16

Darcy ritt Richtung Süden nach Wellington, wo seit vielen Jahren eine Fähre Passagiere und Fahrzeuge über den Murray River übersetzte. Jetzt im Dezember war der Wasserspiegel stark gesunken. In einigen Gegenden war der Fluss vermutlich völlig ausgetrocknet oder nur noch ein schlammiger Tümpel. Riverview hatte das Glück, an einem tiefen Abschnitt zu liegen, wo es selbst in trockenen Jahren Wasser gab, auch wenn dies am Ende des Sommers meist trüb war und modrig roch. Einige wenige Raddampfer verkehrten immer noch im unteren Abschnitt, wo der Fluss breit und noch schiffbar war, und auf dem Lake Alexandrina, durch den der Murray floss, bevor er schließlich ins Meer mündete. Die Dampfer, die flussaufwärts nach Swan Hill, Echuca und noch weiter fuhren, hatten bereits vor einigen Wochen den Betrieb eingestellt.

In Wellington fand er einen seriösen Mietstall, wo er seine Stute Goonda unterstellen konnte, bis er zurückkam. Von der Poststation am gegenüberliegenden Ufer aus würde er die Kutsche nach Melbourne nehmen, eine Reise von etwa vierhundert Meilen, die vier Tage dauern würde. Die Postkutsche von Cobb & Co, die von sechs kastanienbraunen Pferden gezogen wurde, war ein beeindruckender Anblick. Die Karosse war dunkelrot gestrichen und an der Seite mit goldfarbenen Schnörkeln verziert. Die Räder waren leuchtend gelb, das Innere mit feinem braunem Leder verkleidet und die Sitze mit dunkelrotem Leder gepolstert.

Darcy stellte fest, dass außer ihm acht Leute mit der Kutsche fahren würden. Der erste Fahrgast, den er kennenlernte, war ein Prediger, ein großer, gebeugter, ausgemergelt aussehender Mann mit einer Bibel unterm Arm, dessen säuerliche Miene deutlich zu verstehen gab, dass er nicht den Wunsch hatte, sich mit seinen Mitreisenden zu unterhalten. Sobald er in der Kutsche saß, schlug er sofort seine Bibel auf und vertiefte sich in die Lektüre. Er ließ sich noch nicht mal von der geschwätzigen Frau stören, die mit ihrem Ehemann einstieg.

Sie war eine korpulente Frau und bestand darauf, auf der vorderen Sitzbank mit dem Rücken in Fahrtrichtung zu sitzen, um möglichst wenig von dem Staub abzukriegen, der von den Hufen der Pferde und den Rädern aufgewirbelt wurde. Da sie es rigoros ablehnte, auf der gegenüberliegenden Bank Platz zu nehmen, zwang sie die übrigen Fahrgäste, sich entsprechend ihren laut verkündeten Wünschen umzusetzen. Ihr dürrer sanftmütiger Mann entschuldigte sich derweil verlegen bei den von seiner Frau herumkommandierten Fahrgästen. Da für jeden Fahrgast nur knapp vierzig Zentimeter Sitzfläche zur Verfügung standen, nahm sie mehr als den ihr zustehenden Platz in Anspruch. Wie gut, dass ihr Mann seine vierzig Zentimeter kaum ausfüllte, dachte Darcy ironisch.

Der ausgemergelte Priester wählte den Fensterplatz neben dem Ehemann. Darcy machte es nichts aus, sich auf die Rückbank zu setzen. Ihm war egal, in welche Richtung er guckte. Neben ihm saß eine hochschwangere junge Frau. Bei den übrigen Fahrgästen handelte es sich um vier junge Männer, die sich offenbar untereinander nicht kannten.

Mit einer sanften Schaukelbewegung nach hinten fuhr die Kutsche los. Da die Straße gut zu befahren und relativ eben war, setzte sich die sanfte Schaukelei, vor und zurück, während der flotten Fahrt fort. Als er sich aus dem Fenster beugte, stellte Darcy überrascht fest, wie gut die sechs Pferde miteinander harmonierten. Die sechs rechten Vorderbeine trafen ebenso gleichzeitig auf dem Boden auf wie die sechs linken Vorderbeine. Die Hinterbeine bewegten sich nach dem gleichen Muster. Während er den Kopf wieder einzog, überlegte er, vielleicht den Kutscher zu fragen, ob er später am Tag, wenn es etwas kühler wurde, neben ihm oben auf dem Bock sitzen dürfe.

Alle zehn bis zwanzig Meilen hielten sie bei einer Poststation an. Die Fahrgäste waren froh, sich ein paar Minuten die Beine vertreten zu können, während die Pferde ausgewechselt wurden. Um die Mittagszeit machten sie eine längere Pause in einem Gasthof, der Essen und Erfrischungen für die Reisenden anbot.

