im Osten sind nur ein paar kleinere Herden, aber anderthalb Kilometer dahinter folgt schon die nächste dichte Masse. Wir brauchen keine Ferngläser, um zu sehen, dass wir am Arsch sind.

„Heilige Scheiße“, murmelt Dan.

Wir stolpern und schlittern den Pfad hinunter. Dan startet den Motor und ruft ins Funkgerät, bis Oliver endlich antwortet.

„Wir haben Tausende Lexer direkt vor der Haustür. Tausende, Oliver. Wir müssen evakuieren. Sofort.“ Er reicht mir das Funkgerät und steuert den Wagen zurück auf den Schotterweg.

„Bist du sicher?“, fragt Oliver.

„Ja“, antworte ich. „Oliver, hol John. Sag ‚drei Signaltöne‘. Drei Signaltöne, hörst du? Und dann alarmiere Whitefield und die anderen Zonen.“

Dan geht so scharf in die Kurve, dass mich der Schwung gegen die Tür wirft. Aber er biegt nicht nur ab; er ist einer Gruppe von Lexern ausgewichen, die auf die Straße strömen. Er rast Richtung Osten, auf die Farm zu, während ich im Seitenspiegel die Straße im Auge behalte. Noch ist sie frei, aber die Lexer, die aus dem Westen kommen, haben bereits die südlichen Wälder erreicht und könnten nur wenige Minuten entfernt sein. Dann blockieren sie die Straße, und wenn wir eingeschlossen werden, ist es aus.

„Scheiße!“ Panisch drücke ich den Knopf am Funkgerät. „Oliver!“

„John ist auf dem Weg zum Alarm“, antwortet er.

„Wir können nicht nach Westen abhauen. Wir müssen nach Osten weg. Sag ihnen, sie sollen Richtung Osten!“

„Okay.“ Ich höre den ersten Signalton gleichzeitig durchs Funkgerät und durchs Fenster. „Ich geh jetzt. Over und out.“

„Oliver!“, schreie ich. Ich wollte noch sichergehen, ob er auch wirklich Whitefield Bescheid gegeben hat, aber er ist weg.

Wir wirbeln eine riesige Staubwolke auf, als Dan am ersten Tor mit kreischenden Bremsen zum Stehen kommt, bevor er zur Farm weiter rast. Als wir auf dem Parkplatz ankommen, springe ich aus dem Krankenwagen und renne zum Bulli. Penny, James, Ana und Maureen warten davor. Sie sind angespannt. Die ersten paar Fahrzeuge rollen über die Auffahrt davon, und der große Schulbus zischt laut, als die luftdruckbetätigte Bremse gelöst wird, und folgt der Karawane. Ich atme erleichtert auf, als er hinter der Kurve verschwindet; ein Großteil der Farmbewohner ist somit in Sicherheit.

„Wo ist Bits?“, frage ich.

„Wir warten auf sie und Peter“, sagt Ana. „John sammeln wir am ersten Tor ein.“

Peter läuft um die Ecke des Restaurants und kommt mit schnellen Schritten auf den VW-Bus zu. „Okay, alle sind raus.“

„Wo ist Bits?“, frage ich.

Als er über meine Schulter ins Innere des Bullis blickt und langsam den Mund öffnet, steigt schon wieder Panik in mir auf. „Sie war eben noch hier! Ich hab sie in den Wagen gesetzt und ihr gesagt, sie soll sich nicht von der Stelle rühren.“

Er schaut noch mal in den Wagen, als hoffe er, er habe sie auf den ersten Blick vielleicht übersehen, und sieht mich dann mit riesigen dunklen Augen an.

„Fee“, sage ich.

„Ich suche hier“, sagt er.

Ich renne zur Hütte, aber da liegt Fee, gemütlich eingerollt und völlig ungestört vom ganzen Trubel, auf Bits’ Feldbett. Ich nehme die Katze und setze sie in ihre Transportbox, greife nach meinem extra Rucksack und renne wieder nach draußen. Ich höre die anderen rufen und tue dasselbe. „Bits!“, schreie ich. „Ich hab Fee! Bits!“

Außer der dröhnenden, bedrohlichen Stille und dem gelegentlichen Rascheln der Blätter in den Baumkronen höre ich nichts. Hätten wir nicht gesehen, was sich da unaufhaltsam auf uns zubewegt, hätte man sich fast dazu verleiten lassen können zu glauben, dass heute ein schöner frühherbstlicher Tag ist. Ich drücke mir Fees Transportbox an die Brust und renne auf den Bulli zu.

