KAPITEL 78

Quebec ist nur noch wenige Kilometer entfernt; ab jetzt könnten wir die anderen theoretisch über Funk erreichen. Aber dann fragen sie uns bloß, wer alles mit uns im Auto sitzt, und ich weiß ehrlich nicht, was ich darauf antworten soll. Peter schlägt es auch nicht vor, hält nur mit weißen Knöcheln das Lenkrad fest und starrt auf die Straße vor uns. Ich sitze schweigend mit den Kindern im Arm auf der Rückbank und frage mich, was ich Penny sagen soll. Ein Mann, den ich von unserem Besuch diesen Sommer wiedererkenne, öffnet das Tor. Peter fährt im Schneckentempo die Hauptstraße hinauf – teilweise, um Kisten, Säcken und Rucksäcken auszuweichen, aber auch, meine ich zu wissen, weil er ebenso wie ich es nicht sehr eilig hat, Penny unter die Augen zu treten.

Er fährt auf den Parkplatz und hält neben dem Pick-up, den Shawn gefahren ist. Der kleine Schulbus hat es ebenfalls geschafft. Penny erhebt sich schwerfällig von einem Picknicktisch, als sie unseren Wagen sieht. Ich atme tief ein und steige aus. Ich höre die Schritte von Peter und den Kindern auf dem Kies, aber ich wende keine Sekunde den Blick von Penny ab. Als sie die leere Straße hinter uns sieht, verzieht sie bestürzt das Gesicht und sinkt mit offenem Mund zurück auf die Bank. James steht neben ihr und hat seine Hand auf ihre Schulter gelegt, als ich über den unnatürlich frisierten Rasen auf sie zugehe und mich vor ihr ins Gras knie.

„Nein.“ Sie zittert am ganzen Körper und verschränkt die Arme vor der Brust. „Nein.“

„Wir konnten ihr nicht helfen“, flüstere ich verzweifelt. „Wir hatten keine Chance.“

Sie schnappt nach Luft. Ihr Gesichtsausdruck ist der einer Wahnsinnigen. „Ist sie … zu einer von denen geworden? Ist sie …“

Ich schüttele den Kopf so entschlossen, dass sich einer meiner Dutts löst und mir über die Schulter fällt. „Nein, ich …“ Ich versuche es, aber ich kann die Worte einfach nicht aussprechen. „Ehrenwort.“

Pennys Augen werden groß, sie nimmt meine Hand und stellt keine weiteren Fragen. Wenn sie es wirklich wissen will, irgendwann, werde ich es ihr sagen, aber freiwillig werde ich nie darüber sprechen, wie ich ihrer Schwester eine Kugel zwischen die Augen schießen musste. Sie schluchzt nur noch leise, und ich kenne Penny gut genug, um zu wissen, dass sie mich bei sich haben, aber keine Floskeln hören will.

Ich betrachte den See, die Wolken, die sich in der glatten Wasseroberfläche spiegeln, und die Stühle am Ufer, auf denen Dan und ich an diesem ersten Abend gesessen haben. Ich frage mich, ob er es wirklich getan hat – wie lange er wohl gewartet hat, ob das, was in seinem Flachmann war, die ganze Sache tatsächlich einfacher gemacht hat – und das Brennen in meiner Brust ist schlimmer als damals, als ich diesen furchtbaren Fusel probiert habe.

„Und John?“, fragt James, obwohl er die Antwort bereits kennt. Sein Gesicht ist angespannt und die Augen nass, aber er ist nicht überrascht, dass wir es nicht alle geschafft haben. Wahrscheinlich überrascht es ihn vielmehr, dass es überhaupt jemand von uns geschafft hat.

„Dan. Henry. Alle, die im Schulbus waren. Und wahrscheinlich alle, die in den Autos vor dem Schulbus saßen.“

Bits setzt sich an den Tisch und beobachtet Hank dabei, wie der mit dem Finger einer Einkerbung im Holz folgt. Ihre Haare sind eine wirre, verknotete Mähne. Peter steht daneben und starrt seine Stiefel an.

„Es tut mir so leid“, flüstert er. „Ich hätte sie niemals …“

Penny springt auf und legt ihm die Arme um den Hals. „Du hättest sie niemals aufhalten können, selbst wenn du gewollt hättest. Ich wusste einfach, dass es eines Tages passieren würde. Ich wusste das.“

Penny ist keine Kämpferin, aber sie ist stärker als wir alle zusammen. Anstatt selbst zusammenzubrechen, versucht sie immer noch, uns alle aufzubauen. James legt seinen Arm um ihre Taille, und sie lehnt sich mit geschlossenen Augen an ihn.