Die korpulente Frau, die mit ihrer anmaßenden Art den übrigen Fahrgästen auf die Nerven gegangen war, wurde im Laufe der Fahrt immer stiller, da ihr von dem ständigen Schaukeln der Kutsche übel wurde. Eine Zeit lang beklagte sie sich zwar noch, dass es ihr nicht gut gehe, bis ihr die Frau des Gastwirts in der Mittagspause ein Gebräu gegen die Übelkeit gab. Die Wirtsfrau war mit den Beschwerden vertraut, die das Reisen in einer Kutsche bei vielen Fahrgästen auslöste, insbesondere bei Frauen, und hatte deshalb stets einen Vorrat von ihrem Spezialgebräu zur Hand. Es handelte sich dabei um einen Sud aus Blättern und Wurzeln von heimischen Pflanzen, die in der Nähe wuchsen. Das Rezept hatte sie von einer alten Aborigine-Frau. Was auch immer die genaue Zusammensetzung des Gebräus war, auf jeden Fall brachte es die Frau, die daraufhin den größten Teil des Nachmittags döste, zur großen Erleichterung der übrigen Fahrgäste zum Schweigen.

Die erste Nacht verbrachten sie in Bordertown, wo Zollbeamte sowohl aus Victoria als auch aus Südaustralien gewissenhaft überprüften, ob auch niemand zollpflichtige Güter über die Grenze brachte, ohne die entsprechende Gebühr zu zahlen. Am zweiten Abend übernachteten sie in Horsham. Nachdem sie zwei Tage auf engstem Raum in der Postkutsche verbracht hatten, unterhielten sich die Fahrgäste mittlerweile recht lebhaft miteinander. Das heißt alle bis auf den Prediger, der weiterhin stur in seiner Bibel las. Er hätte genauso gut taub sein können, so wenig Notiz nahm er von den Gesprächen um ihn herum. Alle anderen Fahrgäste äußerten sich jedoch sehr froh darüber, als sich das Ehepaar in Horsham verabschiedete.

Da am nächsten Morgen keine neuen Fahrgäste zustiegen, hatten die verbliebenen Reisenden mehr Platz und konnten es sich etwas bequemer machen. Die junge Frau, die sich als Mrs Harriet Jones vorgestellt hatte, erzählte, dass sie nach Ballarat wollte, wo ihr Mann bei einem der großen Bergbauunternehmen beschäftigt war, die jetzt die alten Goldfelder von Ballarat betrieben. Darcy fand die Frau sehr sympathisch, und so plauderten die beiden freundlich miteinander.

Mittags hielten sie in Ararat. Von dort aus waren es nur noch etwas mehr als fünfzig Meilen bis nach Ballarat, wo sie die letzte Nacht verbringen sollten, bevor die Kutsche am nächsten Morgen zur letzten Etappe nach Melbourne aufbrach. Am Nachmittag gerieten sie in ein schweres Unwetter. Rasch wurden die Lederjalousien über die offenen Fenster neben den äußeren Sitzplätzen gezogen. Nun drang nur noch durch die Glasfenster der Türen und die schmalen Streifen Glas oben auf beiden Seiten Licht in die Kutsche. Wegen des Unwetters wurde es draußen aber schon bald so dunkel, dass die Reisenden einander kaum noch erkannten, außer wenn ein heller Blitz aufleuchtete.

Mrs Harriet Jones hatte eine solche Angst vor dem Gewitter, dass sie heftig zu zittern anfing. Darcy versuchte, sie zu beruhigen, indem er ganz behutsam ihre Hand berührte. Sie sah ihn an und sagte mit bebender Stimme: »Würden Sie es für unverschämt halten, wenn ich Sie bitten würde, Ihren Arm um mich zu legen?«

»Fühlen Sie sich dann sicherer?«

»Ja, das werde ich bestimmt. Ich habe furchtbare Angst vor Gewitter.«

Und so saß Darcy da, einen Arm um Mrs Jones’ Schultern gelegt, als die Kutsche plötzlich so gewaltig vor- und zurückschaukelte, dass die Insassen von ihren Plätzen geschleudert wurden. Sie wurden noch einige Sekunden durchgeschüttelt, dann neigte sich die Kutsche gefährlich zur Seite. Allen war klar, dass sie umkippten, noch bevor sie durcheinandergewirbelt wurden und die Kutsche mit einem entsetzlichen splitternden Geräusch auf dem Boden aufschlug.

Ganz instinktiv hatte sich Darcy mit dem Rücken in die Richtung gedreht, in die die Kutsche kippte, und beide Arme um Harriet Jones gelegt. Während er sie festhielt, dachte er nur daran, wie er sie und ihr ungeborenes Kind schützen könnte. Der heftige Aufprall, mit dem er auf dem Rücken landete, raubte ihm den Atem, und er verlor für einen Moment die Orientierung. Er merkte jedoch rasch, dass er unverletzt war und die schluchzende Mrs Jones noch fest in seinen Armen hielt.

»Ist alles in Ordnung, Mrs Jones?«

»Ich … ich glaube ja.«

Das Gewirr von Armen und Beinen um sie herum ordnete sich allmählich wieder. Der Prediger stöhnte vor Schmerz.