Ana kommt mir schnaufend entgegen. „Bits ist im großen Bus. Mike hat gesehen, wie Josephine sie und Jasmine mitgenommen hat. Er dachte, wir hätten das vielleicht so abgesprochen.“

Das macht keinen Sinn. Josephine wusste genau, dass es unser Job war, die Farm nach Nachzüglern abzusuchen; es war die ganze Zeit klar, dass wir die Letzten sein würden, die abhauen. Aber es macht keinen Sinn, sich über das Warum den Kopf zu zerbrechen – alles, was zählt, ist, dass ich Bits finde.

Dan schreitet vor dem Krankenwagen auf und ab. Mike und Rohan sind auch da, aber die anderen Leute sind schon weg. Eigentlich hätten noch andere mit dem Krankenwagen evakuiert werden sollen, aber vielleicht waren sie zu verängstigt, um zu warten, bis Dan und ich wieder da sind.

Peter fährt vom Parkplatz und rast aufs Tor zu, wo John wartet. Ich reiße die Tür auf. „Bits ist im Bus. Wir müssen hinterher.“

John springt in den Wagen. An der Hauptstraße will Peter Richtung Westen abbiegen, und mir wird eiskalt. „Nach Osten. Wir müssen Richtung Osten“, rufe ich.

„Nein, Westen“, korrigiert John mich.

„Wir haben Oliver doch gesagt, dass ihr nach Osten fahren sollt! Im Westen sind sie schon fast an der Straße angekommen!“ Meine Stimme ist so schrill, dass sie beinahe versagt. Wir könnten nach Osten fahren und die anderen per Funk informieren, aber es gibt eine Person, die ich niemals zurücklassen würde, und die sitzt in diesem verdammten Bus.

„Das hat er nicht gesagt“, sagt John. Er spricht ins Funkgerät. „Achtung, alle mal herhören. Dreht sofort um. Wir fahren Richtung Osten. Ich wiederhole: Alle Richtung Osten. Die Straße nach Westen ist von Lexern blockiert.“

Die Antwort kommt knisternd und unverständlich. Kurz darauf kommen der kleinere Schulbus und ein Pick-up mit Höchstgeschwindigkeit über den kleinen Hügel vor uns gerast. Sie sind noch etwa einen knappen Kilometer von uns entfernt. Wir fahren ihnen entgegen und treffen sie auf halbem Wege. Shawn bremst mit dem Pick-up scharf neben uns ab, während der Bus weiter Richtung Osten rast. Ich behalte die Straße im Blick und versuche, den großen gelben Bus mit purer Willenskraft hierher zurückzubefördern, aber natürlich passiert nichts.

Shawn rollt das Fenster herunter. Sein Gesicht ist leichenblass. „Die anderen sind umzingelt. Die haben die Straße gestürmt, kurz bevor du uns alarmiert hast. Der Schulbus ist gegen einen Baum gefahren. Ich glaube, die Kühlung ist hin. Wir haben keine Chance, sie zu erreichen, ohne da reinzugehen.“

Die letzten Worte hat er kaum ausgesprochen, da tritt Peter aufs Gas. Sobald wir den kleinen Hügel überwunden haben, sehen wir den Bus, der schräg stehend die Straße blockiert. Der Motor raucht und macht laut surrende Geräusche, als der Fahrer vergeblich versucht, ihn zu starten. Er ist von hinten von einer zehn Meter dicken Wand aus Lexern umgeben, die sich nach Süden hin bis zum Waldrand erstreckt. Die Fahrzeuge, die vor dem Bus gefahren waren, sind kleine Inseln in einem Meer aus Lexern. Die schwarzen Türen eines Transporters sind geöffnet; wer auch immer da drin war, muss versucht haben, zu Fuß abzuhauen. Aus den offenen Fenstern sind Schreie zu hören, und ich mag es mir einbilden, aber fast bin ich mir sicher, Bits’ Stimme darunter zu erkennen. Ich drücke mir die Hand auf den Mund, um den erschütterten Aufschrei zu unterdrücken, den ich in meiner Kehle aufsteigen spüre.

