20

Für Etty war an Schlaf nicht zu denken. Nachdem sie sich in ihr Zimmer geflüchtet hatte, hatte sie sich auf die Bettkante gesetzt. Da saß sie nun, die Hände fest ineinander verschränkt gegen das Kinn gedrückt und die Arme seitlich an sich gepresst, um das furchtbare Zittern zu unterdrücken, das sie ergriffen hatte. In ihrem Kopf herrschte ein derartiger Aufruhr, dass sie nicht denken, sich nicht bewegen, überhaupt nichts tun konnte.

Vielleicht hätte sie die ganze Nacht so dagesessen, wenn ihre Mutter nicht an die Tür geklopft hätte und unaufgefordert eingetreten wäre. Meggan sah ihre Tochter an und machte leise die Tür hinter sich zu.

»Es ist wegen Darcy, nicht wahr? Du hast gar keine Kopfschmerzen.«

»Hast du ihn hierhergebeten, um mich zu überraschen, Mama? Wenn ja, dann ist dir das zweifellos gelungen.«

»Ganz ruhig, mein Liebes. Es hat dir offensichtlich einen großen Schock versetzt, Darcy zu sehen. Aber glaub mir, Etty, wir hatten keine Ahnung, dass er plötzlich auf Langsdale auftauchen würde.«

»Warum ist er denn gekommen? Hat er gewusst, dass ich hier bin?«

»Etty, sei doch vernünftig. Du bist doch erst seit gestern hier. Und wir hatten auch nicht gewusst, dass du nach Hause kommen würdest.«

»Tut mir leid, Mama. Doch dass Darcy einen Tag nach mir hier ankommt, schien mir ein zu großer Zufall, als dass es nicht geplant gewesen wäre.«

»Ich kann dir versichern, dass es nicht geplant war. Doch nun sag mir, warum dich seine Anwesenheit so aufgeregt hat, nachdem du fast zweieinhalb Jahre fort warst und Darcy kein einziges Mal in deinen Briefen erwähnt hast. Bist du mit Darcy im Unfrieden auseinandergegangen?«

»Ja. Das letzte Mal, als ich ihn in Melbourne gesehen habe, kurz bevor ich nach Übersee gegangen bin. Seit damals habe ich nichts mehr von ihm gehört.«

»Hast du ihm denn geschrieben und dich bei ihm entschuldigt, weil du dich im Unfrieden von ihm getrennt hast?«

»Ich war nicht wütend auf ihn. Er war wütend auf mich. Und ich habe ihm tatsächlich geschrieben, Mama, aber er hat mir nie geantwortet.«

»Worüber habt ihr euch denn gestritten, dass du nach so langer Zeit immer noch verbittert bist?«

Etty stand auf und ging zum Fenster. Dort schob sie den Vorhang zur Seite und starrte hinaus in die Dunkelheit. »Darüber möchte ich nicht reden, Mutter.«

»Na schön. Ich werde dich nicht drängen. Wenn du mich in diesem Ton mit ›Mutter‹ anredest, weiß ich, dass du auf stur geschaltet hast. War deine Starrköpfigkeit der Grund für euer Zerwürfnis?«

»Meine Starrköpfigkeit!« Etty drehte sich wütend um. »Darcy ist derjenige, der starrköpfig ist. Er will, dass ich alles für ihn aufgebe. Er war nicht mal bereit, mir dieses eine Jahr zu gewähren, um mir meinen Traum in Europa zu erfüllen.«

Meggan schnalzte verärgert mit der Zunge. »Wenn ich dabei gewesen wäre, hätte ich euch beide gepackt und mit den Köpfen aneinandergehauen. Ihr seid ja beide solche Dummköpfe. Sture und launische Dummköpfe. Wenn ihr euch auf einen vernünftigen Kompromiss geeinigt hättet, steckte Darcy jetzt nicht in diesem schrecklichen Dilemma.«

»Was für ein Dilemma?«

»Das kann ich dir nicht sagen.«

»Du meinst, du willst es mir nicht sagen. Dann sage ich dir was, Mutter: Wenn du nicht so dämlich gewesen wärst, in deinem Alter noch schwanger zu werden, wäre ich überhaupt nicht nach Hause gekommen.«

Meggan verpasste ihrer Tochter eine schallende Ohrfeige. »Wag es nicht noch einmal, so mit mir zu reden. Du magst zwar eine Diva sein, aber du bist immer noch meine Tochter. Was auch immer deine Probleme sind, Etty, du hast sie dir selber zuzuschreiben. Ich werde erst wieder mit dir reden, wenn du bereit bist, dich zu entschuldigen.«

Meggan rauschte aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Etty wandte sich wieder zum Fenster. Sie hatte die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Aber sie wollte nicht weinen. Sie weigerte sich zu weinen. Darcy hatte ihr schon zu viele Tränen bereitet. Doch das, was sie zu ihrer Mutter gesagt hatte, bloß weil sie erregt war, war unverzeihlich. Etty wischte sich die Tränen aus den Augen und lief zum Schlafzimmer ihrer Eltern. Dort klopfte sie leise an die Tür.