»Mrs Jones, meinen Sie, wir könnten es schaffen, uns gemeinsam auf die Seite zu drehen? Wenn Sie in der Lage sind, sich hinzusetzen, könnte ich aus der Tür klettern. Dann könnte ich Ihnen nach draußen helfen.«

Unter einigen Schwierigkeiten gelang ihnen das Manöver. Darcy erhob sich mühsam, langte mit einem Arm nach oben, um den Türgriff zu drehen, und versuchte mehrmals, die Tür mit aller Kraft aufzustoßen, bis sie dumpf auf der Seite der Kutsche aufschlug. Dann hielt er sich an beiden Seiten der Türöffnung fest, zog sich nach oben und hockte sich hin. Ein kurzer Blick ringsum sagte ihm bereits, dass die Situation äußerst übel war. Der Kutscher lag tot auf der Straße. Sein Genick war gebrochen. Die Pferde, die in den Zugriemen gefangen waren, wieherten verzweifelt und bäumten sich in Panik auf.

Darcy blickte nach unten in die Kutsche. »Ich muss die Pferde befreien. Der Kutscher ist tot.«

Er sprang auf die Erde und fragte sich, ob sein Geschick mit Pferden wohl ausreichen würde, sechs verängstigte Tiere zu beruhigen. Umso erleichterter war er, als zwei der jungen Männer neben ihm auftauchten, von denen, wie er inzwischen wusste, einer Farmarbeiter und der andere Jockey war. Gemeinsam gelang es ihnen, die Pferde auszuspannen und sie zu beruhigen. Als Nächstes mussten sie die übrigen Fahrgäste befreien. Als sie feststellten, dass der Prediger ein gebrochenes Bein hatte und einer der anderen Männer, die noch in der Kutsche waren, sich ein Handgelenk gebrochen hatte, wussten sie nicht, wie sie die verletzten Männer am besten aus dem umgekippten Fahrzeug herausholen sollten.

Der junge Farmarbeiter meinte, man könne vielleicht die Pferde benutzen, um die Kutsche aufzurichten. Darcy erklärte ihm sofort, dass das zwecklos sei. Eins der Vorderräder war so stark beschädigt, dass die Kutsche nicht stehen bleiben würde. Also blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Verletzten durch die Tür herauszuziehen und zu hoffen, dass man ihre Verletzungen dadurch nicht noch verschlimmerte.

Unter wortreichen Entschuldigungen für alle eventuellen Peinlichkeiten schlang der noch verbliebene unverletzte Fahrgast seine Arme um Mrs Jones’ Oberschenkel und hob sie so hoch, dass Darcy sie unter den Achseln fassen und aus der Kutsche ziehen konnte. Vorsichtig ließ er sie anschließend in die Arme des Farmarbeiters hinab. Dann führte der Jockey sie zu einem Baum, wo sie den toten Kutscher nicht sehen konnte. Sie setzte sich auf den Boden und lehnte den Rücken gegen den Stamm. In der Zwischenzeit kletterte der Farmarbeiter zu Darcy hinauf.

Der Fahrgast mit dem gebrochenen Handgelenk wurde auf ähnliche Weise befreit. Nun waren nur noch der Prediger und der unverletzte Mann in der Kutsche. »Der Prediger ist vor Schmerz ohnmächtig geworden«, rief jener zu Darcy hinauf. »Sein Bein ist so übel gebrochen, dass man ihn, ohne es zu schienen, nicht bewegen kann. Ich bin bereit, hier bei ihm zu bleiben, wenn jemand Hilfe holt.«

»Wir können nur wenige Meilen von der nächsten Poststation entfernt sein«, bemerkte der Farmarbeiter.

Darcy stimmte ihm zu. »Ich möchte allerdings bezweifeln, dass wir zwischen hier und Ballarat einen Arzt finden werden.«

Sie berieten sich kurz, was sie tun sollten, und kamen rasch zu dem Schluss, dass Darcy, der es sich als Einziger zutraute, ein Kutschpferd ohne Sattel zu reiten, Hilfe holen sollte. Er hoffte, dass die Poststation über eine Kutsche verfügte, mit der man die gestrandeten Reisenden abholen könnte.

Der Besitzer der Station begrüßte ihn mit der bangen Frage: »Sind Sie unterwegs der Postkutsche begegnet? Hätte schon seit über einer Stunde hier sein müssen. Hey, ist das nicht ein Kutschpferd?«

»Wir sind drei Meilen von hier umgestürzt. Der Kutscher ist tot und zwei Fahrgäste verletzt. Außerdem war eine schwangere Frau in der Kutsche.«

»Oh Gott!« Der Mann war entsetzt.

Darcy schwang sich vom Pferd. »Ich brauche ein anderes Pferd. Ich muss nach Ballarat, um einen Arzt zu holen. Können Sie den Leuten da hinten Hilfe bringen?«

»Ich hab keine Kutsche oder so, aber ich reite hinaus und bringe ihnen was zu essen und Wasser. Vielleicht sollte ich auch ein paar Decken mitnehmen.«

»Wie steht’s mit einem guten Pferd? Ich muss schnell reiten.«

»Sie können meine Stute nehmen. Sie ist stark.«

Schon bald war Darcy wieder unterwegs. Bei der letzten Poststation vor Ballarat hielt er kurz an, um den Unfall zu melden. Als er auf dem schwitzenden Pferd in Ballarat eingaloppierte, war die Sonne schon fast untergegangen. Schnurstracks ritt er zur Zentrale von Cobb & Co, wo man rasch Pferde vor eine freie Kutsche spannte und einen Jungen losschickte, um einen Arzt zu holen.