Ich bohre meine Finger in Peters Schulter. Ich muss ihm nicht sagen, dass ich ohne Bits nicht abhauen werde: Ich weiß, dass er genauso denkt. Er lehnt sich aus dem Fenster und beugt sich zu Shawn hinüber, der uns mit dem Pick-up gefolgt ist. „Habt ihr noch Platz im Wagen? Wir kommen nach und treffen euch in Quebec.“

„Auf der Ladefläche ist noch Platz“, sagt Shawn.

Mike und Rohan steigen aus dem Krankenwagen und hocken sich auf die Ladefläche des Pick-ups. Mark Golden steigt vom Beifahrersitz der Fahrerkabine und winkt Penny, sich hineinzusetzen. Aber sie schüttelt nur den Kopf. „Nein, ich will aber nicht. Ich bleibe hier.“

James öffnet die Tür des VWs und seine sonst so seelenruhigen, sanften Gesichtszüge sind entschlossen. „Nein, tust du nicht.“

„Geh und steig in den Pick-up“, befiehlt Ana ihrer Schwester. „Sofort.“

„Geh mit Penny“, sagt John zu Maureen. „Wir treffen uns da. James, du fährst auch mit.“

James will schon protestieren, aber John unterbricht ihn scharf: „Keine Widerrede.“

Sein Gesichtsausdruck bringt beide zum Verstummen. James hilft Penny und Maureen in die Fahrerkabine und steigt zu den anderen auf die Ladefläche.

„Sollen Jamie und ich mit euch kommen?“, fragt Shawn. „Jemand anderes kann fahren.“

John schüttelt den Kopf und winkt ihnen, loszufahren. Penny drückt ihr Gesicht ans Fenster und wirft Ana und mir einen hilflosen letzten Blick zu, dann ist sie weg. Wir wenden unsere Aufmerksamkeit wieder dem Schulbus zu, der inzwischen von Hunderten von Händen hin und her geschaukelt wird. Schrille Schreie zerreißen die Luft. Peter fährt langsam vor, bis wir so nah dran sind, wie wir verantworten können. Etwa ein Straßenblock liegt zwischen uns und der Herde. Bisher scheint uns diese nicht einmal wahrgenommen zu haben: Der Schulbus macht genug Lärm, um ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen. Fürs Erste.

Neben uns kommt der Krankenwagen zum Stehen. Dan rennt an Johns Fenster. „Was ist der Plan?“

„Du brauchst nicht …“, beginne ich erschrocken.

Dans Kiefer ist entschlossen. „Ich geh nirgendwohin.“

Ich bin so dankbar, dass ich nicht einmal versuche, zu protestieren, obwohl Bits meine und Peters Verantwortung ist. Und ich weiß, dass wir höchstwahrscheinlich sowieso keine Chance haben. Aber das ist mir egal – es gibt Menschen, für die es sich zu sterben lohnt. Für Adrian war ich so ein Mensch. Und obwohl ich in dem Punkt mal wieder ganz anderer Meinung bin als er, weiß ich doch, wie sich das anfühlt.

„Wir machen so viele Touren wie möglich“, sagt John, „und fahren zurück zur Farm, um die anderen Wagen zu holen.“

Ein paar Lexer stolpern auf den Bulli zu. Einer hält direkt auf Dan zu, der ihn mit einem gezielten Hieb mit der Machete zu Boden streckt. Die Schreie, die aus dem Bus dringen, werden lauter und grauenhafter, und hin und wieder erklingen gedämpfte Schüsse. Die Vordertür des Busses ist offen, und die Lexer drängen so eifrig vorwärts, dass sie dabei übereinander hinwegklettern. Sie sind drin. Ich dachte, wir hätten zumindest ein paar Minuten Zeit. Und vor allem dachte ich, dass sie nicht in der Lage wären, die Türen aufzubrechen und die Stufen nach oben zu klettern – nach oben zu Bits. Vor meinen Augen tanzen schwarze Punkte und ich muss mich am Sitz festhalten, um nicht ohnmächtig zu werden.

Ich habe immer gewusst, dass es unerträglich sein würde, Bits sterben zu sehen. Aber ich habe immer gehofft, dass ich zumindest bei ihr sein würde und sie während ihrer letzten Minuten trösten könnte, wenn ich schon nicht in der Lage wäre, sie zu retten. Und nicht einmal das kann ich; sie wird ganz allein sterben. Ich kann nur hier sitzen und zuschauen, und diese erstickende Hilflosigkeit ist schlimmer als alles, was ich je in meinem Leben gefühlt habe.