»Ja?«, rief Meggan.

»Ich bin’s, Etty. Darf ich hereinkommen, Mama?«

»Ja.«

Ihre Mutter saß an der Frisierkommode und war dabei, die Nadeln aus ihrem Haar zu entfernen.

»Es tut mir leid, Mama. So etwas Gemeines hätte ich nicht zu dir sagen dürfen.«

»Nein, das hättest du nicht. Wenn du es aufrichtig bedauerst, werde ich dir verzeihen.«

»Es tut mir wirklich leid. Ich weiß ja, wie sehr du dich auf dieses Baby freust. Es wäre schrecklich, wenn einem von euch etwas geschehen würde. Ich bin doch nach Hause gekommen, um bei dir zu sein, um dir zu helfen.«

»Das weiß ich, Liebes. Und ich weiß auch, dass du mir nicht hast wehtun wollen. Du hast im Zorn gesprochen, weil du unglücklich bist.«

Sie streckte die Hand nach ihrer Tochter aus. Etty eilte zu ihr, kniete sich neben den Stuhl und legte den Kopf in den Schoß ihrer Mutter. Nun flossen die Tränen, die sie nicht hatte vergießen wollen.

»Ich liebe ihn immer noch, Mama. Ich liebe ihn so sehr.«

Ihre Mutter hielt sie fest und strich ihr über die Haare, bis sie aufhörte zu weinen. Dann legte sie beide Hände um Ettys Gesicht und wischte mit den Daumen die Tränen von den Wangen ihrer Tochter. »Du musst mit Darcy reden. Vielleicht liebt er dich ja auch immer noch.«

»Ich habe Angst, Mama.«

»Wovor?«

»Dass Darcy nicht mit mir reden will.«

»Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Morgen solltest du dich mit Darcy in aller Ruhe zusammensetzen, und ihr solltet miteinander reden, ohne dass einer von euch die Beherrschung verliert.«

Nachdem Etty ihr einen Gutenachtkuss gegeben hatte und gegangen war, saß Meggan nachdenklich da und bürstete ihre Haare. Was auch immer geschehen würde, Louisa wäre die Leidtragende. Doch vielleicht wäre es für sie weniger schmerzlich, Darcy an Etty zu verlieren, als Darcy anscheinend ohne guten Grund zu verlieren.

Um Mitternacht war Etty es leid, sich die ganze Zeit schlaflos im Bett hin und her zu wälzen. Ihr ging viel zu viel im Kopf herum. Sie plante das Gespräch mit Darcy – was sie sagen würde – was er antworten würde – wie sie ihm antworten würde und so weiter. Auch wenn ihr klar war, dass solche Gespräche nie wie geplant verliefen, versuchte sie trotzdem immer wieder, sie sich in Gedanken auszuspinnen. Als sie die Uhr in der Diele Mitternacht schlagen hörte, warf sie die Bettdecke von sich und schwang die Füße auf den Boden.

Obwohl die Nacht recht kühl war, hoffte sie, dass ihre Ruhelosigkeit nachließ, wenn sie eine Weile auf der Veranda auf und ab ging. Wenn es ihr zu kalt wurde, würde sie sich sicher gerne wieder ins Bett kuscheln. Sie schlüpfte in warme Hausschuhe, zog einen Morgenmantel aus weicher Wolle an und ging dann leise auf die Veranda.

Tief atmete sie die Nachtluft ein. Nachts schien immer alles anders zu riechen als am Tag, und Sommernächte rochen anders als Winternächte. Und auf Langsdale roch es nachts ganz anders als an jedem Ort der Welt, an dem sie gewesen war. Überrascht stellte sie fest, wie sehr sie den Schafgeruch in der Luft genoss. Sie war zwar tatsächlich nach Hause gekommen, um ihrer Mutter zu helfen, doch auf der letzten Etappe ihrer Reise, von Melbourne hierher hatte sie gemerkt, wie sehr sie ihr Zuhause vermisst hatte. In Zukunft würde sie einmal im Jahr zu Besuch kommen.