In weniger als einer Stunde waren sie wieder auf der Straße nach Ararat. Darcy saß neben dem Kutscher auf dem Bock. Es wurde rasch dunkler, und die Laternen an der Kutsche beleuchteten den Weg vor ihnen kein bisschen. Obwohl der Kutscher die Straße gut kannte, war er froh, dass Darcy ihm mit seinen guten Augen half, Hindernisse rechtzeitig zu erkennen.

Als sie vor sich ein Feuer leuchten sahen, wussten sie, dass sie in der Nähe des Unfallorts waren. Mittlerweile waren über zwei Stunden vergangen, seit sie Ballarat verlassen hatten, und fast dreieinhalb Stunden, seit Darcy sich aufgemacht hatte, um Hilfe zu holen. Die gestrandeten Fahrgäste hatten am Straßenrand ein Feuer gemacht. Offensichtlich hatten sie die Kutsche kommen gehört, denn alle außer Mrs Jones waren auf den Beinen und jubelten, als das Fahrzeug in Sicht kam.

Darcy bemerkte, dass der Mann, der bei dem Prediger hatte bleiben wollen, ebenfalls auf der Straße war. Ihn beschlich ein ungutes Gefühl, während er und der Arzt aus der Kutsche stiegen.

»Ist der Patient mit dem gebrochenen Bein noch in der Kutsche?«

Der Mann, der bei dem Prediger geblieben war, warf einen Blick auf Mrs Jones, bevor er zu ihnen herüberkam, und teilte ihnen dann leise mit: »Er ist vor etwa einer Stunde gestorben. Er muss sich heftig den Kopf angestoßen haben oder so was Ähnliches, denn er hat die Augen nie wieder geöffnet. Und plötzlich hat er einfach aufgehört zu atmen.«

Ein schmerzerfülltes Stöhnen veranlasste alle, sich zu Mrs Jones umzudrehen, die die Hände auf ihren gewölbten Leib presste. »Sie werden trotzdem gebraucht, Doktor«, fügte der Mann hinzu. »Ich glaube, die Dame steht kurz vor der Geburt.«

Der Arzt kniete sich neben Mrs Jones. »Ist das Ihr erstes Kind, Ma’am?«

»Ja. Es soll aber erst in einem Monat kommen.«

»Wie häufig sind die Wehen?«

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, sie werden häufiger. Oh!«

Der Arzt legte rasch eine Hand auf ihren Bauch, um festzustellen, wie stark die Kontraktion war. »Ich glaube nicht, dass die Geburt unmittelbar bevorsteht. Beim ersten Kind dauert es meistens recht lange. Trotzdem würde ich Ihnen nicht raten, mit einer Kutsche zu fahren. Die Bewegung könnte die Geburt beschleunigen.«

»Ich kann mein Kind doch nicht hier am Straßenrand zur Welt bringen.« Verzweifelt fing sie an zu weinen. Darcy kniete sich neben sie und ergriff tröstend ihre Hand.

»Doktor, die Poststation ist nur drei Meilen entfernt. Meinen Sie, Mrs Jones wäre vielleicht in der Lage, diese kurze Entfernung in der Kutsche zurückzulegen?«

»Es bestünde immer noch ein Risiko, aber wohl eines, das wir eingehen müssen. Die Dame kann tatsächlich ihr Kind nicht hier gebären. Versuchen Sie, sich zu entspannen, Ma’am. Ich kümmere mich inzwischen um den Mann mit dem gebrochenen Handgelenk.«

Als Darcy ebenfalls Anstalten machte fortzugehen, griff sie nach seiner Hand. »Bleiben Sie bitte bei mir. Ich habe Angst.«

»Wir müssen uns noch um ein paar Dinge kümmern, bevor wir von hier weg können. Dabei muss ich den anderen Männern helfen. Ich verspreche, mit Ihnen in der Kutsche zu fahren.«

Zu den Dingen, die zu erledigen waren, gehörte unter anderem, den toten Prediger aus der Kutsche herauszuholen. Seine Leiche und die des Kutschers wurden in Segeltuch gewickelt, das man eigens zu diesem Zweck aus Ballarat mitgebracht hatte. Nachdem das Segeltuch gut verschnürt war, wurden die Leichen mit einem Seil auf dem Dach der Ersatzkutsche festgebunden.

Darcy, der immer wieder einen Blick auf Mrs Jones warf, um festzustellen, ob mit ihr alles in Ordnung war, sah, dass sie die Hände vors Gesicht geschlagen hatte. Die arme Frau. Das war kein Anblick für eine so junge und sanftmütige Person. Das Gepäck der Fahrgäste wurde von der umgestürzten Kutsche zusammen mit der Postkiste unter dem Bock in die andere Kutsche umgeladen.

Inzwischen hatte der Arzt Mrs Jones auf der vorderen Sitzbank in eine halb liegende Position gebracht und sich ihr gegenübergesetzt, damit er sie beobachten konnte. Der Farmarbeiter bot an, sich neben den Kutscher zu setzen. Mrs Jones bat Darcy, neben ihr Platz zu nehmen. Die übrigen Fahrgäste teilten sich die restlichen Plätze.