„Wir müssen bald los“, sagt er, als sei es ihm unangenehm, das Thema anzusprechen. Aber keiner von uns nimmt es ihm übel; wir wissen selber, dass wir zum Trauern eigentlich gar keine Zeit haben. „Wir warten nur noch auf Whitefield.“

Maureen tritt aus dem Steinhaus und kommt über den Rasen auf uns zu. Ihre Wangen sind eingefallen und schlaff. Sie drückt jeden von uns der Reihe nach an sich, genau so, wie meine Mutter es getan hätte, und ich versinke in ihrer weichen Umarmung.

„Es tut mir leid“, flüstere ich ihr ins Ohr.

Sie schnieft und drückt mich noch einmal extrafest an sich, dann zieht sie sich Hank auf den Schoß. Sie nimmt ihm die Brille ab und trocknet ihm sanft die Tränen. Sie selbst weint nicht, und so versuche auch ich, mir die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Ab jetzt wird nicht mehr geheult. Weinen bringt uns weder Benzin noch Essen ein, und die Tausende von Kilometern nach Alaska fährt es uns auch nicht. Das müssen wir schon selbst erledigen. Ich werde mich stattdessen auf das konzentrieren, was als Nächstes kommt, und darauf, die zu beschützen, die ich noch immer beschützen kann. Weinen kann ich immer noch, wenn wir wieder sicher hinter irgendeinem Zaun hocken.

„Kommt Whitefield?“, frage ich.

„Gabriel sagt, Whitefield hat sich hier gemeldet, als sie uns nicht erreichen konnten“, antwortet James. „Die Herde hat sie erreicht und sie sind auf dem Weg.“

Herde erscheint mir nicht das richtige Wort zu sein für das, was uns verfolgt. Es erinnert mich an diese Heere von Ameisen in Naturprogrammen. Wanderameisen heißen die, weil sie in großen Gruppen immer weiter vordringen und alles fressen, was sie auf ihrem Weg finden. Oder die Heuschreckenschwärme, die die Pioniere fast in den Wahnsinn getrieben haben. Whitefield könnte in diesem Schwarm gefangen sein. Ich glaube nicht, dass ich es ertragen könnte, an diesem verdammten Tag auch noch Nelly zu verlieren.

„Quebec kommt nicht mit nach Alaska“, sagt Maureen. „Sie wollen stattdessen irgendwo in den Norden Kanadas.“

„Da gibt es keine Sicherheitszone“, fügt James hinzu. „Sie wissen nicht, was sie da erwartet. Ein paar von unseren wollen sich ihnen anschließen.“

„Was?“, frage ich verwirrt. „Warum?“

James zuckt mit den Schultern. „Ist näher? Keine Ahnung.“

Gabriel kommt die Stufen der Veranda herunter. Er trägt eine große Kiste. Clara folgt ihm mit dem Arm voller Wintermäntel. Ich treffe sie bei ihrem Van.

„Cassie“, sagt Clara. „Wie schön, dass du hier bist und es dir gut geht. Deine Freunde haben sich solche Sorgen gemacht.“

Ich nicke. Sie braucht nicht zu hören, was passiert ist. „Ihr kommt nicht mit nach Alaska?“

Gabriel verstaut die Kiste im Wagen und erwidert: „Es ist einfach zu weit. Wir nehmen die James Bay Road nach Radisson. Da gibt es vielleicht noch andere Überlebende, und sie haben das Wasserkraftwerk.“

James ist mir gefolgt und schüttelt jetzt den Kopf. „Aber das Land ist flach. Ich glaube wirklich, bergiges Terrain wäre besser.“

„Es gibt nur eine Straße dorthin. Und viele Seen“, sagt Gabriel. Er wirft Clara einen Blick zu, und sie nickt zustimmend. „Wir denken, das Wasser wird uns beschützen. Wir schaffen es mit unseren Treibstoffreserven dorthin und riskieren nicht, auf halbem Weg nach Alaska plötzlich ohne dazustehen.“

„Die Berge im Westen sind die bessere Wahl“, argumentiert James und sieht mich an. „Es gibt schließlich einen Grund dafür, dass John und Will die als Zufluchtsort gewählt hatten, oder? Da haben wir die Cascades, die Rockies und die Alaskakette auf unserem Weg. Und in Alaska hatten sie höchstens ein Viertel so viele Lexer wie wir.“

Als ich Johns Namen höre, bleibt mir kurz das Herz stehen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob wir es überhaupt ohne ihn bis nach Alaska schaffen, aber wenn er dachte, das sei der beste Plan, dann wird er recht gehabt haben.

