3
Etty und Louisa standen in Ballarat auf dem Bahnsteig, als der Zug aus Melbourne, schwarze Rußwolken ausstoßend, um die Kurve kam. Ein durchdringender Pfiff kündigte seine Ankunft an, als hätte nicht die gesamte Bevölkerung von Ballarat schon längst das nahende Rattern und Stampfen gehört. Fauchend hielt der Zug unter lautem Gekreische an. Die Türen gingen auf. Passagiere strömten aus dem Zug, junge Männer, die behände auf den Bahnsteig sprangen, und Damen, die sich gern beim Herabsteigen der beiden schmalen Stufen behilflich sein ließen.
Ruan war einer der Ersten, die ausstiegen, zwei Wagen von der Stelle entfernt, an der seine Eltern mit den beiden Mädchen warteten. Sobald sie ihn sah, spürte Etty, dass sie ihren Bruder viel stärker vermisst hatte, als ihr bewusst gewesen war. Sie rief seinen Namen und winkte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht winkte er zurück. Etty wollte auf ihn zulaufen, hielt jedoch inne, als sie sah, dass ihr Bruder nicht allein war.
»Wer ist dieser Mann neben Ruan?«, fragte sie ihre Eltern und runzelte verblüfft die Stirn.
»Sicher jemand, mit dem er sich im Zug angefreundet hat«, antwortete ihre Mutter. »Wir werden es gleich erfahren. Ruan scheint ihn uns vorstellen zu wollen.«
In Gegenwart des streng aussehenden Fremden mit dem grauen zottigen Haar und den wild wuchernden Augenbrauen gab Etty ihrem Bruder nur einen sittsamen Kuss auf die Wange, statt ihn herzlich zu umarmen, wie sie das andernfalls getan hätte. Ruan schüttelte seinem Vater die Hand, ließ sich von seiner Mutter umarmen und begrüßte Louisa mit einem grinsenden »Hallo«.
»Mutter, Vater, ich möchte euch meinen Klassenlehrer Mr Boniface vorstellen. Mr Boniface, meine Eltern.«
Die Männer schüttelten sich die Hände und murmelten jeder ein höfliches »Angenehm«. Zu Ruans Mutter sagte Mr Boniface: »Es ist mir eine große Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mrs Trevannick.«
»Und ich freue mich, einen von Ruans Lehrern kennenzulernen«, antwortete Meggan. »Wohnen Sie in Ballarat, Mr Boniface?«
»Ich habe Mr Boniface über die Ferien zu uns eingeladen«, warf Ruan rasch ein und sah seine Mutter etwas unsicher an. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen. Die Zeit war zu knapp, um noch einen Brief zu schicken, und ich habe Mr Boniface gesagt, dass es kein Problem sein würde.«
Wie Ruan erwartet hatte, nahm seine Mutter die Neuigkeit liebenswürdig und gelassen auf. »Gäste sind uns auf Langsdale immer willkommen, Mr Boniface. Ich hoffe, es wird Ihnen bei uns gefallen.«
Sie folgten dem Gepäckträger, der die Koffer zum Ausgang brachte. Ruan ging neben seiner Mutter her, die unbedingt wissen wollte, wie es ihm in der Schule gefalle. Mr Boniface schritt vor ihnen und unterhielt sich mit Ruans Vater. Die Mädchen zockelten mit ein wenig Abstand hinterher.
»Die Schule ist ganz in Ordnung«, beantwortete Ruan die besorgte Frage seiner Mutter. »Macht es dir wirklich nichts aus, dass ich Mr Boniface zu uns eingeladen habe, Mama?«
»Natürlich macht es mir nichts aus. Ich muss allerdings zugeben, dass es mich ein wenig überrascht, dass du einen Lehrer eingeladen hast. Kann er sonst nirgends hin?«
»Er wohnt in der Schule. So lange ist er noch nicht in Australien.«
»Er muss ja dein Lieblingslehrer sein, wenn du ihn nach Hause einlädst.«
»Das ist er, Mama. Mr Boniface ist der beste Lehrer der ganzen Schule. Außerdem möchte er gern Darcy kennenlernen.«
»Ach ja? Aus irgendeinem besonderen Grund?« Meggan hielt inne und zog die Augenbrauen hoch, als suche sie im Gesicht ihres Sohnes nach einer Antwort.
