12

Aber ich bin doch längst achtzehn, Mama.« Etty hatte das Gefühl, dass sie rot vor Empörung war. Sie hasste es, sich mit ihrer Mutter zu streiten, doch in diesem Fall war sie entschlossen, nicht nachzugeben. »Du hast gesagt, wenn ich achtzehn bin, würdet ihr mir erlauben, nach Europa zu gehen.«

»Nicht so ganz, meine Liebe. Ich habe gesagt, wir würden dir nicht erlauben fortzugehen, bevor du achtzehn bist.« Meggan sprach mit leiser und ruhiger Stimme in der Hoffnung, dass ihre Tochter sich ebenfalls beruhigen würde.

»Das heißt für mich, dass ihr bereit seid, mich gehen zu lassen, sobald ich achtzehn bin. Papa und du, warum stellt ihr euch nur so an? In wenigen Monaten werde ich neunzehn. Man hat mir das Angebot meines Lebens gemacht, und ihr behandelt mich immer noch wie ein Kind.«

Sie wandte sich von ihrer Mutter ab und schob trotzig die Unterlippe vor. Die Gärten und Weiden waren durchnässt vom kalten Winterregen. Im Salon brannte ein behagliches Feuer, doch Etty war trotz der wohligen Wärme deprimiert. Der Ehrgeiz brannte in ihr wie ein Feuer, während sie zugleich die kalte Furcht gepackt hatte, ihre größte Chance zum Ruhm zu versäumen.

Meggan seufzte. Ihre schöne, talentierte Tochter verdiente es, ihre Karriere in den großen Opernhäusern Europas voranzutreiben. Die Sängerin in ihr wünschte ihrer Tochter Ruhm und Erfolg. Doch als Mutter hatte sie das Bedürfnis, ihre Tochter in ihrer Nähe zu behalten. Sie brachte ein weiteres Argument vor, das dagegen sprach, dass Etty Australien verließ.

»Etty, dein Vater und ich haben uns schon viele Male über deine Zukunft unterhalten. Es hat ihm immer widerstrebt, dass du so weit von uns fortgehst. Und wo gerade erst der Krieg zwischen Frankreich und Preußen beendet ist, möchte keiner von uns, dass du nach Europa gehst.«

Mit einem entnervten Stöhnen stieß Etty die Arme in die Luft und hätte am liebsten mit dem Fuß aufgestampft. »Ich werde nach Italien gehen, Mama, nicht nach Frankreich oder Preußen.«

»In Italien hat es in den letzten Jahren auch politische Probleme gegeben. Und man weiß nie, was es in solchen Ländern sonst noch für Unruhen geben könnte. Du wirst in Melbourne und in Sydney gefeiert, Etty. Genügt dir das denn nicht?«

Meggan wusste, dass es das nicht tat. Ettys spöttischer Blick bestätigte das nur.

»Ich habe gedacht, dass gerade du das verstehen würdest.«

»Ich verstehe es ja. Aber als Mutter bin ich auch um dein Wohlergehen besorgt, Etty. Außerdem hast du uns nicht mal informiert, dass du beim italienischen Opernensemble vorsingst«, sagte sie in leicht tadelndem Ton.

»Das hab ich niemandem erzählt.«

»Absolut niemandem? Du bist ganz heimlich zu diesem Vorsingen gegangen?«

»Madame hat es gewusst. Sie hat das Vorsingen ja auch arrangiert. Und Alistair hat es gewusst.«

»Warum hast du deinem Vater und mir nichts davon gesagt?« Da Meggan als Antwort nur einen mürrischen Blick erntete, fuhr sie in etwas barscherem Ton fort. »Wann genau hat dieses Vorsingen überhaupt stattgefunden?«

»Am letzten Dienstag.«

Meggan war so überrascht und schockiert, dass sich nun eine leichte Verärgerung in ihre Stimme schlich. »Also einen Tag bevor dein Vater und ich nach Melbourne gekommen sind, um mit dir in die italienische Oper zu gehen?«

Etty nickte.

»Oh Etty, wie konntest du so ein wichtiges Ereignis nur für dich behalten? Ich habe immer gedacht, dass du uns deine Erfolge immer sofort mitteilen würdest.«

Etty zappelte nervös herum. Es behagte ihr nicht, dass ihre Mutter ihr unterstellte, sie hätte sich falsch verhalten. Sie musste sich verteidigen.

