19
Niemand konnte das Leuchten in Louisas Augen übersehen, und schon gar nicht ihre Mutter. »Du siehst aus wie eine Katze, die an der Sahne genascht hat. Oder vielleicht wie ein Mädchen, das weiß, dass seine Liebe erwidert wird?«
Louisa musste einfach lächeln und spürte, wie ihr ganzes Gesicht strahlte. »Ich bin ja so, so glücklich, Ma. Eigentlich soll ich noch niemandem etwas sagen, aber ich muss dir einfach erzählen, dass Darcy mich heiraten will.«
»Da bin ich ja froh, dass der Junge endlich zur Vernunft gekommen ist.«
»Wie meinst du das, Ma?«
»Ich weiß, dass du ihn schon seit vielen Jahren liebst, mein Schatz. Und ich habe beobachtet, wie du deine Liebe vor ihm geheim gehalten hast, weil du für ihn nie mehr als eine gute Freundin oder so etwas wie eine Schwester warst. Du wirst Darcy eine bessere Ehefrau sein, als Etty das je gewesen wäre.«
»Das glaube ich auch, Ma. Wir werden uns auf Riverview niederlassen und eine Familie gründen. Keiner von uns erwartet mehr vom Leben.«
»Darcy wird also die Anwaltskanzlei verlassen?«
»Darcy bleibt noch ein Jahr in Bendigo. Er ist enttäuscht, dass er keinem Aborigine so hat helfen können, wie er sich das vorgestellt hat. Außerdem vermisst er Riverview. Wir sind beide auf einer Farm groß geworden, und wir lieben diese Art zu leben. Wir möchten nicht, dass unsere Kinder in der Stadt aufwachsen.«
Agnes umarmte ihre Tochter. »Ich freue mich ja so sehr für dich, mein geliebtes Kind. Aber warum will Darcy denn, dass du niemandem erzählst, dass er dir einen Heiratsantrag gemacht hat?«
»Darcy hat an seine Mutter geschrieben. Du weißt doch, dass Darcy nie wissen wollte, wer sein Vater ist. Er hat immer gesagt, er habe Nelson und wolle keinen anderen Vater. Allerdings hat er mir erzählt, dass er sich manchmal fragt, ob nicht Onkel Josh sein Vater gewesen sein könnte. Nun möchte Darcy wissen, wer tatsächlich sein Vater ist. Er möchte sicher sein, dass es keine Probleme gibt; er meint damit so etwas wie Geisteskrankheiten, die an unsere Kinder vererbt werden könnten.«
»Er macht sich bestimmt unnötig Sorgen. Ich weiß zwar auch nicht, wer Darcys Vater ist, ich glaube allerdings, dass es ein Gentleman war, der nach England zurückgekehrt ist, ohne zu wissen, dass er ein Kind gezeugt hat. Das hab ich aus ein paar Dingen geschlossen, die seine Mutter und Meggan mir im Laufe der Zeit erzählt haben. Ich hab aber nie danach gefragt. Wenn Jane gewollt hätte, dass ich es weiß, hätte sie es mir anvertraut.«
Nach dem Gespräch mit ihrer Tochter begann Agnes sich Gedanken darüber zu machen, ob Louisa nicht auch erfahren sollte, wer ihre wirklichen Eltern waren. Sie quälte sich zwei ganze Tage damit herum, bis Larry wissen wollte, was sie denn bedrücke.
