Irgendwo mitten in Kanada geht die Sonne auf. Ich habe die Nacht damit verbracht, abwechselnd auf die leere Straße vor uns zu starren und im Rückspiegel Penny und die Kinder zu beobachten, die auf dem ausziehbaren Bett schlafen. Die Ausläufer von Montreal waren ziemlich nervenaufreibend, aber die letzten paar Hundert Kilometer sind entspannt gewesen, denn die Gegend war früher nur sehr spärlich besiedelt. James hat mich entweder am Steuer abgelöst oder Karten studiert, aber jetzt liegt er halb bewusstlos hinten und drückt sich das Gesicht am Waschbecken platt.
Es ist uns gelungen, hier und da Autos zu finden, deren Tank wir anzapfen konnten. Aber wir brauchen noch viel mehr, wenn wir es ganz bis nach Alaska schaffen wollen, auch mit dem Riesentank auf der Ladefläche des Pick-ups. Tony und Margaret wollten erst die Gummischläuche rausholen, aber dann haben wir ihnen Johns postapokalyptische Methode zum Stehlen von Benzin gezeigt: Schraubenzieher von unten in den Tank rammen und einen Behälter drunter halten. Er wäre stolz auf uns gewesen.
Ich stelle meine Füße aufs Armaturenbrett und beobachte den Pick-up und das Wohnmobil vor uns. Außer Nelly und Adam sind nur Kyle, Nicole, Zeke und Margaret mit uns nach Westen gekommen. Die Entscheidung, sein Motorrad in Quebec zurückzulassen, ist Zeke alles andere als leicht gefallen. Aber er hatte Angst, der Lärm könne die Lexer auf unsere Spur locken. Ich weiß, dass es nur ein Motorrad ist, aber ich versteh’s. Noch etwas aus einem früheren Leben, was es nicht mehr gibt.
Peter sitzt am Steuer. Er schaut sich kurz um, um sicherzugehen, dass die anderen schlafen, bevor er spricht. „Ich hätte das nicht tun sollen. Oliver. Ich hab ihn quasi einen Mörder genannt. Ich hab ihm angesehen, wie leid es ihm tat.“
Sein Gesicht ist angespannt. Ich wusste, dass ihn früher oder später Schuldgefühle heimsuchen würden, und das kann er nun wirklich nicht auch noch gebrauchen. Ich versuche, ihn aufzumuntern, indem ich eine Faust vor mir durch die Luft sausen lasse. „Wenn du ihn nicht gehauen hättest, hätte ich ihn mir schon vorgeknöpft.“
„Ich hab ihn in den Tod geschickt.“
„Ach, er wäre sowieso mit den anderen nach Norden gegangen“, erwidere ich. „Und vielleicht hätten wir das auch tun sollen.“
„Mitten ins Nichts? Nicht genug zu essen, keine Zäune? Eine ganze Armee von Lexern, die in dieselbe Richtung spaziert? Nee.“
„Und wenn wir kein Benzin mehr finden? Oder die Straße blockiert ist? Oder …“
„Oder wir laufen einer Herde in die Arme“, sagt Peter. „Oder irgendwelchen Verrückten. Oder es gibt einen Tornado. Oder einen Tsunami. Oder der Wagen könnte ganz einfach stehen bleiben. Alt genug ist er ja. Hab ich noch was vergessen? Nein, ich glaube, jetzt haben wir alles gesagt, was schiefgehen könnte.“
„Niemals“, sage ich und streiche mit der Hand zärtlich übers Armaturenbrett. „Volker macht nicht schlapp. Nicht wahr, Volker? Du weißt, wie lieb wir dich haben, oder?“
„Volker? Du hast dem Bulli einen Namen gegeben?“
„Klar: Volker der Volkswagen. Passt doch perfekt.“
„Du bist echt ein komischer Kauz“, sagt Peter. Aber er lacht zum ersten Mal seit gestern, und damit ist meine Mission erfüllt. „Wir wissen, dass wir erwartet werden, und dass wir einen Platz zum Ankommen haben.“
„Das stimmt, aber die Möglichkeit, dass wir niemals ankommen werden, ist reell.“
Das orangene Licht des Sonnenaufgangs verleiht dem einsamen Stück Autobahn vor uns einen magischen Schimmer und macht damit diesen Moment auf ganz eigenartige Weise zu etwas ganz Besonderem. Also ziehe ich das Handy aus der Tasche und mache ein Foto von der Straße vor uns. Dann noch eins von Peters Hand auf dem Lenkrad. Seine geschwollenen und noch immer blutigen Knöchel sind in goldenes Licht gebadet.
„Was machst du da?“, fragt er.
„Eine Fotoreportage von unserem Roadtrip. So wissen sie, wer wir waren, wenn sie unsere Leichen finden.“ Ich drücke mich gegen seine Schulter und mache ein Selfie von uns.