Falls sie nach Europa zurückkehrte. Sie hatte ihre Fähigkeiten bewiesen, hatte die höchstmögliche Anerkennung erhalten. Würde und könnte sie nun damit zufrieden sein, nur noch in Australien aufzutreten? Sie hatte reichlich Zeit, um eine Entscheidung zu treffen. Sie wollte mindestens ein halbes Jahr zu Hause bleiben, bis ihre Mutter entbunden hatte und Etty sicher sein konnte, dass mit ihr und dem Baby alles in Ordnung war.

Zweimal war sie bereits die ganze Veranda entlanggegangen, da sah sie eine Gestalt auf das Farmhaus zukommen. Der Mann hatte die Hände in die Taschen seines Mantels gesteckt. Er ging mit gebeugtem Kopf, um zu sehen, wo er hintrat. Etty würde seinen Gang überall erkennen.

Hatte Darcy auch nicht schlafen können? Waren seine Gedanken und Gefühle in ähnlichem Aufruhr wie ihre? Etty ging bis an die Treppe, lehnte sich gegen den Pfosten, verschränkte die Arme über der Brust und schob die Hände in die Ärmel ihres Morgenmantels, um sie warm zu halten. In dieser Haltung beobachtete sie, wie Darcy näher kam.

Er war noch ungefähr zwanzig Meter von ihr entfernt, als er den Kopf hob und sie sah. Er zögerte kurz. Als Etty die Treppe hinunterzugehen begann, ging er auch weiter auf sie zu. Kaum mehr als einen Schritt voneinander entfernt blieben sie einander gegenüber stehen. Keiner von ihnen lächelte. Keiner sprach. Jedes Augenpaar betrachtete intensiv das Gesicht des anderen. Dann fielen sie sich in die Arme.

Monate, Jahre waren wie weggeblasen. Es war so, als wären sie nie getrennt gewesen. Als sie sich schließlich losließen, nahm Darcy Ettys Hand und führte sie zu Boneys Cottage. Immer noch wechselten sie kein Wort. Es waren auch keine Worte nötig, selbst als sie im Cottage waren und Darcy den Gürtel ihres Morgenrocks löste und den Mantel über ihre Schultern nach hinten gleiten ließ.

Mit beiden Händen umschloss Darcy ihr Gesicht und küsste sanft ihren Mund. Er sah ihr unablässig in die Augen, während er ihr Nachthemd aufknöpfte. Nur als er es ihr über den Kopf streifte, wurde der Blickkontakt kurz unterbrochen. Er warf das Nachthemd beiseite, kniete sich vor sie, umfasste mit den Händen ihre Taille und zog sie an sich. Dann drückte er seine Lippen gegen ihren weichen Bauch.

Etty spürte ein Kribbeln und fing an zu zittern. Sie fuhr mit ihren Fingern durch seine Locken. Schließlich stand Darcy auf, hob sie hoch und legte sie aufs Bett. Dann begann er sich auszuziehen. Sie beobachtete ihn. Als sie eine Hand auf ihre Brust legte, stellte sie erstaunt fest, wie hart sich die Brustwarze anfühlte. Sie blickte rasch weg, als er in seiner ganzen männlichen Pracht dastand. Keine der Statuen von nackten Männern, die sie gesehen hatte, sah so aus wie er!

Sie spürte, wie das Bett unter seinem Gewicht nachgab, als er sich neben sie legte. Er berührte mit der Hand ihre Wange, damit sie ihm den Kopf zuwandte. Sie drehte sich um, sah ihn an, nahm ihn in die Arme und küsste ihn. Der Kuss verzehrte sie wie jener nie vergessene Kuss in Melbourne. Doch diesmal konnten sich auch ihre Körper ungehindert berühren. Wie sie es liebte, seine nackte Haut auf ihrer zu spüren. Und sie liebte es, wie er mit den Fingern über ihre Haut fuhr und sie überall vor Verlangen zum Vibrieren brachte.

Sie keuchte auf, als er sie zwischen den Oberschenkeln streichelte, und drückte sich gegen seine Hand, gegen seinen Körper. Er drehte sie auf den Rücken und legte sich auf sie. Als er das erste Mal ein kleines Stückchen in sie eindrang, keuchte sie noch lauter. Sie konnte kaum glauben, was für ein wunderbares Gefühl das war. Er hielt inne und beugte sich hinab, um sie zu küssen.

»Bist du noch Jungfrau?«, flüsterte er.

»Ja.«

»Ich werde versuchen, ganz sanft zu sein.«

Er gab sich solche Mühe, ihr nicht wehzutun, dass sie nur ein kurzes Brennen spürte. Als er erneut innehielt, legte sie die Hände auf sein Gesäß und drückte ihn tief in sich hinein. Ihr schwanden fast die Sinne vor Lust, als sie spürte, wie er sich in ihr bewegte. Sie hatte immer gewusst, dass Darcy der Erste, der Letzte und der Einzige sein würde.