»Mama, da wusste ich doch noch gar nicht endgültig, ob man mich nehmen würde. Signor Ruggeiri wollte, dass ich noch ein Duett mit Benito Relia singe, bevor er sich entscheidet. Ich wollte nicht, dass irgendwer von dem Vorsingen erfährt, für den Fall, dass man mich ablehnt. Der Signor ist noch sparsamer mit Lob als Madame. Ich habe erst vor zwei Tagen die gute Nachricht erhalten, dass ich in das Ensemble aufgenommen werde. Und da bin ich sofort nach Hause gefahren, um es euch persönlich zu sagen, anstatt euch einen Brief zu schreiben.«

»Zumindest damit hast du eine gewisse Rücksicht deinen Eltern gegenüber bewiesen«, räumte Meggan ein, auch wenn sie keineswegs besänftigt war.

»Bitte, Mama. Papa und du, ihr dürft mich nicht daran hindern zu gehen.« Sie bettelte so, wie sie es als Kind getan hatte, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollte. »Ich habe mein ganzes Leben davon geträumt, eine große Sopranistin zu werden.« Sie kniete sich vor ihre Mutter und ergriff beschwörend ihre Hände. »Mama, ich könnte ja deine Bedenken verstehen, wenn ich nur in der Hoffnung nach Übersee ginge, dass ich in ein Ensemble aufgenommen werde. Aber das ist nicht der Fall. Meine Zukunft ist gesichert.«

Meggan löste eine Hand und streichelte ihrer Tochter über die Wange. Sowohl ihr Herz als auch ihr Verstand waren aufgewühlt. Sie konnte die Leidenschaft, die Etty trieb, gut verstehen. War es bei ihr nicht genauso gewesen – bis sie sich verliebt hatte? Wenn Etty sich verlieben und heiraten würde, dann würde es ihr vielleicht genügen, in Australien zu bleiben.

»Wie geht es Alistair?«, fragte Meggan, sobald ihr der Gedanke kam, dass Etty vielleicht heiraten könnte.

Etty stand abrupt auf. »Willst du das Thema wechseln?« Sie entfernte sich ein paar Schritte, bevor sie ihre Mutter wieder ansah. Sie hatte die Augenbrauen so zusammengezogen, dass all ihre Opernkollegen sofort ihren Unmut erkannt hätten. Als ihre Mutter zu dem Vorwurf keine Stellung nahm, zuckte Etty mit den Schultern. »Alistair geht es gut.«

»Hast du ihn sehr gerne, Liebes? Ich habe doch gesehen, wie gut ihr euch versteht.«

Etty kniff die Augen zusammen. »Was willst du damit sagen, Mutter?« Das Wort »Mutter« klang so spitz wie die Stacheln eines Ameisenigels.

Meggan ignorierte Ettys gereizte Reaktion. »Als verheiratete Frau bräuchtest du nicht die Erlaubnis deiner Eltern, um reisen zu können.«

»Verheiratet!« Sie lachte verächtlich. »Willst du etwa, dass ich Alistair heirate?«

»Warum nicht? Dein Vater und ich halten ihn für einen äußerst passenden jungen Mann. Er wird deine Karriere unterstützen, wohingegen ein anderer Mann vielleicht nicht will, dass seine Frau auf der Bühne steht. Seit dem Tag, an dem ihr euch kennengelernt habt, seid ihr gute Freunde.«

»Genau, Mama. Alistair und ich sind gute Freunde. Wir sind kein Liebespaar.«

»Ich wollte nicht unterstellen …«

Etty schüttelte abschätzig den Kopf. »Ich weiß, dass du das nicht wolltest«, erklärte sie unwirsch. »Vielleicht sollte ich besser sagen, dass wir nicht verliebt sind. Nicht so wie Eheleute es sein sollten. Alistair ist für mich wie ein Bruder.«

»Viele gute Ehen beruhen auf sehr viel weniger Zuneigung.«

»Eine solche Ehe will ich nicht. Ich will meinen Mann lieben, so wie du und Papa euch liebt.«

Meggan schenkte ihrer Tochter ein warmes Lächeln. »Jede Frau wünscht sich Liebe, Etty, doch nur wenige finden die perfekte romantische Liebe. Dein Vater und ich haben großes Glück gehabt. Liebenswürdigkeit und Rücksicht von einem Mann, den man gerne hat, ist sehr viel mehr, als viele Frauen in der Ehe erleben.«

»Kann schon sein. Bloß gibt es bei deinem Vorschlag, dass ich Alistair heiraten soll, ein kleines Problem. Alistair müsste mich ja auch heiraten wollen, und ich weiß, dass er das nicht tut.«

Das machte Meggan neugierig. »Habt ihr denn schon einmal über eine Heirat gesprochen?«

»Nicht so, wie du das hoffst«, sagte Etty spöttisch.