»Wie kommst du denn darauf, dass mich etwas bedrückt?«
»Weil ich dich kenne, meine Liebste. Du lächelst gar nicht mehr, während Louisa fast nur noch strahlend wie ein Honigkuchenpferd herumläuft. Habt ihr mir irgendwas verheimlicht?«
Agnes nickte unglücklich. »Ich hätte es dir sagen sollen, aber Louisa wollte, dass es ein Geheimnis bleibt.«
»Was soll ein Geheimnis bleiben? Unsere Tochter sieht aus, als hätte sie sich verliebt.«
»Darcy hat sie gebeten, ihn zu heiraten.«
»Na endlich. Ich kann nicht sagen, dass es mich überrascht, und ich bin auch nicht unglücklich darüber, dass die beiden heiraten. Ich glaube, dass sie gut zusammenpassen. Machst du so ein trauriges Gesicht, weil du Bedenken dagegen hast?«
»Nein, nein. Ich freue mich sehr für Louisa. Doch bevor sie heiraten, will Darcy unbedingt wissen, wer sein Vater ist. Nun mache ich mir Gedanken darüber, ob ich Louisa nicht sagen sollte, dass wir nicht ihre leiblichen Eltern sind.«
»Darüber haben wir doch schon viele Male gesprochen. Ich dachte, wir hätten uns geeinigt, es ihr niemals zu sagen.«
»Ja, ich weiß, aber Darcy hat an seine Mutter geschrieben und sie nach seinem Vater gefragt. Er glaubt, er müsse erfahren, was für ein Typ von Mann ihn gezeugt hat, bevor Louisa und er ihre Verlobung offiziell machen. Wir wissen, wie schlecht Louisas leiblicher Vater war. Vielleicht haben beide, unsere Tochter genauso wie Darcy, das Recht, alles über ihre Herkunft zu erfahren.«
»Falls du dir Sorgen darüber machst, dass irgendwelche schlimmen Dinge an eins ihrer Kinder vererbt werden könnten, kann ich dich beruhigen. Nach allem, was ich von dir über deine Familie erfahren habe, kam die Brutalität deines Vaters vom übermäßigen Trinken. Außerdem hast du mir erzählt, dass du deinen Bruder immer bewundert und zu ihm aufgeblickt hast, bis zu dem Zeitpunkt, wo er ausgewandert ist. Sein Charakter hat sich erst hier in Australien verändert. Ich bin sicher, dass irgendwelche Umstände, über die wir nichts wissen, ihn zu der Art von Mann gemacht haben, die er geworden ist.«
Als Agnes anscheinend immer noch nicht überzeugt war, fasste ihr Mann sie an den Schultern und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. »In Louisa steckt keinerlei Bösartigkeit, die sie an ihre Kinder weitergeben könnte. Tom wurde nicht als schlechter Mensch geboren, er wurde erst durch die Umstände schlecht. Jenny Tremayne war eine liebe, sanfte und mutige junge Frau. Diese Charakterzüge hat Louisa geerbt. Sie ist in einer glücklichen Familie aufgewachsen ohne die Armut und Brutalität, die ihr in eurer Kindheit ertragen musstet. Ich glaube, wir würden mehr Unheil als Gutes anrichten, wenn wir Louisa die Wahrheit sagten. Sie gehört zu uns, seit sie wenige Wochen alt war, und ist in jeder Hinsicht unsere Tochter, außer im biologischen Sinne.«
»Da hast du wohl recht.«
»Natürlich habe ich recht, meine Liebste. Also, lächle wieder und hör auf, dir unnötig Sorgen zu machen.«
Ein paar Tage später schrieb Louisa an Darcy, weil sie sich wünschte, dass er Weihnachten bei ihrer Familie verbrachte.
Du wolltest zwar, dass ich unser Geheimnis für mich behalte, aber Ma hat es erraten. Wahrscheinlich habe ich zu glücklich ausgesehen, was ich ja auch bin. Ma hat es Pa erzählt, und sie sind beide sehr froh darüber. Sie würden sich freuen, wenn Du Weihnachten bei uns verbringen würdest.
Bevor er Louisas Einladung erhielt, hatte Darcy bereits geplant, in den Weihnachtsferien nach Melbourne zu fahren und Boney zu besuchen. Er wollte seinem alten Freund von seinen Erfahrungen berichten, denn Boney war für ihn längst kein Lehrer mehr, sondern ein Freund und Mentor.
Boney, der sich bereits wie ein alter Mann vorkam, erklärte, dass ihm Darcys Besuch sehr gutgetan habe. Darcy versicherte das Gleiche. Durch seine Gespräche mit Boney war er wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgekehrt und akzeptierte, dass eine Verbesserung der rechtlichen Situation der Aborigines, so wie sie ihm vorschwebte, nur in kleinen Schritten möglich war.