Den Anweisungen des Arztes gemäß fuhr der Kutscher nur halb so schnell wie normalerweise, trotzdem war sowohl für den Arzt als auch für Darcy unübersehbar, dass Mrs Jones immer mehr litt. Um nicht vor Schmerz aufzuschreien, biss sie sich bei jeder Wehe so fest auf die Lippen, dass sie bluteten. Vielleicht spürte sie ebenso wie Darcy an dem gelegentlichen Räuspern der anderen Männer, wie peinlich denen die Situation war.

Als sie die Poststation erreichten, hob Darcy Mrs Jones aus der Kutsche und trug sie hinein. Der Herbergsbesitzer führte ihn eilig durch zum Schlafzimmer. Der Arzt folgte ihnen, zog sogleich Hut und Mantel aus, rollte die Ärmel hoch und bat um heißes Wasser und saubere Handtücher. Dann nahm er sein Stethoskop, lauschte auf den Herzschlag und legte es wieder beiseite.

Die junge Frau sah ihn ängstlich an. »Ist mit meinem Baby alles in Ordnung? Können Sie den Herzschlag hören?«

Der Arzt betrachtete sie fürsorglich. »Ich höre zwei Herzschläge. Haben Sie gewusst, dass Sie Zwillinge bekommen?«

Ihr schockierter Gesichtsausdruck sagte ihm alles. »Zwillinge? Sind Sie sicher?«

»So sicher, wie es mir meine Erfahrung erlaubt.«

Harriet Jones brach in Tränen aus. »Sie kommen zu früh. Sie werden sterben.«

»Unsinn, Mädchen. Zwillinge kommen häufig etwas früher. Ich habe zwei kräftige Herzschläge gehört. Sie hören einfach auf mich und pressen, wenn ich es Ihnen sage. Ihre Babys werden prächtig sein.«

Der Herbergsbesitzer kam mit heißem Wasser zurück und goss es in den Wasserkrug, damit der Arzt sich die Hände waschen konnte. Der stand auf und signalisierte Darcy mit einem Blick, er möge ihn zum Waschgestell begleiten. Während er sich die Hände schrubbte, sprach er mit leiser Stimme.

»Ich wäre glücklicher mit dieser Geburt, wenn mir jemand assistieren könnte. Leider ist keine Frau hier. Mir ist aufgefallen, dass Mrs Jones offenbar großes Vertrauen zu Ihnen gefasst hat.«

»Ich werde Ihnen helfen«, sagte Darcy sofort. »Ich habe schon viele Male Mutterschafen bei der Geburt geholfen, und da waren eine ganze Menge Zwillinge dabei. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Geburt von Menschenbabys so viel anders verläuft.«

Der Arzt sah ihn überrascht und erfreut an. »Ausgezeichnet.«

Ein Schmerzensschrei ließ ihn wieder an das Bett eilen. Rasch schrubbte sich Darcy die Hände. Die Babys kamen im Abstand von kaum einer Minute zur Welt.

»Zwei Jungen, Mrs Jones.« Das Geschrei der Neugeborenen erfüllte den Raum. Harriet Jones lächelte und weinte zugleich. »Ich werde Sie jetzt sauber machen, dann können Sie Ihre Babys in den Arm nehmen.«

Darcys Aufgabe bestand darin, die Babys zu waschen und in Windeln zu wickeln, für die man ein Betttuch in Streifen gerissen hatte. Er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Obwohl er schon Hunderte Male das Wunder der Geburt erlebt hatte, rührten ihn diese winzigen Menschenkinder zutiefst. Er bewunderte, wie perfekt die Kleinen waren, bewunderte ihre niedlichen Fingerchen mit den winzigen Nägeln, den weichen braunen Flaum auf ihren Köpfen und wie sich ihre kleinen Münder bewegten und sich der Ausdruck auf ihren nahezu identischen Gesichtern veränderte.

Mit Tränen in den Augen brachte er sie zu ihrer Mutter. Ihre Augen strahlten, als sie in jedem Arm ein Baby hielt. »Die beiden sehen völlig gleich aus.« Darcy konnte nur lächeln. »Sie haben ja Tränen in den Augen.«

»Zu sehen, wie Ihre Babys auf die Welt kamen, war für mich ein bewegendes Erlebnis, bei dem ich mir ganz klein vorkam. Ich hoffe, es hat Ihnen nichts ausgemacht, dass ich dem Arzt assistiert habe.«

»Wie könnte mir das etwas ausmachen, wo Sie mir doch diese beiden wunderbaren Geschöpfe in die Arme gelegt haben?«

»Danke. Sie müssen sich jetzt ausruhen. Ich komme später wieder.«

Erst als am nächsten Morgen die Sonne bereits hoch am Himmel stand, erlaubte der Arzt Darcy wieder, die junge Mutter zu besuchen. Sie saß mit einem Nachthemd bekleidet im Bett. Die Babys, die nun winzige Sachen anhatten statt Streifen von zerrissenen Betttüchern, schliefen in einer Kiste, aus der man ein behelfsmäßiges Kinderbett gemacht hatte.

»Sie sehen gut aus«, sagte er zu Mrs Jones.