Meggan beschloss, den Tonfall ihrer Tochter zu ignorieren. »In welcher Weise habt ihr denn übers Heiraten gesprochen?«

»Ganz allgemein im Laufe eines Gesprächs.«

»Ich fände es schön, wenn ihr mal weniger allgemein über das Thema sprechen würdet. Alistair wäre uns als Schwiegersohn auf jeden Fall willkommen.«

Doch Etty kniff die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Ohne genau zu verstehen, wie so etwas sein konnte, wusste Etty, dass Alistair nie heiraten würde. »Ich fühle mich nicht sexuell zu Frauen hingezogen, Etty«, hatte er ihr eines Abends unverblümt erklärt, als es gerade so schien, als würde ihre Beziehung ein wenig intimer. »Ich bin nicht imstande, mit einer Frau zu schlafen.«

Alistair hatte fast damit gerechnet, dass er nach diesem Eingeständnis ihre Freundschaft verlieren würde, doch hatte Etty von Anfang an gewusst, dass er irgendwie anders war als andere Männer. Er würde immer ihr bester Freund sein, ihr Vertrauter. Etty sah jedoch keinen Grund, ihrer Mutter zu erklären, was mit Alistair los war. Stattdessen wechselte sie das Thema, was dann allerdings aufgrund ihres Frusts ein wenig sarkastisch ausfiel.

»Erlaubt ihr mir denn, Louisa allein zu besuchen, oder brauche ich dafür auch einen Anstandswauwau?«

»Wenn du in dem Ton mit mir redest, junge Dame, dann werden wir dir überhaupt nicht erlauben, Louisa zu besuchen, weder allein noch mit Begleitung. Entschuldige dich.«

Etty sah ein, dass sie zu weit gegangen war. »Es tut mir leid, Mama. Ich hätte nicht in dieser Weise mit dir reden dürfen.«

Meggan neigte den Kopf. »Ich nehme deine Entschuldigung an. Mir ist klar, dass du zurzeit ein wenig aufgewühlt bist.«

»Natürlich bin ich aufgewühlt.« Etty wollte gerade erneut die Diskussion über Italien beginnen, da kam Ruan herein und fragte: »Willst du mit mir reiten gehen, Etty?«

Sofort war das Thema Italien vergessen. »Oh ja! Wo willst du denn hin?«

»Guten Morgen, Ruan«, tadelte Meggan ihren Sohn in ironischem Ton wegen seiner schlechten Manieren. Ruan grinste nur.

»Tut mir leid, Mama. Ich bin ein bisschen in Eile. Wenn du mitkommen willst, Etty, solltest du dich rasch umziehen.«

»Ich beeil mich.« Etty raffte ihre Röcke und hastete unelegant aus dem Zimmer. In weniger als zehn Minuten war sie zurück und trug jetzt einen braunen Hosenrock und eine dunkelblaue Bluse, dazu einen breitkrempigen Strohhut. Sie lief direkt zur Rückseite des Hauses, wo ihr Bruder auf sie wartete.

Ruan grinste sie anerkennend an. »Ich wette, so schnell hast du dich noch nie umgezogen. Jetzt komm, unsere Pferde sind sicher schon für uns bereit.«

Etty hatte ihre Stute bisher nur über den Weidezaun hinweg gestreichelt, seit sie vor zwei Tagen nach Hause gekommen war. Das war jetzt der erste Ritt. Mirabelle schien es auch zu gefallen, dass Etty auf ihrem Rücken saß.

»Wenn wir draußen auf der Weide sind, lasse ich sie galoppieren. Das wird dir gefallen, nicht wahr, Mirabelle?« Sie tätschelte den Hals ihres Pferdes, woraufhin die Stute vergnügt wieherte.

Ruan lachte. »Obwohl ich sie bewege, wenn du nicht da bist, weiß Mirabelle genau, dass du ihre Herrin bist.«

»Ich habe sie bekommen, als ich zwölf war und sie drei. Sie weiß, dass ich sie gernhab. Ich vermisse sie sehr.«

»Du solltest häufiger nach Hause kommen. Ich vermisse dich auch, Schwesterherz.«

»Ich vermisse meinen kleinen Bruder ebenfalls.« Sie lachte, weil Ruan mittlerweile ein ganzes Stück größer war als sie. Dann lächelten sie sich auf diese besondere Weise an, wie das nur Geschwister können.