Die hintere Dachluke des Busses schwingt auf. Dann erscheint Hanks Kopf. Er zieht sich mit seinen dürren Armen aufs Dach. Augenblicklich dreht er sich um und legt sich auf den Bauch. Er streckt die Arme durch die Luke ins Innere des Busses. Ich halte den Atem an. Ich wage es nicht, auch nur einen Atemzug zu tun, ehe ich Bits’ braunen Haarschopf auftauchen sehe.

„Bitte“, flüstere ich. Ich drücke meine Füße so fest auf den Boden, wie ich kann, als könnte ich ihr dadurch irgendwie Kraft senden. „Oh, bitte …“

Hank zieht sie ins Freie und wendet sich sofort wieder der Luke zu. Henry schiebt seinen Oberkörper hindurch und stellt seine Hände auf dem Dach ab. Dann sinkt er ein paar Zentimeter in die Tiefe und kämpft darum, auf dem Dach festen Halt zu finden. Bits und Hank greifen nach seiner Jacke und stemmen sich mit den Füßen am Rahmen der Luke ab, um gegen das anzukämpfen, was Henry von unten fest im Griff zu haben scheint. Henry öffnet den Mund und schüttelt den Kopf. Bits lässt zuerst los, aber Hank hält seinen Vater noch einen Moment lang fest, bevor auch er loslässt. Als Henry im Innern des Busses verschwindet, lässt Hank sich fallen und beugt sich über die Luke. Ich will nicht, dass er das mit ansieht, und atme erleichtert auf, als Bits ihn auf die Füße zerrt. Sie weiß, dass man diese Bilder nicht mehr loswird. Und was das mit einem macht.

Anas Finger legen sich fest um meinen Arm. „Wir holen sie da raus.“

Ana ist eher so etwas wie Bits’ Lieblingstante, aber sie liebt das kleine Mädchen mindestens genauso sehr wie wir. Und auch sie wird nicht abhauen, ehe nicht jede Hoffnung, Bits noch retten zu können, verloren ist. Und dies scheint unsere einzige Chance zu sein, so gering sie auch sein mag. Wir müssen die beiden da rausholen und abhauen, bevor die Straße auch in östlicher Richtung komplett überrannt ist.

Dan lehnt sich aus dem Fenster des Krankenwagens. „Aufs Dach mit euch. Ich fahr euch rein. John, bleib hier und halt die Stellung, falls wir dich brauchen.“

Ana, Peter und ich klettern hastig aufs Dach des Krankenwagens und legen uns flach auf die Bäuche. Wir halten uns krampfartig fest, als Dan im Schritttempo in die Menge fährt und Lexer links und rechts aus dem Weg schiebt. Zuerst bewegen sie sich noch von selbst zur Seite, aber dann werden sie wild. Mit jedem Zentimeter, den wir uns vorwärtsbewegen, hämmern mehr Hände gegen die Seiten. Dan positioniert den Wagen so, dass er parallel auf den Bus zuhält. Bits und Hank sehen so klein und hilflos aus mit ihren herabhängenden Armen.

„Bleibt, wo ihr seid!“, rufe ich ihnen zu. „Wir kommen!“

Aber wie wir zu ihnen gelangen sollen, weiß ich nicht genau, mit der zwei Meter dicken Wand aus Lexern, die uns voneinander trennt. Bits nickt. Ihr Mund steht offen und ist zu einem kleinen O geformt. Sie sieht aus wie jemand, der gleich das Bewusstsein verliert.

„Wir müssen näher ran!“, schreit Ana.

Dan fährt ein Stück rückwärts und versucht es dann noch einmal. Peter liegt auf dem Dach der Fahrerkabine und räumt Lexer aus dem Weg. Er greift sie bei den Haaren oder ihren zerfetzten Klamotten und zerrt sie nach links und rechts zur Seite weg, bis Dan so nah an den Bus herankommt, dass uns nur noch ein knapper Meter von den Kindern trennt. Ana und ich stechen auf die Köpfe der Lexer ein, die sich im Zwischenraum zwischen den beiden Fahrzeugen befinden, bis sie leblos und aufrecht eingeklemmt eine Art Barriere formen, die die anderen von uns fernhält.