»Du bist immer hitzköpfig und impulsiv gewesen, Darcy, mein Junge. Und hartnäckig. Deine Hartnäckigkeit hat dich dahin gebracht, wo du heute bist. Du hast trotz aller Rückschläge nie dein Ziel aus den Augen verloren. Tu das auch jetzt nicht. Ich habe immer an dich geglaubt. Du musst weiter an dich glauben.«
Darcy kehrte erfrischt an Geist und Seele nach Bendigo zurück. Louisa sah er im Januar wieder. An ihren Augen konnte er ablesen, wie sehr sie ihn liebte. Er freute sich ebenfalls sehr, sie wiederzusehen. Vielleicht liebte er sie ja doch mehr, als er geglaubt hatte.
»Wann rechnest du denn mit einer Antwort von deiner Mutter? Können wir unsere Verlobung denn nicht jetzt schon bekannt geben?«
»Hab noch ein bisschen Geduld, Liebes. Unsere Eltern wissen es ja bereits. Der Rest der Welt spielt keine Rolle. Mein Brief und Mas Antwort werden auf dem Landweg befördert, da der Flussverkehr während des Sommers eingestellt ist. Es dauert sicher nur noch wenige Wochen, bis ich ihren Brief bekomme.«
Jane schrieb jedoch nicht an Darcy, sondern nach Langsdale, an Meggan.
Darcys Brief kam erst Ende Januar auf Riverview an. Jane öffnete ihn gespannt. Sie freute sich immer sehr, wenn sie eine Nachricht von ihrem Sohn erhielt – ihrem Sohn, dem Anwalt. Sie war ungeheuer stolz auf Darcy. Doch dieser Brief war anders als die bisherigen. Jane saß mit dem Blatt Papier auf dem Schoß da und starrte mit leerem Blick auf die gegenüberliegende Wand. Darcy konnte Louisa nicht heiraten. Er musste die Wahrheit erfahren, die ganze Wahrheit, doch das bedeutete, dass auch die Geheimnisse anderer Personen enthüllt werden müssten. In ihrer Verzweiflung schrieb sie an Meggan, obwohl sie lieber persönlich mit ihr gesprochen hätte. Doch dafür war es nach Langsdale viel zu weit.
Nachdem Meggan Janes Brief gelesen hatte, war sie ebenfalls stark aufgewühlt. In diesem Moment wünschte sie, dass Ettys Liebe zu Darcy größer gewesen wäre als ihr Ehrgeiz. Wenn Darcy Etty geheiratet hätte, wäre niemand von ihnen in dieses Dilemma geraten. Doch was geschehen war, war geschehen. Das Bedauerlichste daran war, dass Louisa genau die Art von Frau war, die Darcy brauchte, wenn nicht diese eine Sache ihrer Verbindung im Wege stehen würde.
Am liebsten wäre sie nach Bendigo gefahren, um mit Darcy zu reden. Doch das untersagte Con ihr strikt. Unerwarteterweise war Meggan nämlich schwanger. Der Arzt sprach von einem typischen Wechseljahrsbaby.
»Sei vernünftig, meine Liebe«, ermahnte Con sie. »Als du das letzte Mal schwanger warst, vor siebzehn Jahren, hast du das Baby verloren und wärst beinahe selbst gestorben. Damals hat man uns gesagt, du solltest auf keinen Fall noch ein Kind bekommen. Du darfst dich jetzt keinem Risiko aussetzen.«
»Du hast ja recht, mein Lieber. Ich muss auch zugeben, dass mir überhaupt nicht danach ist, mich in einer Kutsche durchrütteln zu lassen. Ich werde Darcy schreiben. Vielleicht sollte ich auch Agnes schreiben, denn sie muss sich überlegen, wie sie das alles Louisa erklären soll.«
Und so erhielt Darcy Ende Februar einen Brief von Meggan.