Gabriel seufzt. „Ja, wie du sagst, es wird sicher besser sein. Aber wir haben uns entschieden.“

Clara lächelt versöhnlich und geht wieder aufs Haus zu.

„Wir fahren in zehn Minuten“, sagt Gabriel. „Aber ihr dürft natürlich bleiben, so lange ihr möchtet. Und sagt den Leuten aus Whitefield, dass sie mehr als willkommen sind, sich uns anzuschließen, ja?“

James und ich gehen zurück an den Tisch, als Gabriel weiter packt. Zwei Männer schließen die Heckklappe eines Lasters, der mit Lebensmitteln vollgeladen ist.

„Sie haben niemals genug Lebensmittel für den Winter“, ist James sich sicher. „Ich finde, wir sollten uns an unseren Plan halten. Wir wissen, dass wir dort sicher sein werden. Und sie denken, sie seien sicher, da, wo sie hin wollen. Wenn sie feststellen, dass es doch nicht so sicher ist, wird es zu spät sein, umzukehren. Ich will einfach nur diese Bergketten um mich herum wissen.“

Ich auch. All die Fotos, die ich von Alaska gesehen habe, wo selbst die kleinsten Berge so groß sind wie die höchsten hier, schwirren mir durch den Kopf. In Alaska gibt es Essen, Schutz und Wärme; und sie haben uns gesagt, dass wir kommen sollen.

James erklärt den anderen die Situation, und Bits zieht an Peters Hand. „Also, ich will nach Alaska.“

„Keine Sorge, das wollen wir auch, mein Mädchen“, sagt Peter und streicht ihr mit abwesendem Blick übers Haar.

Die anderen Überlebenden von Kingdom Come gehen auf den kleinen Schulbus zu. Jamie und Shawn kommen auf uns zu, gefolgt von Barnaby. Ich knie mich vor ihm hin und lege meine Arme um seinen Hals; nie hätte ich gedacht, dass ich einmal so froh sein würde, diesen dämlichen Hund zu sehen. Er hüpft in einem kleinen Kreis herum und erwischt mich mit dem wedelnden Schwanz im Auge, sodass es anfängt, zu tränen.

Shawns sonst so heitere Miene ist einem müden Blick und abwärts gebogenen Mundwinkeln gewichen. Jamie untersucht Bits und Hank auf Verletzungen. Unser Arzt hat es nicht geschafft; er war mit seinem Sohn Chris im großen Schulbus. Liz, Mikayla und Ben waren in einem der ersten Fahrzeuge, aber ich kann mich nicht daran erinnern, in welchem. Vielleicht ist einer der Pick-ups ja Richtung Westen durchgekommen, und sie sind in diesem Moment nach Alaska unterwegs. Die Hoffnung ist gering, aber sie ist da.

„Fast alle gehen mit nach Norden“, sagt Shawn. „Mike und Rohan schließen sich uns an. Und Mark. Aber das war’s schon.“

Mark stellt seinen Rucksack auf der Erde ab. „Wenn ich mitkommen darf? Ich habe die Bögen schon im Pick-up untergebracht, für den Fall der Fälle.“

„Natürlich“, versichert James.

Ashley kommt auf uns zu und wirft ihren Rucksack auf den Picknicktisch. „Ich komm mit nach Alaska.“

„Wo ist Nancy?“, fragt Penny.

„Wir wurden getrennt“, antwortet Ashley. Sie schluckt schwer und blinzelt. „Sie war im großen Schulbus. Ich will mit euch mitkommen.“ Ihre Haare sind streng zu einem Dutt zusammengebunden und sie trägt ihr Messer am Gürtel, als sei sie schon eine von uns. Sie schiebt ihr bebendes Kinn vor und denkt vielleicht, dass sie das härter aussehen lässt.

„Na klar kannst du mit uns mitkommen, Ash“, sage ich.

Ashley atmet erleichtert auf, jetzt, wo sie nicht mehr taff spielen muss, und wirft einen Blick zu dem kleinen gelben Bus. „Meghan und die anderen sagen, ich soll mit ihnen gehen, aber dazu hab ich keine Lust.“

Wir folgen ihrem Blick zu der kleinen Gruppe von etwa einem Dutzend. Das sind Meghan und ihre Freundinnen, die sich unbewaffnet und mit angstvoll aufgerissenen Augen zusammendrängen. Ich kann nicht glauben, dass keine von ihnen in dieser Situation zumindest eine Schusswaffe oder ein Messer trägt. Vielleicht ist es besser, dass sie nicht mitkommen. Wir haben schon genug Probleme. Ich fühle mich schlecht, weil ich so zynisch denke, aber es ist wahr: Ich kann nur eine begrenzte Anzahl Menschen beschützen, und meiner Meinung nach sollte man spätestens mit achtzehn in der Lage sein, sich selbst zu helfen.