»Mir geht es auch gut. Ich bin nur ein bisschen müde.«

»Wie haben Sie denn so schnell all diese Sachen bekommen?« Dabei deutete er mit einer Hand auf Mrs Jones, die Zwillinge und das provisorische Bett.

»Nachdem Sie gestern Abend gegangen waren, hat der Arzt mir geholfen, mein Nachthemd und die Babysachen in meinem Gepäck zu finden. Und als ich heute Morgen aufwachte, lagen die beiden in dem Bettchen.«

Darcy stellte sich neben die Kiste und betrachtete die kleinen schlafenden Gesichter. Am liebsten hätte er noch einmal ihre zarte Haut berührt, hatte aber Angst, er könnte die Kinder wecken. »Haben Sie ihnen schon Namen gegeben?«

»Noch nicht. Mein Mann wollte einen Sohn Michael nennen, nach seinem Vater. Wie heißen Sie eigentlich?«

»Darcy Winton.«

»Ihr Name gefällt mir. Ich werde den Älteren Michael Darcy und den Jüngeren Winton John nennen. John ist der Name meines Vaters.«

»Ich fühle mich sehr geschmeichelt. Hoffentlich hat Mr Jones nichts gegen die von Ihnen gewählten Namen.«

»Sicherlich nicht, wenn ich ihm sage, wie gut Sie zu mir waren.«

Von draußen waren Hufschlag und das Klappern von Rädern zu hören. »Da kommt offenbar eine Kutsche. In welche Richtung die wohl fährt?«

»Werden Sie sie nehmen, wenn sie nach Ballarat fährt?«

»Ich möchte Sie und Ihre Jungs nicht ohne Schutz hier zurücklassen. Der Arzt wird wohl schnell zu seinen Patienten in der Stadt zurückkehren wollen.«

Sie hörten eilige Schritte auf dem Flur. Dann wurde die Tür weit aufgestoßen. Ein junger Mann, dessen staubiges Gesicht von Sorgenfalten zerfurcht war, erschien im Türrahmen. »Robert«, rief Harriet Jones überrascht.

Ohne Darcy näher zu beachten, eilte der junge Mann ans Bett. Darcy wartete nur so lange, bis er sah, wie Mr Jones seine Frau liebevoll umarmte, dann huschte er leise aus dem Zimmer. Vor der Poststation wurde gerade ein graues Pferd von einer Wagonette ausgespannt. Seine Neugier, wie Mr Jones von der Niederkunft seiner Frau und ihrem gegenwärtigen Aufenthaltsort erfahren hatte, wurde erst befriedigt, als der junge Mann nach einer Weile aus dem Schlafzimmer kam und sich überschwänglich bei dem Arzt und bei Darcy bedankte.

»Ich war auf der Poststation, als die Kutsche mitten in der Nacht ankam und die Insassen von dem Unfall berichteten. Ich wollte sofort mein Pferd satteln und im Galopp hierher reiten, um an der Seite meiner Frau zu sein. Doch dann sagte mir die Vernunft, ich sollte die wenigen Stunden bis Tagesanbruch abwarten. In der Zeit kam mir die Idee, mir die Wagonette von meinem Chef auszuleihen, damit ich Harriet mit zurück nach Ballarat nehmen könnte. Ich dachte, ich würde vielleicht meine Frau und ein Baby nach Hause bringen. Mit zwei Söhnen hatte ich nicht gerechnet.«

»Die beiden sind prächtige, gesunde Jungen«, sagte der Arzt. »Sie können sich sehr glücklich schätzen.«

»Ich würde meine Frau gerne so schnell wie möglich mit nach Hause nehmen. Meinen Sie, dass Harriet und die Säuglinge noch heute reisen können, Doktor?«

»Unter normalen Umständen würde ich einer Mutter, die gerade Zwillinge geboren hat, empfehlen, mindestens zwei Wochen im Bett zu bleiben. Doch das hier sind keine normalen Umstände. Mrs Jones ist eine starke junge Frau. Ich glaube nicht, dass die Fahrt ihr etwas anhaben kann, außer sie zu ermüden. Sie kann sich ins Bett legen, sobald Sie zu Hause sind. Haben Sie jemanden, der Ihnen mit den Säuglingen unter die Arme greifen kann?«

»Meine Tante wohnt nur ein paar Straßen von uns entfernt. Sie wird uns helfen.«

»Sehr gut. Darf ich Sie vielleicht um einen Platz in der Wagonette bitten? Ich habe Patienten in der Stadt, um die ich mich kümmern muss.«

»Es ist mir ein Vergnügen, Sie mit nach Ballarat zu nehmen. Und Sie auch, Mr Winton, wenn Sie möchten.«

»Danke. Ich nehme Ihr freundliches Angebot gerne an.«

In Ballarat verabschiedete er sich von der jungen Familie und versprach auf Harriets Bitte, sie immer zu besuchen, wenn er in Ballarat war. Dann sah er auf den bei Cobb & Co ausgehängten Fahrplänen nach, wann die nächste Kutsche nach Melbourne abfuhr.