Mein lieber Darcy,
die Geschichte, die ich Dir jetzt schreiben werde, ist viel zu kompliziert, um sie in wenigen Worten zu erzählen. Die verschlungenen Wege des Schicksals, die Deine gegenwärtige Situation herbeigeführt haben, umfassen eine Zeitspanne von etwa fünfundvierzig Jahren. Wenn Du diese Seiten gelesen hast, wirst Du verstehen, warum Du Louisa nicht heiraten kannst.
Louisa nicht heiraten? Wie kam Tante Meggan denn darauf? Darcy las weiter und hatte große Mühe, die Dinge zu begreifen, von denen Tante Meggan schrieb.
Ich muss Dich zurück in das Jahr 1827 führen, und zwar nach Cornwall, wo alles begann. Pengelly war damals ein Bergarbeiterdorf, wo sämtliche Männer, Frauen, Jungen und Mädchen im Wheal Pengelly arbeiteten, wo sie das Kupfer förderten, das dafür sorgte, dass der Squire Tremayne reich blieb.
Meine Mutter Joanna war zwar nicht das hübscheste Mädchen im Dorf, doch sie zog die Blicke zweier Männer auf sich. Einer davon war mein Vater Henry Collins. Zu der Zeit erwartete die Frau des Squire, eine geborene Louise Pengelly, ihr erstes Kind.
Auch wenn es für diese Geschichte nicht von Belang ist, möchte ich erwähnen, dass Louise Phillip Tremayne geheiratet hatte, um den Besitz ihrer Familie zu retten. Das Dorf und die Kupfermine behielten den Namen Pengelly, nur das Haus hieß von da an Tremayne Manor.
Zur Verteidigung meiner Mutter Joanna muss ich sagen, dass sie Phillip Tremayne aufrichtig geliebt hat, der ihre Liebe ebenso aufrichtig erwiderte. Doch selbst wenn Phillip frei gewesen wäre, hätte ihre unterschiedliche soziale Stellung jeden Gedanken an eine Ehe unmöglich gemacht. Als Joanna merkte, dass sie ein Kind erwartete, tat Phillip das, was er für das Beste hielt. Er arrangierte ihre Ehe mit Henry Collins. Als Entschädigung dafür, dass er bereit war, das Kind eines anderen Mannes als sein eigenes anzunehmen, wurde Henry zum Minenaufseher befördert und erhielt ein ansehnliches Cottage.
Das Kind war ein Mädchen und wurde Caroline genannt. Sie war sanftmütig und hatte blonde Haare und blaue Augen wie ihre Mutter. Niemand im Dorf verschwendete jemals einen Gedanken daran, dass Phillip Tremayne ebenfalls blond und blauäugig war.
Im Laufe der Jahre gebar Joanna vier weitere Kinder: Will, mich, Hal und Tommy. Louisa hatte nur zwei Kinder: Rodney, der nicht mal ein Jahr älter war als Caroline, und Jenny, die ungefähr in meinem Alter war. Außerdem hatte Phillip einen Pflegesohn namens Con Trevannick, der für die jüngeren Tremaynes wie ein Bruder wurde.
Wie meine Mutter zog auch Caroline die Aufmerksamkeit zweier Männer auf sich. Der eine war ein Bergarbeiter namens Tom Roberts. Tom sah gut aus und war bei allen beliebt. Anscheinend hatte er nicht die schlechten Eigenschaften seines verstorbenen Vaters geerbt, der häufig betrunken war und dann brutal wurde. Tom wollte Caroline heiraten. Meine Schwester hatte aber nur Augen für Rodney Tremayne und er für sie. Es blieb nicht aus, dass auch Caroline unverheiratet schwanger wurde.
Das junge Liebespaar war fest entschlossen zu heiraten. Als beide Familien strikt gegen eine solche Ehe waren, schlug Rodney vor, irgendwohin auszuwandern, zum Beispiel nach Amerika, wo ihnen niemand ihren Herzenswunsch verbieten könne.
In dem verzweifelten Wunsch, ihre Tochter davor zu bewahren, eine noch schwerere Sünde zu begehen, erzählte Joanna Caroline, wer ihr leiblicher Vater war. Caroline erlitt einen Schock. Der Gedanke, ein Kind von ihrem Halbbruder zu erwarten, war für sie unerträglich. Am nächsten Morgen fand man sie tot auf dem Grund eines stillgelegten Minenschachts.