Ruan zeigte geradeaus. »Sieh mal das Tor dahinten im Zaun. Wer als Erster da ist.«

Sie galoppierten Kopf an Kopf über die Weide. Etty erreichte das Tor ganz knapp vor Ruan. Kurz davor bogen sie scharf in entgegengesetzter Richtung ab und ritten ein Stück am Zaun entlang, um ihren Pferden genügend Auslauf zu geben, vom Galopp zurück in den Schritt zu kommen. Dann drehten sie um und trafen sich wieder am Tor. Ruan stieg ab, um es zu öffnen, führte sein Pferd hinter Etty und Mirabelle hindurch, schloss das Tor und stieg wieder auf.

»Ich wünschte, ich hätte den Mut, über das Tor zu springen, wie Darcy es getan hätte«, sagte Etty.

Ruan schnaubte. »Das ist doch wohl nicht dein Ernst. Ich würde jedenfalls nicht versuchen darüberzuspringen.« Das Tor hatte einen massiven Holzrahmen, und der oberste Balken war so stabil, dass sich ein Pferd daran die Fesseln brechen konnte. »Darcy ist ein viel besserer Reiter als wir beide und ein richtiger Waghals.«

»Goonda ist außerdem viel feuriger als Mirabelle oder deine Rosie. Ob Darcy uns wohl vermisst, seit er mit seinen Eltern auf Riverview lebt?«

»Er hat ein paarmal geschrieben. Er scheint ganz zufrieden zu sein. Ich muss zugeben, dass ich ihn vermisse und Louisa auch. Ich vermisse sogar die ganzen Benedicts. Es ist furchtbar ruhig hier, seit die Kinder alle weg sind.«

»Papa hat mir erzählt, dass er vorhat, eine neue Familie einzustellen.«

»Er hat bereits mit zwei Familien gesprochen und gesagt, dass er keine von beiden für geeignet hält, hier auf Langsdale zu leben.«

»Ich hab den Mann noch nicht kennengelernt, den Papa für Nelson eingestellt hat. Wie ist er denn so?«

»Ehrlich gesagt, Etty, ich mag den Buschen nicht. Er ist ein guter Arbeiter und scheint sich mit Schafen auszukennen. Aber er hat etwas an sich, was mir nicht gefällt. Ich habe das Gefühl, dass er irgendwas vor uns verbirgt.«

»Du meinst etwas aus seiner Vergangenheit, das niemand wissen soll?«

»Nein, das nicht. Eher etwas in seinem Charakter, das nicht gut ist. Er hat schon ein paarmal abfällige Bemerkungen mir gegenüber gemacht, weil ich der Sohn vom Boss bin. Natürlich nur, wenn Papa es nicht hören konnte.«

»Hast du Papa davon erzählt?«

»Papa braucht mich nicht zu verteidigen. Komm, lass uns noch ein bisschen galoppieren. Wir müssen bald umkehren.«

Sie trieben ihre Pferde zu einem kurzen Galopp an und ließen sie dann im Schritt nach Hause gehen.

»Ich muss dir unbedingt was erzählen, Ruan. Du wirst ganz überrascht sein.«

»Darf ich raten? Du hast unsere Eltern überredet, dass sie dich nach Europa gehen lassen.«

»Nein.« Etty zog die Mundwinkel herunter. »Und ich glaube auch nicht, dass ich sie noch überreden kann. Ich bin sauer auf Mama. Ich hab gedacht, sie würde mich unterstützen.«

Nun ließ sich Etty etwa eine Minute lang über ihren ganzen Verdruss aus, bis Ruan es nicht mehr hören konnte.

»Was wolltest du mir denn eigentlich erzählen?«

»Das wirst du niemals raten, Ruan. Ich hab Mama auch noch nichts davon gesagt. Ich glaube, Mr Boniface wird Madame bald einen Heiratsantrag machen.«

»Was!« Ruans Reaktion war so heftig, dass sein Pferd nervös zu tänzeln anfing. Als er es wieder unter Kontrolle hatte, sah er Etty an. »Soll das ein Witz sein? Boney und deine verrückte Madame Marietta?«

»Ich weiß, man kann es sich kaum vorstellen.« Etty lachte. »Doch sie verbringen viel Zeit miteinander und genießen das offenbar sehr.«

»Mich trifft der Schlag«, erklärte Ruan und benutzte einen von Neds Lieblingsaussprüchen. »Wenn das tatsächlich passiert, wird Madame vielleicht nicht mit dir nach Europa wollen.«

»Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht, deshalb habe ich Mama nichts davon gesagt. Aber dir wollte ich es auf jeden Fall erzählen.«

»Ich bin froh, dass du es getan hast. Haha! Madame und Boney! Was für ein merkwürdiges Paar die abgeben werden.«

»Irgendwann in einem Gespräch mit Alistair ist mir klar geworden, dass Madame eine sehr einsame Frau ist. Sie hat keine Familie, die sich um sie kümmert, wenn sie nicht mehr alleine zurechtkommt. Vielleicht ist das bei Boney auch so.«

Ruan dachte über die Vermutung seiner Schwester nach. »Da hast du vielleicht recht, Etty. Der gute alte Boney hat auch keine Familie. Zwei einsame Menschen, die beieinander Trost suchen.«

»Ich glaube nicht, dass es den beiden um Trost geht. Das ist jedenfalls nicht der Hauptgrund. Trotz ihrer ganzen Exzentrik ist Madame sehr intelligent. Boney und sie können stundenlang über Themen diskutieren, über die die meisten Leute nichts wissen oder für die sie sich nicht interessieren.«

»Ich hab den alten Boney immer gemocht. Er war – ist – ein guter Lehrer.«

»Madame ist auch eine gute Lehrerin, auf ihrem Gebiet. Doch wenn sie ihre Wutausbrüche kriegt, bin ich manchmal froh, dass ich Alistairs Unterstützung habe.«

»Wie geht es Alistair? Du magst ihn sehr gerne, nicht wahr?«

»Ach, Ruan, du bist genauso schlimm wie Mama.«

»Was soll das denn heißen?«

»Mama hat mehr oder weniger vorgeschlagen, ich sollte Alistair heiraten. Sie hat gesagt, wenn ich einen Ehemann hätte, brauchte ich nicht die Erlaubnis meiner Eltern, um nach Europa zu reisen. Mein Mann wäre dann für mich verantwortlich.«

»Ich weiß doch, dass du unbedingt nach Italien willst. Warum heiratest du Alistair nicht einfach? Scheint mir die perfekte Lösung, wenn unsere Eltern dir die Reise nicht erlauben.«

»Ich will Alistair nicht heiraten und er mich auch nicht.«

»Vielleicht solltest du mal ernsthaft darüber nachdenken. Ich mag Alistair, und irgendwann musst du sowieso heiraten.«

»Ich sehe nicht ein, weshalb ich unbedingt heiraten muss. Außerdem hast du Darcy vergessen.«

Ruan schnaubte verächtlich. »Darcy wird dich niemals heiraten. Du bist dumm, wenn du glaubst, dass er das tut.«

Etty ärgerte sich über die abschätzigen Worte ihres Bruders. »Du hast ja keine Ahnung, Ruan. Seit dem Buschfeuer haben Darcy und ich eine Abmachung. Wir haben uns versprochen, aufeinander zu warten.«

Ruan schnaubte noch lauter. »Du meinst, dass Darcy so lange auf dich warten soll, bis du die Nase voll von Ruhm und Reichtum hast. Nach allem, was ich höre, ist er auf Riverview ganz glücklich. Er wird ein Mädchen heiraten, das mit dem Leben auf einer Schaffarm zufrieden ist.« Er schüttelte den Kopf, als Etty ihm widersprechen wollte. »Du würdest dich niemals mit so einem Leben abfinden. Jetzt nicht mehr.«

Etty schwieg, weil sie wusste, dass ihr Bruder recht hatte. Andererseits liebte sie Darcy immer noch und wünschte sich so sehr, dass er sie auch immer noch liebte. An diesem Abend schrieb sie ihm einen langen Brief und erzählte ihm von ihrem Leben, ihren Hoffnungen und Träumen. Sie beendete den Brief mit den Worten:

Du bist mir immer noch sehr wichtig, und ich hoffe, dass ich Dir das auch bin.

Liebe Grüße

Deine Freundin Etty

Nachdem sie ihren Stift hingelegt hatte, fragte sie sich, ob Liebe Grüße, deine Freundin Etty die richtigen Worte gewesen waren. Den Brief einfach nur mit ihrem Namen zu unterschreiben wäre ein zu abruptes Ende, doch eine intimere Formulierung wie Dein Schatz Etty schien ihr auch nicht angemessen, da sie nicht wusste, was er augenblicklich für sie empfand. Wenn er antwortete, würde sie wissen, ob sein Herz noch für sie schlug. Damit tröstete sie sich.