Als er erfuhr, dass er erst in einer Kutsche am nächsten Morgen einen Platz bekommen würde, suchte er sich ein Zimmer für die Nacht. Dabei wurde ihm erst bewusst, wie nah an Langsdale er doch war. Als Darcy von Riverview aufgebrochen war, hatte er sich keinerlei Gedanken darüber gemacht, welche Strecke die Postkutsche von Wellington nach Melbourne nehmen würde. Nun beschloss er, die Rückreise in Ballarat zu unterbrechen, um Langsdale einen Besuch abzustatten. Er hoffte, dass er den Trevannicks gute Nachrichten überbringen könnte. In der Nacht hatte er nämlich beschlossen, Etty zu bitten, ihn zu heiraten.

In Melbourne benutzte Darcy den Waschraum des Criterion Hotels, um sich frisch zu machen. Nachdem er den Schmutz von der Reise abgewaschen hatte, fühlte er sich erheblich besser. Er zog ein sauberes Hemd an, klopfte den Staub von seiner Hose und ging mit seiner Tasche in der Hand auf die Straße hinaus, um sich nach dem Weg nach Toorak zu erkundigen. Als er feststellte, dass Ettys Haus ein ganzes Stück entfernt lag, war er sich zunächst unschlüssig, ob er eine Droschke nehmen oder ein Pferd mieten sollte, entschied sich aber schließlich für ein Pferd. Das würde ihm die Möglichkeit geben, sich freier zu bewegen.

Ein hilfsbereiter Passant erklärte ihm, dass er drei Blocks in südlicher Richtung einen Mietstall finden würde. Es war sehr heiß, und als Darcy den Stall schließlich fand, fühlte er sich wieder genauso verschwitzt und schmutzig wie in dem Moment, als er aus der Postkutsche gestiegen war. Der Besitzer verhandelte gerade mit einem gut gekleideten Gentleman, der die Zügel eines großen schwarzen Hengstes in der Hand hielt. Während er wartete, ließ Darcy den Blick über die Pferde im Stall schweifen. Das war alles nichts Besonderes, fand er. Auch wenn keines der Tiere vernachlässigt aussah, wirkten sie alle doch ziemlich matt und abgestumpft. Diese Pferde reichten qualitativ nicht an die Arbeitspferde auf Langsdale oder Riverview heran. Und sie waren erst recht nicht mit seiner schönen Goonda zu vergleichen.

Darcy trat zurück auf die Straße und fragte sich, ob es denn in nicht allzu weiter Entfernung vielleicht einen besseren Mietstall gab. Als kurz darauf der gut gekleidete Gentleman den Stall verließ, ging Darcy noch einmal hinein. Der Besitzer führte gerade den Hengst in eine leere Box. Die Mähne und der Schweif des Tieres waren wie schwarze Seide, die Augen wach und klar, die Ohren gespitzt. Darcy stieß einen kaum hörbaren Pfiff aus. Das war ein fürstliches Pferd. Wie gerne würde er ein solches Tier besitzen.

»Sind Sie auf der Suche nach einem Pferd?«, fragte der Stallbesitzer, nachdem er die Boxentür hinter dem Hengst geschlossen hatte.

»Ja. Ich brauche eins für ungefähr eine Woche, solange ich hier in Melbourne bin.«

»Wo kommen Sie denn her?«

»Aus dem Süden.« Darcy machte keine genaueren Angaben, obwohl der Stallbesitzer offenkundig mehr wissen wollte. Er hielt den Mann nämlich für jemanden, der gerne und hemmungslos mit jedermann tratschte.

»Das ist ein sehr schönes Tier«, lobte Darcy und streichelte dem Hengst über die Nüstern. Das Pferd wieherte fröhlich. Es war bei beiden Liebe auf den ersten Blick.

Der Stallbesitzer beobachtete das Geschehen neugierig. »Er ist zu verkaufen, wenn Sie Interesse haben.«

Darcy starrte ihn erfreut und ungläubig zugleich an. »Wie viel?«

»Mehr, als Sie sich leisten können, nehme ich an. Er ist ein reines Vollblut.«

»Wie viel?«, wiederholte Darcy. Es ärgerte ihn, dass der Mann sofort annahm, er könne nicht zahlen, weil er wusste, dass das ein übliches Rassenvorurteil war.

»Einhundert Pfund.«

»Ich kaufe ihn.«

Nun starrte der Stallbesitzer ihn an. »Tatsächlich? Aber können Sie sich das denn leisten? Sind Sie nicht ein …?«

»Ja, das bin ich«, erwiderte Darcy. Er konnte sich gerade noch beherrschen, dem Mann nicht einen Faustschlag zu verpassen. »Und ich habe das Geld, um das Pferd zu bezahlen.« Er zog seine Brieftasche hervor, zählte hundert Pfund ab und gab dem Mann die Scheine. »Ich nehme an, Sie haben die nötigen Papiere zum Unterschreiben, die beweisen, dass ich das Pferd rechtmäßig erworben habe?«

»Äh, ja.« Der Mann blickte immer noch ungläubig auf die Geldscheine in seiner Hand. Eigentlich hatte das Pferd nur achtzig Pfund kosten sollen, plus zehn Prozent Provision für ihn, wenn er es verkaufte. Er hatte hundert Pfund gesagt, weil er nicht geglaubt hatte, dass ein Mischling, wenn auch ein gut gekleideter, in der Lage wäre, diesen Betrag zu zahlen. Nun hatte er das Gefühl, dass er derjenige war, den man in seine Schranken verwiesen hatte.