Tom gehörte zu den Männern, die Carolines Leiche nach oben brachten. Er war außer sich vor Schmerz und schwor den Tremaynes Rache. Die Sache mit Caroline und Rodney hatte er im wahrsten Sinne des Wortes aus meinem Bruder Will herausgeprügelt. Ich glaube, von diesem Tag an begann Tom sich zu verändern, bis er schließlich noch schlimmer war als sein brutaler Vater. Kurz danach überwarf sich Rodney Tremayne mit seinem Vater und verließ das Herrenhaus, ohne jemandem zu sagen, wohin er ging.
Die Geschichte geht nun in Südaustralien weiter, wohin unsere Familie sechs Monate nach Carolines Tod auswanderte. Tom Roberts kam etwas später dorthin. Er arbeitete in einer Gruppe mit Will, Hal und Tommy in der großen Kupfermine von Burra. Diese frühen Jahre in Australien sind nicht wichtig für die Geschichte, von der ich schreibe, deshalb springe ich jetzt in das Jahr 1850, als nämlich Jenny Tremayne in Begleitung von Con Trevannick in Burra ankam.
Zu dem Zeitpunkt war Phillip Tremayne krank und wusste nicht, wie lange er noch zu leben hatte. Deshalb hatte er den Wunsch, sich mit seinem Sohn zu versöhnen. Nachforschungen hatten ergeben, dass Rodney nach Australien gegangen war. Es erschien logisch, in den Kupferstädten in Südaustralien nach ihm zu suchen, weil dort überwiegend Einwanderer aus Cornwall lebten.
Jenny Tremayne und mein Bruder Will verliebten sich ineinander. Es war Liebe auf den ersten Blick. Während dieser Zeit entdeckten auch Con und ich unsere Liebe füreinander. Ich will jetzt nicht im Einzelnen auf diese Liebesgeschichten eingehen. An dieser Stelle genügt es, wenn ich sage, dass Con und Jenny schließlich nach Cornwall zurückkehrten, ohne Rodney gefunden zu haben.
Du willst wissen, wer Dein Vater ist. Er hat auf Riverview für Charles Winton gearbeitet, unter dem Namen James Pengelly. Ich war diejenige, die auf einem Ball in Adelaide erkannt hat, dass er in Wirklichkeit Rodney Tremayne war. Deine Mutter hat mir erzählt, dass Du in derselben Nacht gezeugt wurdest. Mir ist bewusst, wie stolz Du auf Dein Aborigine-Blut bist, aber Du musst akzeptieren, dass in Deinen Adern auch Tremayne-Blut fließt.
Nun muss ich noch einmal ein Stück in der Zeit springen, nämlich zu den Goldfeldern von Ballarat, wohin meine Brüder in der Hoffnung gegangen waren, dort ein Vermögen zu machen. Ungefähr zur gleichen Zeit hatte ich meine verwitwete Mutter zurück nach Cornwall gebracht. In Begleitung von Jenny Tremayne kehrte ich zurück nach Australien. Agnes, die die Jüngste von Tom Roberts’ Geschwistern ist, kam als mein Dienstmädchen mit.
Tom Roberts war ebenfalls in Ballarat, ein brutales und korruptes Mitglied einer inkompetenten und größtenteils korrupten Polizeitruppe. Er nahm seine Rache, die er vor so vielen Jahren den Tremaynes geschworen hatte, indem er Jenny vergewaltigte. Louisa ist das lebende Ergebnis dieser Übeltat. Als Jenny starb, haben Agnes und Larry Louisa adoptiert. Sie glaubt, dass sie ihre wahren Eltern sind, und Du darfst ihr nie etwas anderes erzählen.
Verstehst Du nun, Darcy? Dein Vater und Louisas Mutter waren Bruder und Schwester. Louisa und Du, Ihr seid Cousin und Cousine ersten Grades. Ihr könnt sowohl aus gesetzlichen als auch aus moralischen Gründen nicht heiraten. Ich bedaure zutiefst, dass die Taten vorheriger Generationen dieses Dilemma geschaffen haben. Alle Fragen, die Du mir noch stellen möchtest, nachdem Du diesen Brief gelesen hast, werde ich Dir gerne beantworten.