Etty nahm den Brief mit, als sie am nächsten Tag in die Kutsche nach Bendigo stieg. Von dort aus würde sie mit einer anderen Kutsche weiter nach Swan Hill fahren. Wenn sie den Brief in Swan Hill aufgab, erreichte er Darcy wahrscheinlich eher, als wenn sie ihn in Creswick abgeschickt hätte.

Jack Benedict, der mittlerweile fast eins achtzig groß war, war mit Louisa nach Swan Hill gekommen, um Etty abzuholen. Die beiden Mädchen umarmten sich herzlich und vergossen aus Freude über das Wiedersehen sogar ein paar Tränen.

Louisa trat einen Schritt zurück, um Ettys modisches Reisekleid aus weichem beigefarben kariertem Wollstoff zu bewundern. Es bestand aus einem dreifachen Rock mit Rüschen und einem eng anliegenden Oberteil. »Wie schön du aussiehst, selbst nach einer so langen Kutschfahrt. Meine Güte, Etty, du bist jetzt eine richtig modische junge Dame. Und ich sehe noch genauso aus wie immer, habe mich überhaupt nicht verändert. Neben dir komme ich mir ganz unscheinbar vor.«

»Unsinn, Louisa. Du hast dich schon verändert. Du siehst erwachsener aus, selbstbewusster.« Außerdem fiel Etty auf, auch wenn sie es nicht sagte, dass Louisa mit ihrem goldenen Haar und den auffälligen blauen Augen immer hübscher wurde.

»Wenn ich mich tatsächlich so verändert habe, wie du sagst, muss das daran liegen, dass ich mit der ganzen Buchhaltung für die Farm eine große Verantwortung habe.« Sie hakte Etty ein, während sie Jack folgten, der Ettys Gepäck trug. »Was hältst du von Jack? Ma behauptet, er wäre fünfzehn Zentimeter gewachsen, seit wir auf Narabulla sind.«

»Ich glaube, da hat Tante Agnes recht. Oh, ich bin ja so froh, wieder bei dir zu sein, Louisa. Und ich freue mich so sehr, euer neues Zuhause und die ganze Familie zu sehen.«

»Ich wünschte, du könntest länger bleiben als nur zwei Tage.«

»Ich muss am Samstag zurück nach Melbourne. Man hat mich nur kurz von der Arbeit beurlaubt.«

»Arbeit! Wie kannst du dein glanzvolles Leben als Arbeit bezeichnen?«

Etty lachte. »Mein Leben ist nicht nur Glanz. Da steckt auch eine Menge harter Arbeit dahinter. Neue Opernpartituren lernen, Übungsstunden, Bühnenproben, Kostümanproben. Manchmal bin ich morgens so müde, dass ich am liebsten den ganzen Tag im Bett bleiben würde, statt zur Probe zu gehen.«

»Aber du würdest doch dein Leben mit niemandem tauschen wollen?«

Etty schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich tue das, wovon ich mein Leben lang geträumt habe, Louisa. Ich wäre am Boden zerstört, wenn ich aus irgendeinem Grund das Singen aufgeben müsste.«

»Noch nicht mal aus Liebe oder für eine Ehe?«

Etty runzelte die Stirn. Warum sprachen sie plötzlich alle aufs Heiraten an. »Ich würde niemals ohne Liebe heiraten, Louisa. Wenn ich einen Mann genug liebte, um ihn zu heiraten, würde ich erwarten, dass er mich auch so sehr liebt, dass er mein Leben nicht ändern will.«

Louisa war anderer Meinung. »Eine Frau sollte ihrem Mann folgen, nicht umgekehrt. Ich würde mein Leben ändern, um mich meinem Mann anzupassen.«

»Natürlich würdest du das. Doch unsere Lebensumstände sind völlig anders.« Genauso wenig waren sie vom Charakter her ähnlich, auch wenn sie sich so nahestanden wie Schwestern. Etty wusste, dass sie von Natur aus leidenschaftlich war. Louisa war sanft und lieb, so wie immer schon.

Inzwischen waren sie beim Wagen angekommen, wo Jack, der Ettys Gepäck bereits hinten eingeladen hatte, darauf wartete, den Mädchen hinaufzuhelfen. Von nun an wurde bis zum Ende von Ettys kurzem Besuch nicht mehr über Liebe und Ehe gesprochen. Angesteckt von der herzlichen Atmosphäre, die in der Familie Benedict herrschte, entspannte sich Etty und lachte sehr viel. Als sie wieder abreiste, kam ihr Europa endlos weit entfernt von den Menschen vor, die sie liebte.