Sehr viel später weckte er sie mit einem Kuss. »Du solltest jetzt zurückgehen, bevor alle auf sind. Zieh dich an. Ich bringe dich zum Haus.«

Als sie das Cottage verließen, stellte Etty überrascht fest, dass der Morgen bereits anbrach. Die Farm würde tatsächlich bald zum Leben erwachen. Darcy verließ sie an der Treppe zur Veranda mit einem raschen Kuss und einem Händedruck.

»Wir reden später.«

Etty nickte und schaute hinter ihm her, wie er in Richtung Stall ging, dann schlich sie sich in ihr eigenes Zimmer. Dort fiel sie in einen tiefen Schlaf, aus dem sie erst am späten Vormittag aufwachte.

Sie blieb noch längere Zeit im Bett liegen und dachte über die Stunden nach, die sie in Darcys Armen verbracht hatte. Ihr war klar, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, wo sie eine eindeutige Entscheidung über ihre Zukunft treffen musste. Konnte sie das Singen, das sie aus tiefster Seele liebte, für den Mann aufgeben, den sie ebenfalls über alles liebte? Sie empfand es als unfair, sich zwischen den beiden großen Lieben ihres Lebens entscheiden zu müssen. Selbst der Gedanke, dass ihre Mutter auf möglichen Ruhm verzichtet hatte, um ihre wahre Liebe zu heiraten, konnte Ettys widerstreitende Gefühle nicht besänftigen.

Schließlich stand sie auf, wusch sich mit dem kalten Wasser aus dem Krug und zog eins der einfachen Kleider an, die sie in Langsdale zurückgelassen hatte. Ihre europäische Garderobe war viel zu elegant für das Leben auf einer Schaffarm. Sie fragte sich, was Darcy gerade machte und ob sie ihn bald sehen würde. Nachdem sie so lange geschlafen hatte, war sie hungrig und brauchte dringend eine Tasse Kaffee. Sie hatte es sich angewöhnt, Kaffee statt Tee zu trinken, besonders morgens nach dem Aufwachen.

Da niemand im Salon war und sie ihre Mutter auch nicht in deren Schlafzimmer antraf, ging Etty durchs Haus zur Küche. Dort traf sie ihre Mutter und Darcy, die sich mit Mrs Clancy unterhielten. Ihre Mutter sah sie an.

»Guten Morgen, Liebes. Du hast aber lange geschlafen.«

»Guten Morgen, Mama. Ja, ich war wohl immer noch müde von der Reise.« Sie hatte Hemmungen, Darcy anzusehen, wünschte ihm aber einen guten Morgen. Erst als er antwortete, sah sie ihm ins Gesicht und stellte fest, dass man ihm seine Gedanken und Gefühle in keiner Weise anmerkte, während sie den Eindruck hatte, als stünde ihr alles für jeden sichtbar ins Gesicht geschrieben.

»Sie möchten bestimmt ’ne Tasse Tee«, sagte Mrs Clancy und ging zum Herd.

»Eine Tasse Kaffee bitte, Mrs Clancy.«

»Hm. Kaffee, na so was. Was ist denn falsch an einer guten Tasse Tee?«

Etty musste lachen. »Gar nichts, Mrs Clancy, außer dass es in Italien sehr schwer ist, eine wirklich gute Tasse Tee zu bekommen.«

Darcy stand auf und sagte, er wolle nach Creswick reiten, um den Schmied nach Midnights Hufen sehen zu lassen. »Hast du Lust, mit mir zu reiten, Etty?«

»Ja, das würde ich gern tun. Während ich fort war, hatte ich nur selten Gelegenheit zu reiten. Ich bin ein bisschen aus der Übung.«

»Um Mirabelle zu reiten, brauchst du nicht viel Übung. Sie kennt dich doch.«

»Ja. Sie hat sich sehr gefreut, mich wiederzusehen.«

»Kannst du in einer halben Stunde fertig sein?«

»Ja.«

»Okay. Dann treffen wir uns am Stall.«

Nachdem er gegangen war, sagte Mrs Clancy, sie müsse zum Abtritt, sei aber gleich wieder da. Sobald Mutter und Tochter allein waren, musterte Meggan Etty forschend.

»Es sieht ja so aus, als hättest du bereits mit Darcy geredet.«

»Wie kommst du denn darauf, Mama? Wann soll ich denn seit gestern Abend mit ihm gesprochen haben?« Klangen ihre Worte harmlos genug, oder war ihr Gesicht so rot, wie es sich anfühlte? Ob ihre Mutter etwas ahnte? Doch die nächste Bemerkung ihrer Mutter ließ sie aufatmen.