Ich schaue aufs Dach. Hanks Brille reflektiert die Bäume und den Himmel, aber in Bits’ Augen sehe ich die Verzweiflung. „Cassie!“, schreit sie. „Peter!“

Hank nimmt Bits an der Hand und geht auf den Dachrand zu. „Nein, nicht gleichzeitig!“, ruft Peter. „Ich komm rüber und hol euch!“

Mit einem großen Schritt ist er bei ihnen und legt seine Arme um Bits’ Taille. Sie schlingt ihre Beine um ihn und kneift die Augen zu, als er mit ihr zurückspringt. Und dann liegt sie in meinen Armen. Ich hätte nicht gedacht, dass das jemals wieder möglich sein würde, aber jetzt ist sie hier. Peter und Hank landen mit einem dumpfen Aufprall auf dem Dach des Krankenwagens. Dan fährt langsam rückwärts und lenkt den Wagen dann in Richtung Osten. Wir kommen einen knappen Meter voran und holpern über tote Lexer auf der Erde. Dann hebt sich die Vorderachse des Krankenwagens vom Boden und kommt nicht wieder runter. Die Reifen quietschen, aber wir bewegen uns nicht von der Stelle.

Ana wirft einen Blick über die Kante und flucht. Ich setze Bits neben mich und krieche neben Ana zur Kante. Die Vorderachse ist tatsächlich auf einem kleinen Hügel aus Leichen aufgelaufen; die Reifen drehen ein paar Zentimeter über dem Boden ins Leere.

„Wir sitzen fest!“, ruft Ana nach unten. Einen Augenblick später klettert Dan durchs Fenster zu uns aufs Dach. Es sind viel mehr Lexer als damals im Wald oder an diesem Tag auf dem Feld. Allein auf den ersten drei Metern gibt es so wenige Öffnungen in den Reihen der Lexer, dass wir uns den Weg freikämpfen müssen.

„Ich nehme Bits“, ruft Peter mir über den Lärm zu.

Ich will sie nur ungern abgeben, aber ich wäre nie in der Lage, sie zu tragen und gleichzeitig zu rennen, so wie er. Peter setzt sich Bits auf die Hüfte und deckt sie mit seiner Jacke zu. Mit der anderen Hand hält er seine Machete fest und sieht mir mit einem kurzen Nicken in die Augen. Wenn es einen Menschen gibt, dem ich Bits bedenkenlos anvertrauen würde, dann ist das Peter; er würde eher sterben als aufgeben.

Hank trägt eine dicke Jacke, aber er hat nichts, um seine tintenbefleckten Hände zu schützen. Ich ziehe meine Handschuhe aus und zeige auf den VW. „Zieh die hier an. Und dann rennen wir zu John, so schnell wir nur können. Meinst du, das schaffst du?“

Hanks Augen sind riesengroß und kugelrund, und sein Kopf wackelt so sehr, dass ich nicht erkennen kann, ob das die Angst ist oder ob er tatsächlich nickt. Ich halte ihn an den Schultern fest. „Lass mich nicht los, hörst du? Nur, wenn sie mich kriegen. Dann rennst du los. Und du hältst nicht an, für nichts in der Welt.“

Hank zieht sich die Lederhandschuhe an. Ich nehme Adrians Messer aus meinem Gürtel und lege es ihm in die Hand. „Benutz das hier, wenn du musst“, befehle ich. Dieses Mal ist es eindeutig ein Nicken, und es ist ein entschlossenes, wie das seines Vaters.

Ana hält ihren Schädelspalter in der einen und eine kleine Machete aus dem VW in der anderen Hand. „Ich geh mit Peter. Dan, du bleibst bei Cass.“

Dan legt eine Hand auf meinen Arm. Seine Augen glühen, wie an dem Morgen in Stowe, im Zelt. Sein Blick sagt mir, dass es keine andere Möglichkeit gibt und dass wir hier heil rauskommen werden. Ana stülpt sich die Kapuze ihres Pullis über den Kopf und wirft Peter ein mir nur allzu bekanntes Lächeln zu – ein Lächeln, das besagt, dass sie für alles bereit ist, egal, wie riskant.

„Pass auf dich auf“, rufe ich ihr zu.

„Bleib in der Nähe“, befiehlt Peter ihr. „Tu nichts, was …“

„Versprochen.“ Sie zieht die Schnüre der Kapuze zusammen. Ana und Peter gleiten über die Motorhaube in die Tiefe und ins Getümmel. Sie sticht mit ihren Waffen um sich, schubst und tritt auf die Menge ein. Peter ist dicht hinter ihr und schiebt die verwirrt in Anas Kielwasser herumstolpernden Lexer mit der Schulter zur Seite. Er benutzt seine Klinge nur einmal: Als ein Lexer Ana an den Kragen will und sie zur Seite zieht.