Mit tiefster Zuneigung
Tante Meggan
Darcy musste den Brief mehrmals lesen, bevor er die komplizierten Beziehungen begriffen hatte. Zumindest wusste er jetzt, wer sein Vater war. Doch nun dachte er, dass es vielleicht klüger gewesen wäre, es nie erfahren zu haben. Mit Verblüffung nahm er zur Kenntnis, dass Louisa nicht die leibliche Tochter von Agnes und Larry Benedict war. Er wusste, dass Jenny Tremayne während des Eureka-Aufstands erschossen worden war, als sie sich vor Will Collins geworfen und die Kugel abbekommen hatte, die für ihn bestimmt war. Ihr Grab war auf Langsdale, und als Kinder hatten sie oft in der Nähe gespielt.
Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er Louisa das erklären sollte, ohne ihr zu sagen, wer ihre Eltern waren. Ihm war absolut hundeelend, weil er wusste, wie sehr sie ihn liebte. Er brauchte einen Rat, und der einzige Mensch, der ihm seiner Meinung nach diesen Rat geben konnte, war Tante Meggan.
Darcy erhielt eine Woche Urlaub von seiner Arbeit. Statt mit der Postkutsche zu fahren, beschloss er, auf Midnight zu reiten. Wenn er die kürzestmögliche Strecke nahm, könnte er es an einem Tag bis Langsdale schaffen. Er verließ Bendigo im grauen Licht der Morgendämmerung und ritt am frühen Abend durch das Eingangstor der Langsdale-Farm.
Die Hofhunde kamen bellend angelaufen, als er sich dem Haus näherte. Die beiden, die er kannte, brachte er mit wenigen Worten zum Schweigen. Der dritte folgte dem Beispiel seiner Gefährten. Darcy bemerkte, wie sich die Gardine vor dem Salonfenster bewegte. Offenbar wollte jemand wissen, warum die Hunde gebellt hatten. Er wandte sich zur Seite und ritt zu den Ställen. Nach einem so langen Tag musste Midnight abgerieben und getränkt werden, bevor er sich im Haus meldete.
Nachdem er sich um Midnight gekümmert hatte, ließ er sich noch einen Moment Zeit, um Ettys Stute Mirabelle zu tätscheln. Er fragte sich, ob das Pferd Etty vermisste. Doch Etty war nicht der Grund seines Besuchs auf Langsdale. Wegen Louisa war er gekommen. Er verließ den Stall und ging zur Küche hinüber. Mrs Clancy würde überrascht sein, ihn zu sehen.
Sie schloss ihn in die Arme. »Das ist aber eine Überraschung, wo Miss Etty doch gerade erst gestern eingetroffen ist.«
Der Schock traf Darcy wie ein Schlag in den Magen. »Etty? Etty ist hier?«
»Sie ist gestern gekommen, genauso unangekündigt wie du, um ihre Mutter zu überraschen.«
»Ist sie alleine?« Spielte das wirklich eine Rolle?