»Mit seiner Einladung, ihn nach Creswick zu begleiten, hat Darcy dir die Gelegenheit gegeben, mit ihm über eure Meinungsverschiedenheiten zu sprechen. Sei vernünftig, Etty. Bemüh dich, nicht die Beherrschung zu verlieren oder Darcy zu provozieren.«

»Das werde ich.«

Nachdem Etty rasch ihren Kaffee getrunken hatte, ging sie auf ihr Zimmer, um sich zum Reiten umzuziehen. Meggan blieb mit ihren aufgewühlten Gedanken allein zurück. Ihr war nicht entgangen, dass Etty zunächst vermieden hatte, Darcy anzusehen, und dass die Wangen ihrer Tochter leicht errötet waren. Da sie selbst als junge Frau verbotene Leidenschaft erlebt hatte, war sie sich ziemlich sicher, dass Darcy und Etty zumindest einen Teil der Nacht zusammen verbracht hatten. Würde ihre Leidenschaft ebenfalls ein glückliches Ende finden wie bei ihr und Con? Meggan hoffte für Etty, dass es so wäre. Blieb nur noch das Problem mit Louisa.

Als Etty zum Stall eilte, wartete Darcy draußen auf sie. Die Pferde waren bereits gesattelt. Als Etty den schwarzen Hengst sah, war sie sehr überrascht. Sie hatte sich zwar keine besonderen Gedanken darüber gemacht, auf was für einem Pferd Darcy gekommen war, doch nun merkte sie, dass sie Goonda erwartet hatte.

»Erinnerst du dich noch an Midnight, Etty? Ich habe ihn jetzt seit über zwei Jahren.« Seine Worte klangen heiter, doch seine Augen glühten. Etty erwiderte seinen Blick mit ebenso großer Leidenschaft, dann senkte sie die Augenlider. Es arbeiteten nämlich einige Männer in der Nähe.

»Ich kann mich an ihn erinnern. Ist er schwierig zu reiten?«

»Für mich nicht. Dir würde ich allerdings niemals erlauben, auf seinen Rücken zu klettern.«

»Das würde ich auch gar nicht wagen.« Sie ließ sich von Darcy beim Aufsteigen auf Mirabelle helfen und beobachtete dann, von brennender Liebe verzehrt, wie er sich in den Sattel schwang. »Was ist denn aus Goonda geworden?«

»Die habe ich zu Hause auf Riverview gelassen, damit mein Cousin Harry sie reiten kann, solange ich in Bendigo wohne.«

Inzwischen hatten sie ihre Pferde in Bewegung gesetzt. »Du wohnst in Bendigo?«, fragte sie erstaunt.

»Ja.« Darcy lächelte zu ihr hinüber. »Ich wohne jetzt seit fast einem Jahr in Bendigo.«

»Das habe ich nicht gewusst.«

»Nein. Wir müssen über eine Menge Dinge reden, Etty.«

»Ja, das müssen wir.«

»Sollen wir im leichten Galopp reiten?«

»Ich würde Mirabelle gern richtig galoppieren lassen.«

»Wenn Mirabelle galoppiert, will Midnight das auch, und dann rast er wie der Teufel und ist nur noch mit viel Glück zu bändigen.«

Etty stellte sich vor, wie der schwarze Hengst mit fliegender Mähne und wehendem Schweif über eine offene Weide galoppierte, mit Darcy auf dem Rücken. Das wäre ein unvergesslicher Anblick.

»Na schön, dann reiten wir eben im leichten Galopp.«

So ritten sie nebeneinander, bis sie sich der Grenze von Langsdale näherten, wo Darcy Midnight so weit zügelte, dass er im Schritt ging. Auch Etty hielt Mirabelle zurück, damit sie neben Midnight blieb.

»Wir machen einen kleinen Umweg und reiten erst zum Fluss.«

Etty nickte. Sie wusste, was Darcy meinte. Es handelte sich um den Fluss, der eine halbe Meile vom Farmhaus entfernt floss. Nicht weit von der Stelle, wo sie jetzt von der Straße abbogen, mündete er in einen größeren Fluss. Das Gebiet um die Mündung herum war dicht mit Gras und schattigen Bäumen bewachsen. Als sie noch klein waren, war das bei ihren Familien ein beliebter Ort für Picknicks gewesen. Später, als sie alt genug waren, um ohne Begleitung eines Erwachsenen auszureiten, waren sie auch oft dort gewesen. Nun war es der Ort, an dem Darcy sie wieder in die Arme nahm.