Im Zug zurück nach Melbourne dachte sie ausgiebig über Karriere, Liebe und Ehe nach. Sie dachte auch viel an Darcy, erinnerte sich daran, wie nahe sie sich auf der Flucht vor dem Buschfeuer gekommen waren, an Zeiten, da sie sich gestritten hatten, und an die Male, als sie sich ewige Liebe versprochen hatten. Von irgendwoher kam ihr eine Erinnerung aus frühester Kindheit, wie sie Darcy geküsst und ihm gesagt hatte, dass sie ihn lieb habe. Sie lächelte gedankenversunken und fragte sich, was Darcy ihr wohl auf ihren Brief antworten würde.

Schon nach wenigen Tagen in Melbourne wurden die nostalgischen Gedanken an Familie und Freunde durch andere Dinge verdrängt. Völlig aufgeregt kam Madame keuchend ins Zimmer, wo sich Etty mit Alistair unterhielt. Sie schwenkte einen Brief in der Hand, der gerade erst zugestellt worden war.

»Etty, du musst sofort zu Signor Ruggeiri gehen, er will dich dringend sprechen.« Sie zerknautschte den Brief mit den Händen und drückte ihn an ihren wogenden Busen. Ihre Augen funkelten. »Der Signor muss dir etwas sehr Wichtiges mitzuteilen haben.«

Obwohl dieses plötzliche Ansinnen sie völlig überraschte, bemühte sich Etty, ihre Aufregung zu unterdrücken. »Madame, vielleicht will der Signor mir ja nur sagen, dass er seine Meinung geändert hat und mich nicht nach Italien mitnehmen will.«

»Nein, nein. Er ist ganz verliebt in deine Stimme. Das hat er mir selbst gesagt. Zieh dich rasch um, damit du dich sehen lassen kannst. Alistair, besorgen Sie uns eine Droschke.« Nachdem Madame diese Anweisungen erteilt hatte, ließ sie sich in einen Sessel plumpsen und fächelte sich mit dem Brief heftig Luft zu. Sie war völlig außer Atem vor Aufregung, und ihr Herz flatterte auf beunruhigende Weise in ihrer Brust. Als Etty einige Minuten später die Treppe herunterkam, hatte das starke Herzklopfen zum Glück nachgelassen.

Es begann jedoch von Neuem, als sie mit Etty bei Signor Ruggeiri saß und hörte, weshalb er Etty so dringend hatte sprechen wollen.

»Gestern hat es einen äußerst bedauernswerten Unfall gegeben. Unsere reizende Donna Bella ist auf der Treppe im Hotel gestolpert. Sie weiß nicht, wie es passiert ist, und ich weiß es auch nicht, obwohl ich im Foyer auf sie gewartet habe und sie fallen sah. Im ersten Moment war ich starr vor Entsetzen, weil ich befürchtete, der Sturz könnte tödlich gewesen sein, doch dann schrie sie, und ich habe mich ein wenig beruhigt. Allen, die ihr zu Hilfe eilten, war rasch klar, dass sie nicht vor Schreck, sondern vor Schmerzen schrie. Ihr rechtes Bein ist ziemlich übel gebrochen.«

»Wie furchtbar«, rief Etty. »Donna Bella ist die wunderbarste Sopranistin, die ich je gehört habe. Ich hoffe sehr, dass die Ärzte ihr Bein wieder in Ordnung kriegen.«

»Das tun wir alle. Der Chirurg war ganz optimistisch, dass Donna kein Hinken davontragen wird und dass sie sich unserem Ensemble wieder anschließen kann, bevor wir nach Neuseeland fahren.«

Etty hätte beinah gefragt, wie das Ensemble denn ohne seine erste Sopranistin zurechtkommen werde, als ihr plötzlich klar wurde, warum man nach ihr verlangt hatte. Signor Ruggeiro lächelte sie an.

»Ich sehe Ihnen an, Miss Trevannick, dass Sie bereits ahnen, was ich Ihnen sagen will. Ich möchte Sie bitten, für den Rest unserer Australien-Tournee Donna Bellas Platz in unserem Ensemble einzunehmen.«

»Oh.« War das wirklich wahr? Sollte sie, Henrietta Trevannick, ein Star des italienischen Opernensembles werden? Und das sogar, ohne Australien verlassen zu müssen? Sie spürte, wie ihre Wangen rot wurden. Ihr Herz raste, ihre Hände zitterten. Sie war überwältigt. Vor Rührung traten ihr Tränen in die Augen, die sie rasch wegblinzelte.