Peter schaltet mit ein wenig mehr Kraftaufwand, als nötig gewesen wäre. „Cassandra, jetzt hör mal auf, so pessimistisch zu sein, bitte.“
Aber wenn uns der vergangene Tag eins gelehrt hat, dann die Tatsache, dass es immer noch schlimmer werden kann. Dass es immer noch schlimmer wird. Ich will gar nicht pessimistisch sein, aber wenn man sich immer aufs Schlimmste gefasst macht, tut es nicht so weh, wenn es früher oder später eintrifft. Man kann nur hoffen.
„Ich glaube, du meinst realistisch“, sage ich.
Peter seufzt. Ich weiß, das ist es nicht, was er hören will, aber wenn wir es bis nach Alaska schaffen wollen, müssen wir praktisch denken. Wir haben keinen Platz für Wunschdenken und blindes Vertrauen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass alles gut ausgehen wird, wenn doch alles dagegenspricht.
Der Pick-up blinkt, und wir fahren rechts ran. Nelly streckt sich gähnend die Arme über den Kopf und kommt dann auf uns zu. Barnaby folgt ihm, findet irgendetwas Ekelhaftes am Straßenrand, frisst es und würgt es dann wieder hoch.
„Kurze Pause?“, fragt Nelly.
„Ich habe diese furchtbaren Instantkaffeetütchen“, sage ich. „Willst du auch eine Tasse?“
„Oh ja, bitte.“
Die anderen erwachen beim Klang von Nellys Stimme. Fee sucht laut klagend das Innere des Bullis ab. „Fee muss mal Pipi machen“, ruft Bits. „Oder groß.“
„Wie soll das denn gehen?“, fragt Peter. Hier gibt es keine Zäune, und wir können unmöglich Zeit damit verschwenden, eine Katze wieder einzufangen, die keine Ahnung hat, was auf dem Spiel steht.
Ich seufze. „Wir müssen uns mit einer pubertierenden Katze und dem dümmsten Hund der Welt herumschlagen, und du denkst immer noch, Optimismus sei die beste Lösung?“
„Pete, gib auf“, gluckst Nelly. „Sie ist einfach zu stur.“
Ich schneide eine Grimasse in seine Richtung und sage Bits, sie solle mir mal die Schnur aus meinem Rucksack geben. Bits reicht mir die Spule und fragt: „Machen wir eine Leine?“
„Auf keinen Fall. Hast du jemals versucht, eine Katze an die Leine zu nehmen? Wenn ich dir nur einen einzigen Ratschlag geben dürfte, wäre es dieser: Versuche niemals, einer Katze irgendwas um den Hals zu binden und sie auf einen Spaziergang mitzunehmen. Ich spreche da aus bitterer Erfahrung.“
Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange, als sie kichert. Fee attackiert die Schnur, als ich versuche, sie ihr umzubinden, aber schließlich gelingt es mir, eine Art rudimentäres Geschirr zu basteln und ihr anzulegen. „Ich gehe jede Wette ein, dass es ihr nicht sonderlich gefallen wird, aber zumindest wird sie sich nicht selbst damit erdrosseln.“
„Ich hab dich lieb“, sagt Bits und wirft ihre Arme um mich. Dieses Zeugnis ihrer Zuneigung ist so unerwartet und aufrichtig, dass sich meine Augen mit Tränen füllen. Ich werde sie nach Alaska bringen, in Sicherheit, und wenn es das Letzte ist, was ich auf dieser vermaledeiten Welt tun werde.
„Und ich dich erst“, erwidere ich mit brüchiger Stimme. „Mehr als alle Sterne am Himmel.“
Bits nimmt Fee von meinem Schoß und lächelt Peter zu. „Das ist nämlich unendlich.“
Sie und Hank setzen die Katze auf der grasbewachsenen Erde ab und stehen Schmiere. Fee rennt sofort los, nur um fast augenblicklich von ihrem Geschirr zurückgerissen zu werden. Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen; ich wusste, dass das passieren würde.
„Das gefällt mir“, sagt Peter. „Mehr als alle Sterne am Himmel.“
„Mir auch.“
Ich glaube, „bis ans Ende der Welt“ hat ausgedient. Das Ende der Welt ist schließlich schon eine ganze Weile her, und wir leben im Danach. Und das klingt nicht gerade poetisch.
Peter blickt durch die Windschutzscheibe den orange-goldenen Himmel an. „Gibt es wirklich unendlich viele?“
Ich sehe Dan vor mir, wie er auf dem Dach des Krankenwagens steht. Vielleicht wollte er mir sagen, dass ich nicht aufhören soll, in die Sterne zu schauen. Oder dass er mich liebt. Ich wünschte, ich wüsste, was er mir sagen wollte, denn es waren schließlich seine letzten Worte und jemand hätte sie hören müssen. Ich ignoriere den steinharten Kloß in meinem Hals und antworte: „Niemand weiß das mit Sicherheit, aber wir nehmen das einfach mal so an.“
Peter nickt und starrt weiter die Wolken an. Ich kann nur annehmen, dass er an Ana denkt, und lege ihm tröstend die Hand auf die Schulter, ehe ich aus dem Wagen klettere, um den Campingkocher aufzubauen.