»Mr Alistair hat sie begleitet. Er ist jetzt allerdings schon wieder auf dem Rückweg nach Melbourne.«
»Ach so.« Er setzte sich an den Tisch. »Haben Sie vielleicht ’ne Tasse Tee für mich, Mrs Clancy?«
»Möchtest du auch ’nen Happen essen? Du siehst aus, als könntest du was vertragen.«
»Danke, ich hab tatsächlich Hunger. Ich bin heute Morgen in Bendigo losgeritten.«
»Tatsächlich? Das ist aber eine lange Strecke für einen Tag. Deshalb bist du wohl auch zuerst in die Küche gekommen, statt gleich ins Haus zu gehen.«
»Da haben Sie recht, Mrs Clancy. Zuerst musste ich mich allerdings um mein Pferd kümmern.«
»Hast du Goonda immer noch?«
»Ja, sie steht allerdings zu Hause in Riverview. Ich habe Midnight mit nach Bendigo genommen. Sie erinnern sich doch bestimmt an meinen schwarzen Hengst.«
»Ach ja, jetzt fällt’s mir wieder ein. Dieser Skink hat versucht, ihn zu reiten, und du hast Skink vor Wut halb totgeschlagen. Ned sagt, er habe den Kerl in Ballarat und in Creswick gesehen. Er hat auf keiner anderen Farm Arbeit gekriegt, nachdem Mr Trevannick ihn fortgejagt hat. Er hat Ned geschworen, sowohl du als auch der Boss müsstet dafür zahlen, dass er keine Arbeit mehr hat.«
»Ich habe keine Angst vor ihm«, sage Darcy. Er war jedoch nicht so ganz bei der Sache, weil ihn der Gedanke nicht losließ, dass Etty in Langsdale war. Er hatte keine Ahnung, was er empfinden würde, wenn er sie wiedersah. Das fand er jedoch heraus, noch bevor er mit dem Essen fertig war.
Sie kam zur Küchentür, sagte: »Mrs Clancy«, und verstummte dann, weil sie ihn entdeckt hatte. Seine Hand, die gerade eine Gabel voll Essen hatte zum Mund führen wollen, verharrte in der Luft. Ettys Gesicht war bleich geworden vor Schock. Zumindest hatte er den Vorteil, dass er vorgewarnt gewesen war. Er legte die Gabel hin und stand auf.
»Hallo, Etty.«
»Was machst du hier?« Sie sprach mit leiser, angestrengter Stimme.
»Ich wollte mit deiner Mutter reden.«
»Ich sage ihr, dass du da bist.«
Sie eilte aus der Küche. Darcy starrte auf den leeren Türdurchgang. Warum nur war Etty nicht in Europa geblieben? Wie konnte er auch nur daran gedacht haben, Louisa zu heiraten, wenn er Etty so sehr liebte?
Mrs Clancy berührte ihn an der Schulter. »Setz dich hin, Junge, und iss auf.«
Er sah sie an und nickte. Die alte Frau verstand, wie sollte sie auch nicht? Schließlich hatte sie die beiden bereits gekannt, als sie fast noch Babys waren.
Con Trevannick und nicht Meggan kam in die Küche, um Darcy zu begrüßen. »Haben die Hunde vorhin deinetwegen gebellt?«
»Ja. Ich bin direkt zu den Ställen geritten, um mich um Midnight zu kümmern. Dann habe ich es nicht fertiggebracht, an der Küche vorbeizugehen, ohne mir zuerst von Mrs Clancy etwas zu essen geben zu lassen.« Er grinste die Köchin an, und die lachte.
»Du hast dich kein bisschen verändert, Darcy Winton. Und wenn du jetzt fertig gegessen hast, verschwinde aus meiner Küche, damit ich hier sauber machen kann.«
Darcy gab ihr einen festen Kuss auf die Wange und ging dann mit Con Trevannick hinaus.
»Du hast Etty einen schweren Schock versetzt. Ich habe meine Tochter noch nie so außer sich erlebt.«
»Ich war selbst ein bisschen schockiert, als Mrs Clancy mir gesagt hat, dass Etty hier ist. Ich hatte geglaubt, sie hätte sich in Europa niedergelassen. Sie war doch über zwei Jahre fort.«
»Zur allseitigen Überraschung ist meine Frau schwanger. Das Kind soll im Juni kommen. Etty wollte in dieser Zeit bei ihrer Mutter sein, für den Fall, dass nicht alles glatt verläuft. Wir sind sehr froh, sie hier zu Hause zu haben.«
»Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Wie geht es Tante Meggan?«
»Sie behauptet, sie fühle sich sehr gut. Ich brauche dich ja wohl nicht nach dem Grund deines unerwarteten Besuchs zu fragen.«
»Ich bin ganz durcheinander. Es wird Louisa das Herz brechen, wenn ich ihr sage, dass wir nicht heiraten können. Besonders da ich ihr keinen triftigen Grund nennen kann. Doch selbst wenn ich es könnte, würde es ihr trotzdem das Herz brechen.«
»Ich fürchte, da weiß ich keine Lösung. Vielleicht hat Meggan ja eine Idee.«
Als sie den Salon erreichten, öffnete Con die Tür. Meggan war allein.