Er hätte nur zu gerne gewusst, wie dieser Typ an so viel Geld kam. Vielleicht war er ja ein Strauchdieb, oder vielleicht hatte er ein bisschen Gold gefunden. Der verschlossene Ausdruck in dem schwarzen Gesicht sagte ihm jedenfalls, dass er keine Antwort darauf bekommen würde, selbst wenn er fragte. Er zuckte innerlich mit den Schultern. Nun ja, wie dem auch sei, jedenfalls hatte er einen hübschen Profit gemacht. Sie hatten die Papiere ordnungsgemäß unterzeichnet. Nun konnte der Typ mit dem Pferd verschwinden, und er würde sich eine gute Flasche Scotch kaufen statt des billigen Fusels, den er sonst trank.

Nachdem er die Eigentumspapiere für Pferd, Sattel und Zaumzeug in der Tasche hatte, sprach Darcy einige Minuten leise mit dem Pferd. Er wollte, dass Midnight – so lautete der wenig originelle Name des Tiers – eine Beziehung zwischen ihnen spürte, bevor er sich in den Sattel schwang. Ein Vollbluthengst erforderte eine ganz besondere Behandlung.

Der Stallbesitzer, der das Ganze beobachtete, während er das Geld sorgfältig in einer Kasse verschloss, murmelte vor sich hin. »Der Kerl ist offenbar bekloppt, wenn er so mit einem Pferd redet.« Man fütterte ein Pferd, striegelte es, wenn nötig, aber man versuchte doch nicht, ein Gespräch mit ihm zu führen.

Während er das Pferd sattelte und seine Tasche am Sattel befestigte, redete Darcy weiter auf Midnight ein. Als er schließlich meinte, dass es reichte, stieg er auf und ritt die Straße hinunter. Ettys Haus lag einige Meilen südöstlich vom Stadtzentrum. Darcy musste unterwegs mehrmals nach dem Weg fragen. Je näher er seinem Ziel kam, desto reicher wurde die Gegend und umso mehr neugierige Blicke erhielt er von den Leuten, an denen er vorbeikam.

Für die reichen Bewohner von Toorak war ein Mischling, der durch die Straßen ritt, an sich schon ein merkwürdiger Anblick. Und dass der Mann auf einem offensichtlich wertvollen Pferd saß, machte selbst die Gleichgültigsten unter ihnen neugierig.

Bereits von fern sah er die Staatsflagge von Victoria auf dem viereckigen Turm des Toorak House wehen. Bis zu diesem Augenblick hatte Darcy überhaupt nicht darüber nachgedacht, dass Etty im gleichen Viertel wohnte wie der Gouverneur Sir John Manners-Sutton. Toorak House mit seinen riesigen Ausmaßen und das prachtvolle Grundstück, auf dem es stand, ließen ihn ehrfürchtig staunen.

Während er weitere Villen passierte, fragte er sich, ob Ettys Haus wohl genauso hochherrschaftlich sein mochte. Als er in ihre Straße bog, stellte er erleichtert fest, dass die Häuser, obwohl sie eindeutig reichen Leuten gehörten, sehr viel bescheidener in Größe und Stil waren. Ettys Haus war leicht zu finden. Ihre schöne Stimme erklang aus dem offenen Fenster eines einfachen zweistöckigen Hauses mit einem kleinen Säulenvorbau vor der Haustür. Vier hohe Fenster mit dunkelgrünen Holzläden befanden sich in gleichmäßigen Abständen zu beiden Seiten der Haustür. Darüber im oberen Stockwerk waren vier etwas niedrigere Fenster und in der Mitte ein noch kleineres direkt über der Tür. Es war ein äußerst elegantes Haus.

Darcy zügelte Midnight, um Ettys Gesang zu lauschen. Auch wenn er die fremden Worte nicht verstand, die sie sang, konnte er die Leidenschaft in ihrer Stimme hören und die Traurigkeit in den Worten spüren. Diese Traurigkeit ging ihm ans Herz, und er fragte sich, wie jemand, der so privilegiert aufgewachsen war wie Etty, ein so tiefes Gefühl auszudrücken vermochte.

Als er schließlich Midnight die kurze Kieszufahrt hinauflenkte, hörte das Singen plötzlich auf. Er hörte eine Männerstimme sprechen, Ettys kurze Antwort, dann sprach wieder der Mann. Wer war da bei Etty, fragte sich Darcy. Würde sein unangekündigtes Erscheinen sie in Verlegenheit bringen? Sollte er an die Tür klopfen oder sich umdrehen und fortreiten? Vielleicht hätte er ihr einen Brief schicken sollen, statt unerwartet aufzutauchen. Sein Verlangen, Etty zu sehen, wurde durch die große Unsicherheit getrübt, ob er klug gehandelt hatte, wo er doch überhaupt nicht wusste, wie sie ihn empfangen würde. Würde Etty sich freuen, ihn zu sehen?