Dan und ich springen hinterher. Die ersten paar Schritte muss ich Hank mitziehen, aber schon bald ist er gleich auf. Graue Hände reißen von links und rechts an meiner Jacke, als ich mich durch die Schneise dränge, die Dan vor uns in die Menge hackt. Ich versuche, Hank, der vor mir läuft, mit den Armen abzuschirmen. Einer kommt uns zu nahe, und ich stoße ihm mein Messer ins Auge. Dan schießt auf einen, der einen Hechtsprung auf ihn zu macht und ihn mit den Armen umschlingt.

Wir haben Peter und Ana beinahe eingeholt, als mich und Hank ein kräftiger Stoß von hinten in die Knie zwingt. Seine Hand entgleitet meiner. Ich mache mich so klein wie möglich, als die vorwärtsdrängenden Lexer über mich stolpern und auf der Straße vor mir landen. Ich kämpfe mich frei, schiebe die schweren Körper, die auf mir gelandet sind, zur Seite, und schüttele einen ab, der seine Zähne in den Stoff meines Jackenärmels versenkt hat. Der Druck hat die kleine Gruppe von Lexern umgeworfen und sie zappeln auf der Erde herum wie Käfer, die auf dem Rücken gelandet sind, aber Hank kann ich nicht entdecken.

„Hank!“, schreie ich.

Dan schiebt einen Lexer zur Seite und zieht Hank auf die Beine. Eine Hand greift nach meinem Oberschenkel, eine andere nach meinem Fußgelenk. Ich trete angestrengt grunzend um mich und renne über die herumliegenden Lexer hinweg, die langsam auf die Füße kommen, und zerstampfe auf meinem Weg die eine oder andere Wirbelsäule. Uns fehlt die Zeit, um Hank auf Bisse zu untersuchen. Und selbst wenn er gebissen worden wäre, würde ich ihn nicht zurücklassen. Jetzt gibt es zwei Menschen, die ich niemals zurücklassen würde – Henry wäre bestimmt jetzt noch am Leben, hätte er nicht Wort gehalten und Bits gerettet, und ich werde mein Wort auch nicht brechen. Das wär’s ja noch. Ich nehme Hanks Hand wieder fest in meine, wirbele herum und starre direkt in ein totenkopfähnliches Gesicht. Die Haut ist trocken und eingefallen, und das Gebiss erscheint riesig. Es schnappt wenige Zentimeter vor meiner Nase zu, bevor es klappernd auf dem Boden zusammenfällt.

Dan steht hinter dem Knochenhaufen und schubst direkt noch drei weitere von sich. „Los!“, ruft er.

Hier ist die Menge noch nicht so dicht, aber das ändert sich mit jeder Minute, die vergeht. Nur noch etwa drei Meter und wir sind frei. Einen Meter weiter wird mir der Schädelspalter von einem Lexer aus der Hand gerissen, der sich auf Hank stürzt. Ich presse ihm meine Hand gegen die Stirn, kurz bevor er zubeißen kann, aber ich bin nicht stark genug, um ihn wegzuschieben. Stattdessen drücke ich ihm zwei Finger in die Augenhöhle. Es fühlt sich kalt und nass und dickflüssig-klebrig an, und in jeder anderen Situation würde ich mich wahrscheinlich vor Ekel übergeben, aber gerade ist mir einfach alles egal. Hank kriegen sie nicht. Ich lasse sie nicht gewinnen, und wenn ich jedem Einzelnen von ihnen mit bloßen Händen den Schädel zerschlagen muss. Ich bohre meinen Daumen in die eingefallene Wange, um mehr Kraft aufwenden zu können, und stoße meine Finger tief hinein, bis er wie ein Stein zu Boden fällt.

Hinter mir grunzt Dan vor Anstrengung; er hat uns den Fluchtweg freigehalten, um mir mehr Zeit zu verschaffen. Irgendwo zu meiner Linken stößt Ana einen schrillen Fluch aus. Sie wirbelt herum, um einem Lexer, der sie an der Kapuze zu fassen gekriegt hat, ihren Schädelspalter in den Schädel zu rammen, aber sie schlägt daneben. Sie fummelt am Reißverschluss ihrer Jacke herum und versetzt einem anderen einen Tritt, der ihn rückwärts stolpern lässt. Wir rennen an ihr vorbei, gerade als sie aus Jacke und Pulli schlüpft, um sich zu befreien.