Sobald sie abgestiegen waren, hatte er sie an sich gezogen, sein Gesicht in ihrem Haar vergraben und ihre Wange an seine Schulter gedrückt.

»Etty, Etty, ich kann ohne dich nicht leben. Sag mir, dass du das Gleiche empfindest. Sag mir, dass dir die letzte Nacht genauso viel bedeutet hat wie mir.«

Sie hob den Kopf und sah ihm in die Augen. »Die letzte Nacht hat mir alles bedeutet. Ich sehne mich danach, wieder mit dir zusammen zu sein.«

Er strich mit dem Mund sanft über ihre Lippen. Als sie mehr wollte, zog er den Kopf zurück. »Wenn ich dich heftiger küsse, will ich dich wieder lieben.«

»Das möchte ich doch.«

»Nein, mein Schatz. Wenn ich dich das nächste Mal liebe, will ich, dass du meinen Ring trägst. Doch zunächst müssen bestimmte Dinge beredet werden. Es sind nämlich einige Probleme zu lösen, von denen du nichts weißt. Komm, setzen wir uns hin.«

Sie setzten sich ins Gras, allerdings nicht nebeneinander. Etty hielt ihre Knie umklammert und drückte sie an sich. Darcy saß etwas schräg zu ihr. Er hatte das rechte Bein untergeschlagen, das linke Knie gebeugt und den linken Arm darauf gelegt. Mit der rechten Hand riss er einen Grashalm aus und begann, den Saft auszusaugen.

»Sind diese Probleme der Grund, weshalb du nach Langsdale gekommen bist?«, fragte sie.

»Ja.«

»Sagst du mir, um was es geht?«

»Noch nicht. Ich möchte, dass du mir zuerst von dir erzählst, was du alles gemacht hast, seit du von hier fortgegangen bist.«

»Das würde dich nur langweilen. Ich tue ja nichts anderes als singen, in Italien, in Deutschland, überall wo man mich bittet aufzutreten.«

»Du musst doch mehr getan haben als nur auftreten und singen. Du hast doch bestimmt neue Freunde gewonnen und viele interessante Orte gesehen.«

»Viele interessante Orte habe ich tatsächlich gesehen. Und was Freunde angeht, würde ich die Leute, mit denen ich zu tun habe, eher als Bekannte bezeichnen. Von denen steht mir niemand nahe. Außer Alistair natürlich.«

»Mrs Clancy hat mir erzählt, dass er dich nach Hause begleitet hat. War Alistair die ganze Zeit bei dir?«

»Natürlich war er die ganze Zeit bei mir. Als mein Manager kümmert er sich um die geschäftliche Seite meiner Karriere. Und als mein Klavierbegleiter ist er manchmal noch strenger mit mir, als Madame es je war. Wenn ich auch nur eine Note ein winziges bisschen falsch singe, schimpft er mich ganz fürchterlich aus.«

»Ich kann mir dein Leben überhaupt nicht vorstellen. Warst du glücklich?«

»Die meiste Zeit.«

Er sah sie durchdringend an. »Wann warst du denn nicht glücklich?«

Doch sie schüttelte den Kopf und stellte ihm stattdessen eine Frage. »Warum wohnst du in Bendigo?«

»Ich habe mir auch einen Traum erfüllt. Ich bin jetzt Anwalt. Erinnerst du dich noch an diesen Ernest Williams, von dem ich dir erzählt habe?«

»Ja. Er hat also sein Versprechen gehalten? Das freut mich sehr für dich.«

»Danke.« Er nahm eine Hand von ihr, drehte sie um und streichelte mit seinem Daumen über die Handfläche. »Ist dir aufgefallen, dass wir uns die ganze Zeit wie alte Freunde unterhalten haben?«

Darcys Daumen löste Empfindungen in ihr aus, die absolut nichts mit Freundschaft zu tun hatten und die hinauf in ihre Achselhöhlen wanderten und hinab bis in ihr tiefstes Inneres. Etty befeuchtete ihre Lippen mit der Zungenspitze und sah, wie seine Augen glühten. Doch er ließ ihre Finger los.

»Wir sollten uns auf den Weg machen.« Darcy stand auf und streckte die Hand aus, um ihr aufzuhelfen. Er hielt ihre Hand immer noch, als sie sich dicht gegenüberstanden.

»Küss mich, Darcy.«

Kopfschüttelnd ließ er sie los und trat einen Schritt zurück. »Das getraue ich mich nicht, dann kommen wir nie nach Creswick.«

Auf der restlichen Strecke unterhielten sie sich nur über unpersönliche und alltägliche Dinge. Beiden war klar, dass ihre Zukunft noch nicht geklärt war. Offenbar bestand zwischen ihnen ein stillschweigendes Einvernehmen, während dieses Ausflugs nach Creswick einfach die Gesellschaft des anderen zu genießen.