»Wo ist Etty?«, fragte ihr Vater.
»Sie hat gesagt, sie habe Kopfschmerzen und müsse sich hinlegen.« Man konnte Meggan am Gesicht ansehen, dass sie ihrer Tochter nicht glaubte. Con erklärte grummelnd, er würde sich in sein Arbeitszimmer zurückziehen, damit die beiden ungestört reden könnten.
»Komm herein und setz dich, Darcy. Du hast ja anscheinend einen langen Ritt hinter dir.«
»Ja, Tante Meggan. Ich wollte so schnell wie möglich kommen. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, seit ich deinen Brief erhalten habe. Warum hat meine Mutter mir nicht geschrieben?«
»Deine Mutter weiß, dass Agnes und Larry nicht wollen, dass Louisa jemals erfährt, dass sie nicht ihre leibliche Tochter ist. Außerdem kenne ich die Hintergründe dieser ganzen Geschichte besser. Wenn es mein Zustand erlaubt hätte, wäre ich nach Bendigo gekommen, um es dir persönlich zu erzählen. Aber vielleicht ist es in dem Brief sogar klarer geworden.«
»Ich musste ihn mehrmals lesen. Tante Meggan, wie soll ich das bloß Louisa erklären?«
Meggan schüttelte betrübt den Kopf. »Darcy, das weiß ich nicht. Ich hab Agnes ebenfalls einen Brief geschrieben, in dem ich ihr alles erklärt habe. Vielleicht finden Larry und sie eine Möglichkeit, es Louisa zu sagen, ohne dass es sie zu tief erschüttert. Liebst du sie aufrichtig?«
»Ich liebe Louisa, aber ohne große Leidenschaft.«
»Wie sehr liebt Louisa dich?«
»Zu sehr. Hätten wir beide aus ähnlichen Gründen diese Ehe eingehen wollen, könnten wir uns jetzt leichter darauf einigen, getrennte Wege zu gehen. Ich hasse den Gedanken, ihr wehzutun. Sie ist ein so liebes und sanftes Wesen.«
»Louisa ist im Aussehen und im Charakter genau so, wie ihre leibliche Mutter war. Doch Jenny hat eine innere Kraft und Stärke bewiesen, die uns alle überraschte. Ich glaube, dass Louisa zu der gleichen Stärke fähig sein wird.«
»Ich hoffe, dass du recht hast, Tante Meggan.«
»Das hoffe ich auch. Nun entschuldige mich bitte, Darcy. Ich werde zurzeit schnell müde. Es wird Zeit, dass ich mich zum Schlafen zurückziehe. Du kannst diese Nacht Ruans Zimmer benutzen. Er ist in Ballarat und kommt erst in ein bis zwei Tagen zurück.«
»Wenn es dir recht ist, Tante Meggan, würde ich lieber in Boneys altem Cottage schlafen, wenn es frei ist.«
»Ja, schon. Das benutzt niemand. Aber hättest du es im Haus denn nicht bequemer?«
»Das Cottage reicht mir.«
»Wie du möchtest. Lass dir von Mrs Clancy alles geben, was du brauchst.«
Drinnen im Cottage war es ein bisschen staubig, und es roch muffig. Ansonsten aber war alles sauber. Darcy warf die Decken, die Mrs Clancy ihm gegeben hatte, auf das Bett und machte Feuer. Dann lehnte er sich gegen den Rahmen der offenen Tür und blickte zu dem Farmhaus hinüber, in dem Etty schlief. Wenn sie nicht zu Hause gewesen wäre, hätte er Ruans Zimmer genommen. Doch er war auf gar keinen Fall in der Lage gewesen, mit ihr unter einem Dach zu schlafen. Er hasste sie beinahe, wünschte, sie wäre in Europa geblieben. Heute Abend war sie vor einem Gespräch mit ihm davongelaufen. Wie würde sie sich morgen verhalten?