Hank und ich brechen aus der Menge hervor und rennen das letzte Stück zum VW, mit dem John uns entgegengekommen ist. Er springt heraus und öffnet mit einer Hand die Tür – in der anderen Hand hält er seine Pistole – und wirft Hank ins Innere des Wagens. Er will schon nach mir greifen, aber ich schüttele den Kopf und drehe mich wieder um. Ich meine, Dan in Anas Richtung laufen zu sehen, und ich werde ihm folgen, jetzt, wo Hank in Sicherheit ist. „Ana ist noch da hinten!“

„Du bleibst hier“, ruft John und rennt selbst los. „Rein mit dir!“

Ich schlage die Tür hinter mir zu und sehe Johns rote Jacke in der Menge verschwinden. Ich kann weder Dan noch Peter oder Ana sehen. Ich höre Schüsse, aber ich kann nicht ausmachen, woher sie kommen. Ich muss Peter und Bits finden.

Ich gehe vor Hank in die Hocke. Wir atmen beide schwer, und ich weiß, dass meine Augen wahrscheinlich so verstört und weit aufgerissen sind wie seine. „Bist du okay? Hat dich einer gebissen?“ Seine Lippen formen sich zu einem stillen Nein, und ich nicke erleichtert. Ich schaue erneut aus dem Fenster in alle Richtungen. Ich sehe nur Bäume und Lexer.

„Bleib hier, okay?“ Ich lege ihm eine feste Hand aufs Knie, als seine Unterlippe zu beben beginnt. „Ich gehe nur aufs Dach. Okay? Keine Angst. Ich lass dich nicht alleine.“

Hank nickt langsam und hebt sein Messer, als ein einzelner Lexer auf uns zu stolpert, ehe er sich abwendet und doch lieber in Richtung Schulbus geht. Irgendwie ist es Hank gelungen, sowohl seine Brille als auch das Messer zu behalten.

Als ich aussteige, höre ich Peter, der meinen Namen ruft. Er kommt aus dem leeren Waldstück im Osten auf mich zu. Bits hängt noch immer auf seiner Hüfte. Wie er es geschafft hat, so einen großen Bogen zu schlagen, ist mir ein Rätsel, aber ich springe mit Beinen aus Wackelpudding auf den Fahrersitz und gehe in den Rückwärtsgang, um ihnen die dreißig Meter entgegenzukommen.

Peter schiebt Bits auf die Rückbank. Sie ist zerzaust und starr vor Angst, und doch ist ihr Anblick das Schönste, was ich seit Langem gesehen habe.

„Ich wurde in den Wald abgedrängt“, ruft Peter. „Wo sind die anderen? Wo ist John?“

„Er ist los, um Ana zu helfen“, sage ich. „Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie noch okay.“

Ich steige aufs Dach und erhasche einen Blick auf etwas Rotes. John ist mittendrin im Getümmel und kämpft sich durch die Menge. Er ist allein. Er hackt mit dem Messer um sich, aber die Lexer haben sich zu einer soliden Wand verdichtet.

„John kommt zurück!“, schreie ich Peter zu. „Bring uns näher ran!“

Aber noch bevor Peter die Fahrertür erreicht, legen sich Hände um Johns Gesicht und ziehen ihn zu Boden. Unter dem Berg aus Körpern, die sich über ihn beugen, erklingt dumpf ein Schuss. Ich warte, aber als er nicht aufsteht, höre ich meinen Schrei wie aus weiter Ferne. Ich weiß nicht mal, was ich gesagt habe, aber Peter lässt die Hand vom Türgriff sinken und starrt mich fassungslos an.

„Und Ana?“, ruft er mir zu.

Ich schüttele atemlos den Kopf und suche die Menge nach Ana und Dan ab. Für sie besteht immer noch eine Chance. Vielleicht sind sie noch okay. Im Gegensatz zu John. Peter stellt einen Stiefel auf den Fensterrahmen und springt neben mir aufs Dach. Irgendetwas Schnelles prescht von hinten durch die Massen heran, und dann springt Dan über die Motorhaube des Krankenwagens aufs Dach. Der Reißverschluss seiner Jacke steht offen, und der Saum seines grauen T-Shirts ist ein einziger großer dunkler Fleck. Ich rede mir ein, dass das nicht sein kann: Er wurde nicht gebissen. Aber die Art, wie er vornübergebeugt mit gesenktem Kopf und den Händen auf den Knien dasteht, während seine Brust sich ruckartig hebt und senkt, sagt mir etwas anderes. Er hebt den Blick und sieht mir in die Augen.