Als sie die Hauptstraße entlangritten, spürte Darcy, dass er beobachtet wurde. »Hast du auch das Gefühl, dass uns jemand nicht aus den Augen lässt, Etty?«

»Nein. Wie kommst du darauf?« Etty blickte rasch von einer Seite zur anderen. »Ich sehe niemanden, der uns beobachten könnte.«

»Irgendwer tut das aber. Ich kann seine Blicke auf mir spüren. Das ist kein gutes Gefühl, Etty.«

»Du meinst, dass uns jemand in böser Absicht beschattet?«

»Genau dieses Gefühl habe ich. Und wo wir gerade von unguten Gefühlen sprechen – ist das da drüben nicht Sergeant Dunstan? Ich hab gedacht, der wäre schon vor ein paar Jahren versetzt worden.«

Als er sie näher kommen sah, trat der Sergeant auf die Straße und zwang die Reiter anzuhalten.

»Was hast du in Creswick zu suchen, Mischling? Ich hab gehört, deine Familie hätte die Gegend hier verlassen.«

»Und ich hab gehört, man hätte Sie irgendwohin versetzt, wo Ihre Vorgesetzten Sie besser im Auge behalten können.«

Der Sergeant grinste spöttisch. »Jetzt habe ich hier wieder das Sagen. Und du bist in meiner Stadt nicht willkommen.«

»Ihre Stadt, Dunstan?« Darcy lachte mit voller Absicht so, dass es beleidigend klingen musste. Er drängte Midnight vorwärts und zwang damit den Sergeant, fluchtartig aus dem Weg zu gehen. Als Etty ebenfalls weiterritt, sagte der Sergeant zu ihr: »Sie sollten etwas sorgfältiger darauf achten, mit wem Sie verkehren, Miss Trevannick.«

Darcy drehte sofort den Kopf nach hinten. Sein Gesichtsausdruck veranlasste Etty, ihm die Hand auf den Arm zu legen und ihn dringend zu bitten, den Mann zu ignorieren. Trotzdem starrte Darcy den Sergeant noch einen Moment lang abschätzig an, bevor er sich endgültig abwandte. Nachdem sie Midnight und Mirabelle zum Schmied gebracht hatten, gingen Etty und Darcy zurück ins Zentrum der Stadt, um im Creswick Hotel zu Mittag zu essen.

Sie bestellten Rinderbraten mit Yorkshirepudding, Bratkartoffeln und Kohl-Möhren-Gemüse, das Ganze serviert mit einer dicken Bratensauce. Etty betrachtete den Teller, den man vor sie stellte, mit offenkundigem Vergnügen.

»Das wird mir so richtig gut schmecken. Wie oft habe ich mich nach einem schönen Rinderbraten mit allem Drum und Dran gesehnt. Ich nehme auch noch Apfelkuchen mit Sahne zum Nachtisch. Den hab ich auch sehr vermisst.«

»Wie war denn das Essen in Italien und in den anderen Ländern, die du besucht hast?«

»Das italienische Essen mag ich am liebsten. Sie kochen viel mit Kräutern und Tomaten und essen sehr viel Pasta, die mit unterschiedlichen Saucen serviert wird.«

»Was ist Pasta? Das Wort habe ich ja noch nie gehört.«

»Pasta ist …« Etty lachte leise. »Pasta ist schwer zu erklären. Sie wird aus einem Mehlteig hergestellt, und es gibt sie in vielen Formen und Größen. Die Pasta wird in Salzwasser gekocht, bis sie weich ist, dann abgeschüttet und auf einem tiefen Teller, mit Sauce begossen, serviert. Oft wird auch noch ein harter Käse namens Parmesan darübergerieben. Die Italiener benutzen Pasta außerdem in Suppen, in im Ofen überbackenen Gerichten und sogar in Desserts.«

»Kannst du italienisch kochen?«

»Einige italienische Gerichte krieg ich hin.«

»Dann musst du dir die Zutaten besorgen, damit du sie für mich kochen kannst. Wenn wir verheiratet sind.«

Messer und Gabel noch in der Hand ließ Etty die Handgelenke auf der Tischkante ruhen. »Erst haben wir aber noch eine Menge zu bereden, Darcy. Du hast selbst gesagt, dass du einige Probleme lösen musst.«

»Das muss ich in der Tat.«

»Willst du nicht doch mit mir darüber reden?«

Darcy dachte wenige Sekunden nach. »Ich habe die ganze Zeit hin und her überlegt, ob ich es dir sagen soll oder nicht. Um der Fairness willen hast du ein Recht darauf, es zu erfahren. Ich fürchte nur, dass es dir wehtun wird.«