„Kaffee?“, frage ich Penny.
Penny wirft den Tüten mit dem Instantkaffee einen sehnsüchtigen Blick zu. Sie hat zwar geschlafen, aber das sieht man ihr nicht an. „Ich soll ja eigentlich ni…“
„Also ja.“
Vor lauter Vorfreude auf den Kaffee bietet Penny an, den Kocher aufzubauen. Ich gehe mir die Zähne putzen, statte dem Gebüsch einen Besuch ab und lege mich dann neben dem Bulli ins Gras. Alles tut mir weh. Ich bin erschöpft und bedrückt. Ich schaue in die Gesichter von denen, die uns geblieben sind, aber stattdessen sehe ich nur die, die wir verloren haben. Die Löcher, die sie in unserem Leben hinterlassen haben. Die Leere.
Ich weiß, dass nicht alle von uns es bis nach Alaska schaffen werden. Einige von uns vielleicht, aber nicht wir alle. Auf keinen Fall. Es wird noch mehr Löcher geben, noch mehr Leere. Und der Gedanke ist so entmutigend, dass ich am liebsten einfach hier liegen bleiben möchte, bis Gras über meinen Körper wächst. Meine erzwungene praktische Entschlossenheit verdampft wie der Tau im warmen Licht der aufgehenden Sonne, und alles, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass wir alle sterben werden, einer nach dem anderen. Ich wünschte, Ana wäre hier – sie würde mich anschreien, dass ich mich zusammenreißen und lieber eine Runde joggen soll, statt rumzujammern. Und mit John hätten wir es ganz sicher geschafft – zumindest wäre er in der Lage gewesen, mir das Gefühl zu geben, dass wir es schaffen können.
Peter kommt auf mich zu und stupst mich sanft mit seinem Schuh an. „Der Kaffee ist fertig. Wollen wir weiter?“
Er folgt meinem Blick, und an seinen herabhängenden Schultern sehe ich, dass auch er die Löcher und die Leere sieht. Aber dann richtet er sich auf und reicht mir seine Hand. Ich weiß wirklich nicht, wie er es schafft, so zuversichtlich zu lächeln. Übung, wahrscheinlich. Er hat schließlich jahrelange Erfahrung damit, mit den Geistern seiner Vergangenheit zu leben.
„Alles wird gut“, sagt er.
Und ich sehe, dass er es glaubt. So verrückt das auch sein mag. Und dass er es glauben muss. Vielleicht kann man sich wirklich aussuchen, was man glaubt. Man macht es einfach gut, egal, was das Leben einem in den Weg legt. Vielleicht ist Glück etwas, wofür man sich entscheidet. Und das erscheint mir besser als die Alternative. Pessimismus steht mir nicht, glaube ich. Er hilft mir auf die Beine und ich halte mich an ihm fest, während wir auf den Bulli zugehen.
Bits lacht über irgendwas, das Hank ihr ins Ohr flüstert. Einen seiner Witze vielleicht. Er blinzelt durch die dicken Gläser seiner Brille wie eine Eule, und ich spüre, wie sich mein Herz ein wenig weitet, um neben Bits Platz zu machen für diesen klugen, lustigen kleinen Jungen. Er mag sich manchmal viel erwachsener benehmen, als er mit seinen zehn Jahren sollte, aber eine Mutter braucht er trotzdem.
Ich lasse meinen Blick über die Straße gleiten, die uns gen Westen bringen wird. Er wirkt so leer und verlassen, sieht so einsam aus, dieser Weg ins Unbekannte. Und er sieht unendlich weit aus. So fühlt es sich jedenfalls an. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie alles gut werden soll.
Aber dann sehe ich Nelly und Adam, die sich einen schnellen Kuss geben, bevor sie wieder in den Pick-up steigen. Ich sehe, wie Jamie ihren Arm um Ashley legt und mit ihr zum Wohnmobil geht. Kyle schenkt mir eins seiner seltenen Grinsen, als ich Nicole anlächle, die auf den Schultern ihres Vaters sitzt und seinen Kopf als Trommel missbraucht.
Es gibt noch so viel Liebe in der Welt. So viel Hoffnung. Und so viel zu verlieren. Aber wenn ich den Teil außen vor lasse und mich ganz fest auf die Liebe und die Hoffnung konzentriere, dann gelingt es mir fast, auch daran zu glauben. Ich hatte meine Chance. Hätte aufgeben und mich von Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit übermannen lassen können. Aber damit ist Schluss – diese Welt kriegt mich nicht klein.
„Ja“, sage ich und drücke Peters Hand, bevor ich sie loslasse. „Alles wird gut.