„Nein“, flüstere ich. Und dann noch einmal, obwohl ich weiß, dass es stimmt. Er ist ganz allein dort oben, genau, wie er immer befürchtet hatte. Ich will etwas tun, irgendetwas, um ihm die Sache zu erleichtern. Ich wünschte, er wäre hierhergekommen; er sollte das nicht allein durchstehen. Er sollte das überhaupt nicht durchstehen müssen.

Das Ganze dauert nur wenige Sekunden, während derer die Gedanken durch meinen Kopf rasen und er nickt und seine Lippen Worte formen, die ich nicht lesen kann. Er zeigt mit dem Finger auf mich und dann hebt er ihn zum Himmel. Ich weiß nicht, was genau das bedeuten soll, aber ich nicke trotzdem. Das sind unsere Sterne da oben.

„Ana!“ Peters Stimme ist so verzweifelt, dass ich den Blick von Dan abwende.

Er springt vom Dach und rennt auf die Lexer zu, die uns inzwischen gesehen haben und langsam auf uns zukommen. Ich gleite an der Seite des Bullis hinab, um ihm zu folgen, und feuere auf einen, der sich aus der Menge löst, und dann noch einen. Peter scheint das alles nicht zu bemerken, bis ihm einer gefährlich nahe kommt, den er einfach zur Seite wirft, als würde er nichts wiegen.

Ich schreie seinen Namen, aber er antwortet nicht. Wir haben höchstens noch zwei Minuten, bevor hier alles überrannt ist. Wir haben Bits und Hank, und wir müssen hier weg. Wäre Ana okay, dann wäre sie schon längst hier, das weiß ich einfach.

Und dann entdecke ich sie. Sie bewegt sich noch immer schneller und wendiger als die anderen Gestalten, aber wesentlich langsamer als vorhin. An ihrem Hals prangt eine hässliche Wunde und ihr Hemd ist blutdurchtränkt. Sie schafft es aus der Menge und stolpert auf unsicheren Beinen vorwärts. Peter weicht einen Schritt zurück, als habe man ihm eine Ohrfeige verpasst.

Sie ist noch ein paar Meter von ihm entfernt. Die sonst so ausdrucksstarken Lippen – immer grinsend oder schmollend oder irgendeinen frechen Spruch parat habend – hängen schlaff in ihrem gräulichen Gesicht. Ich erinnere mich an das Versprechen, das ich ihr an einem schönen Sommertag gemacht habe, ein Versprechen, von dem ich nie gedacht hätte, dass ich es jemals einhalten muss. Mit zitternden Händen richte ich den Lauf meiner Pistole auf den Punkt zwischen ihren leeren Augen. Ich weiß trotzdem, dass ich treffen werde. Kopfschüsse sind schwierig, aber nicht für mich. Und obwohl sie so nah dran ist, dass ich kaum zu zielen brauche, ist dies doch der schwierigste Schuss, den ich jemals abgefeuert habe. Sie sackt auf dem Boden zusammen, und das Zittern in meinen Schultern breitet sich in meinem ganzen Körper aus. Hätte ich genug Zeit, um zu ihr zu rennen, würde ich es tun, aber die Herde ist nur noch sechs Meter von uns entfernt. Ich schreie Peter an, so laut ich kann, um ihn aus seiner Starre zu lösen, und zerre ihn am Jackenkragen zurück zum Bulli. Ich brauche ihn. Allein schaff ich das nie. Er geht rückwärts, noch immer starr vor Schock, aber dann dreht er sich ruckartig um und rennt zur Fahrertür.

Er schaltet in den Rückwärtsgang und fährt los. Richtung Osten. Ich stolpere zum Fenster in der Heckklappe und suche die Menge nach dem Krankenwagen ab. Dan sitzt auf dem Dach und schaut uns hinterher; der Flachmann in seiner Hand blitzt im Sonnenlicht kurz auf, als er ihn zum Mund hebt. Peter weicht ein paar Lexern aus, die inzwischen die Straße nach Osten erreicht haben, was mich aus dem Gleichgewicht bringt. Als ich wieder aufrecht sitze, sind wir über den kleinen Hügel gefahren und Dan ist nicht mehr zu sehen.