»Ich fühle mich sehr geschmeichelt, Signor Ruggeiri. Ich hoffe nur, dass ich Ihrem Vertrauen gerecht werde und tatsächlich Donna Bellas Part ausfüllen kann.«

»Sie werden mich nicht enttäuschen, meine Liebe. Sie haben großes Talent. Nun müssen wir über Ihre Vertragsbedingungen sprechen. Sind Sie als Miss Trevannicks Managerin einverstanden, Madame?«

Madame drückte eine Hand an ihren wogenden Busen und erklärte, dass sie absolut einverstanden sei. Sie habe nur eine Bedingung, dass Ettys Klavierbegleiter mit ihr reisen dürfe. »Sie haben seit Beginn ihrer Ausbildung zusammengearbeitet. Außerdem ist er als Lehrer fast so gut wie ich.«

»Wenn Miss Trevannick mein Star wird, nehme ich auch gerne ihren Begleiter mit.«

Damit war das geregelt. Etty begann sofort, mit dem Ensemble zu proben, denn bereits an diesem Abend sollte eine weitere Aufführung von Die verkaufte Braut stattfinden. Zum Glück war ihr die Rolle der Marenka vertraut. Obwohl sie sehr nervös war, enttäuschte sie Signor Ruggeiris Erwartungen nicht. Sie erhielt stürmischen Beifall.

Nach der Aufführung lud Alistair sie zum Essen ein. Madame wollte nicht mitkommen.

»Ich fühle mich ein bisschen müde, meine Lieben. Amüsiert euch nur gut. Wir reden morgen miteinander. Halten Sie doch bitte diese Kutsche für mich an, Alistair.«

Als die Kutsche mit Madame losfuhr, blickte Alistair ihr mit so besorgter Miene hinterher, dass Etty ihn fragte, was denn los sei.

»Madame«, sagte er und sah Etty. an. »Ist dir nichts an ihr aufgefallen?«

»Eigentlich nicht, außer dass sie ziemlich müde aussah.«

»Ist dir nicht aufgefallen, wie sie geredet hat?«

»Nein … Ach doch, das ist ja seltsam. Madame hat wie ein ganz normaler Mensch gesprochen.«

»Genau. Und wenn Madame die Rolle vergisst, die sie schon so lange spielt, kann das nur bedeuten, dass sie irgendeine große Sorge quält.«

»Meinst du, ich sollte auch nach Hause fahren, falls es ihr nicht gut geht?«

»Ich meine, du solltest jetzt etwas essen. Ich weiß nämlich, dass du den ganzen Tag kaum dazu gekommen bist.« Darauf nahm er sie am Ellbogen und führte sie zu ihrem gemeinsamen Lieblingsrestaurant.

Am nächsten Morgen kam Madame mit einem Tablett in Ettys Zimmer und rief: »Ich bringe Frühstück an Bett für die großartige Henrietta. Ah, meine Herz ist so voll. Ich habe immer davon geträumt, eine Star zu schaffen. Nun habe ich die größte Star.«

Etty nahm das Tablett lächelnd entgegen. Wenn sie Alistair später traf, könnte sie ihm glaubhaft versichern, dass mit Madame alles wieder in Ordnung war.

Während sie das Rührei und das frische Brötchen aß, die Madame ihr gebracht hatte, dachte Etty darüber nach, was ihr in den letzten vierundzwanzig Stunden passiert war. Die Vorstellung, dass sie nun die erste Sopranistin des Ensembles war, mit dem sie eigentlich hatte nach Italien reisen wollen, war fast wie ein Traum. Sie musste ihren Eltern sofort von diesem Glücksfall schreiben. Die würden sich freuen, dass sie diese Chance bekommen hatte, ohne Australien verlassen zu müssen. Vielleicht, aber auch nur vielleicht, würden sie nun auch nicht länger dagegen sein, dass Etty nach Italien ging. Diese Hoffnung sprach sie allerdings in ihrem Brief nicht aus.

Sie schrieb auch an Louisa, aber nicht an Darcy. Mit seiner Antwort auf ihren letzten Brief konnte sie erst rechnen, wenn sie von der Australien-Tournee zurück war, denn ihr Brief würde immer noch den Murray hinunter unterwegs sein. Wenn Darcy ihn erhielt, würde sie bereits auf dem Weg nach Adelaide sein.