Wir zucken alle zusammen, als Peter laut flucht und über den Rasen läuft, wo er die kläglichen Überreste der Bewohner von Kingdom Come aus dem Weg schiebt und auf Oliver zuhält, der sich in einer Ecke verkrochen hat. Er sagt kein Wort, zerrt Oliver bloß mit der linken Hand am Hemd auf die Beine und ballt die rechte zur Faust. Ich erreiche die beiden gerade in dem Moment, als Peters Faust mitten in Olivers Gesicht landet. Die Menge murmelt überrascht, aber ganz ehrlich wundert es mich ein bisschen, dass noch niemand sonst auf dieselbe Idee gekommen ist wie Peter.

Ich hebe Olivers verbogene Brille vom Boden auf. Oliver will sich wieder auf die Erde kauern, aber Peter lässt nicht los. Ich habe ihn schon öfter wütend gesehen, aber noch nie so. Sein Blick glüht und er sieht so aus, als würde er Oliver am liebsten ins Jenseits befördern. Ein weiterer dumpfer Schlag erklingt, und Blut strömt über Olivers Schläfe und tropft an seinem Kinn herab. Ich überlege kurz, ob ich einschreiten soll, aber ich finde, ein paar hat er noch verdient – zumindest jeweils eine für Ana, John, Dan und Henry.

Oliver keucht. Sein Mund ist vor Angst aufgerissen. Er starrt mit seinem guten Auge Peters Faust an. „Es tut mir leid!“

Peter hält inne. Er wirft Oliver zu Boden und beugt sich über ihn. „Weißt du eigentlich, wie viele Menschen du heute umgebracht hast?“ Seine Stimme ist gefährlich leise. „Weißt du das? Ich hoffe wirklich für dich, dass du geplant hattest, mit den Leuten aus Quebec weiterzuziehen. Denn eins versprech ich dir: Bis nach Alaska schaffst du es nicht in einem Stück.“

Oliver schlingt die Arme um seine Knie und blinzelt Peter an. Ich halte ihm seine Brille hin, und mit seinen zitternden Fingern braucht er drei Versuche, bevor er sie sich endlich richtig auf die Nase gesetzt hat. Die anderen haben sich um uns versammelt. Penny, die sonst jegliche Art von Gewalt verabscheut, sieht zufrieden aus, aber Meghan und ihre Freunde starren Peter schockiert an. Ganz ehrlich? Die können mich kreuzweise. Das kann überhaupt jeder, der solche Angst davor hatte, auch nur auf Patrouille zu gehen. Und jeder, der mit Quebec weiterzieht. Die werden schon auf die harte Tour lernen, wie es ist, hier draußen zu überleben, und wenn eine kleine Schlägerei schon genug ist, um sie so aus der Fassung zu bringen – na dann viel Glück.

„Ich hab’s vergessen!“, wimmert Oliver leise. Seine Tränen mischen sich mit dem Blut auf seiner Wange. „Ich … ich hatte Angst. Ich hab’s ve… vergessen. Alles ging so schnell!“

Peter will die Faust schon wieder heben und hält dann doch inne, als er das erbärmliche Knäuel betrachtet, das sich auf dem Boden windet und ihm flehend, unter Schmerzen und mit bedeutendem Kraftaufwand die Finger entgegenstreckt. Ich nehme seinen Arm und führe ihn zum See. Wenn er Oliver noch weiter zu Brei schlägt, wird er es bloß bereuen. Ich spüle seine blutigen Knöchel mit Wasser aus einem Eimer ab und trockne sie mit einem Zipfel von meinem Pulli. Dann setze ich ihn auf einen der Campingstühle am Wasser.

„Warte hier, bis sie weg sind“, sage ich.

Peter nickt und starrt mit angespanntem Kiefer auf den See. Ich setze mich neben ihn, bis die Motorengeräusche in der Ferne verklingen. Wir haben heute so viele verloren, dass es sich fast ein bisschen so anfühlt wie damals vor einem Jahr, als die Welt endete. Aber das hat uns nicht den Rest gegeben – wir haben uns einfach eine neue Welt gebaut. Und jetzt ist auch die zu Ende.