Welterfahren, wie Etty mittlerweile war, sagte sie: »Es gibt eine andere Frau in deinem Leben.«

Einen Moment lang wirkte Darcy verblüfft über ihre Scharfsinnigkeit, dann nickte er leicht mit dem Kopf. »Louisa.«

Eifersucht versetzte Etty sofort einen Stich ins Herz. Sie fragte sich, wieso sie nicht darauf gekommen war, da Darcy und Louisa ja auch schon seit ihrer Kindheit befreundet waren. »Ich verstehe.«

»Tust du das wirklich, Etty? Begreifst du wirklich, warum ich Louisa gebeten habe, mich zu heiraten?«

»Ihr seid verlobt?« Wie hatte er sie nur mit dieser Leidenschaft lieben können, wenn er mit Louisa verlobt war? Er schien ihre Gedanken lesen zu können.

»Wir sind nicht offiziell verlobt, worüber wir angesichts der Umstände nur froh sein können.«

»Weil ich zurückgekommen bin?«

»Was zwischen uns letzte Nacht passiert ist, wäre in jedem Fall passiert, unabhängig von irgendwelchen Bindungen, die du oder ich inzwischen eingegangen sein mochten. Dass wir zusammengekommen sind, war unvermeidlich.«

Er hatte ja so recht. Ohne dass auch nur ein Wort notwendig gewesen wäre, waren sie sich in die Arme gelaufen, getrieben von einer Kraft, die stärker war als sie beide.

»Nein, wir können deshalb froh sein«, fuhr Darcy fort, »weil ich, noch bevor ich dich wiedergesehen hab, erfahren habe, dass Louisa und ich nicht heiraten können. Und das muss ich ihr sagen. Ich bin nach Langsdale gekommen, um deine Mutter um Rat zu fragen.«

»Das verstehe ich nicht. Warum bittest du meine Mutter um Rat? Warum nicht deine eigene Mutter?«

»Langsdale ist für mich näher als Riverview. Ich hatte das Bedürfnis, mit jemandem zu reden, der mir persönlich nahesteht. Etty, ich denke aber, es ist nur fair, dir zu sagen, dass ich die Nase voll hatte, auf dich zu warten, und deshalb Louisa einen Heiratsantrag gemacht habe.«

»Ich verstehe.« Etty tat so, als erfordere das Beenden ihres Mahls ihre gesamte Aufmerksamkeit. Ihr Kopf war jedoch voller Fragen, auf die nicht leicht eine zufriedenstellende Antwort zu finden war.

»Bist du gekränkt, Etty?«

»Dazu habe ich kein Recht. Ich war schließlich diejenige, die dich vernachlässigt hat. Allerdings bin ich mir sicher, dass Louisa deine Avancen ermutigt hat.«

»Nur indem sie mir eine gute Freundin war. Louisa und ich haben schon immer gut miteinander reden können.«

»Daran kann ich mich erinnern.«

Darcy legte seine Hand auf ihre. »Du bist also nicht böse auf mich oder eifersüchtig?«

»Unsere Liebe ist zu stark für Eifersucht.«

»Ist sie auch stark genug, dass du dafür deine Karriere aufgeben würdest?«

Etty musste heftig schlucken. Auf diese Frage wusste sie keine Antwort.

Darcy schloss die Antwort aus ihrem Schweigen. Sein Gesichtsausdruck war plötzlich von unbändigem Zorn erfüllt, doch seine Stimme blieb ruhig – zu ruhig und zu bitter. »Ich verstehe.« Er schob seinen Stuhl nach hinten und stand auf. »Ich gehe zurück zur Schmiede. Lass dir deinen Apfelkuchen schmecken. Wir treffen uns hier, wenn es Zeit wird aufzubrechen.«

»Darcy. Warte.« Sie stand halb auf, ließ sich dann aber wieder auf ihren Stuhl sinken. Warum liebte sie ihn bloß so sehr, wo er doch so sprunghaft war? Hätte dieser dämliche hitzköpfige Idiot sie nicht wenigstens antworten lassen können, statt seine eigenen Vermutungen anzustellen. Sie würde ihn in Ruhe lassen, bis sich sein Zorn abgekühlt hatte. Inzwischen würde sie ihren Apfelkuchen mit Sahne genießen, sich ein bisschen in der Stadt und in den Läden umsehen – auf keinen Fall in die Nähe der Schmiede gehen – und zum Hotel zurückkehren, wenn sie genug gesehen hatte. Falls Darcy als Erster dort war, könnte er ja auf sie warten.