»Ich hab Mr Boniface erzählt, dass Darcy viel klüger ist als ich und dass Miss Jane uns unterrichtet hat.«
»Ich … verstehe.« Ja, sie konnte sich zwar vorstellen, dass ein Lehrer Jane und Darcy interessant fand. Dennoch machte sie sich Gedanken darüber, warum er die beiden unbedingt kennenlernen wollte. Jane und Darcy nahmen nämlich einen ganz besonderen Platz in Meggans Herzen ein.
»Wo ist Darcy überhaupt?«, fragte Ruan. »Warum ist er nicht mit zum Bahnhof gekommen?«
»Darcy ist mit Nelson zur Westweide geritten, um dort nach der Herde zu sehen.«
Ruan wirkte bedrückt. »Dann ist er gar nicht auf der Farm?«
»Erst in ein bis zwei Tagen.«
»Er hat doch gewusst, dass ich nach Hause komme. Musste er denn Nelson unbedingt begleiten?«
»Darcy will dich nicht sehen«, posaunte Etty hinter ihm heraus.
»Was?!« Ruan drehte sich zu seiner Schwester um.
Meggan wandte sich ebenfalls um, um Etty scharf zurechtzuweisen. Doch die rührte das nicht.
»Aber es ist doch wahr, Mama. Ich hab dir ja erzählt, was Darcy gesagt hat.«
»Oh, Etty.« Nun war Louisa bestürzt. »Ich habe dir nur erzählt, was Darcy gesagt hat, weil du mich so sehr bedrängt hast. Du solltest es für dich behalten.«
Diesmal fiel Meggans Verweis etwas milder aus. »Hört auf Kinder, jetzt reicht’s. Die Männer sind uns schon ein ganzes Stück voraus. Beeilt euch, und ich will nichts mehr von diesem Unsinn hören.«
Während Etty eilig zu ihrer Mutter aufschloss, blieb Ruan zurück und flüsterte mit Louisa.
»Was hat Darcy zu dir gesagt, Louisa? Ich will das auch wissen.«
Nach einem nervösen Blick auf Meggans Rücken flüsterte Louisa: »Darcy hat die verrückte Idee, dass du dir jetzt, weil du aufs Internat durftest und er nicht, zu fein sein wirst, mit einem Aborigine befreundet zu sein.«
Ruan kommentierte das mit einem verächtlichen Schnauben. »Darcy ist ein Idiot. Ich habe mich nicht verändert.«
»Ich hab ihm auch gesagt, dass du immer noch der Gleiche sein wirst. Aber du weißt ja, dass Darcy nur zuhört, wenn er will.«
Als sie die Wagonette der Trevannicks erreichten, drückte Mr Boniface den Wunsch aus, neben seinem Gastgeber auf dem Kutschbock sitzen zu dürfen. Er wollte alles um sich herum sehen und war fasziniert von den Fördertürmen der tiefen Minen, die jetzt die Hauptquelle für Gold in Ballarat waren. Cons Erzählungen über die frühen Jahre des Städtchens fesselten ihn.
»Sind Sie auch Goldgräber gewesen, Mr Trevannick?«
»Nein, aber die Brüder meiner Frau haben ein paar Jahre erfolgreich nach Gold gesucht. Sie haben zur Zeit des Goldgräberaufstands damit aufgehört.«
»Ach ja, darüber habe ich gelesen. An einem Ort namens Eureka, glaube ich. Es fand ein Kampf mit dem Militär statt, bei dem Hunderte von Männern getötet wurden.«
»Die Zahlen sind stark übertrieben, Mr Boniface. Bei dem Aufstand wurden keine dreißig Männer getötet, allerdings gab es sehr viele Verwundete.« Er blickte kurz nach hinten und stellte fest, dass Meggan und die Mädchen aufmerksam Ruan zuhörten. Dann wandte er sich wieder dem Lehrer zu und fuhr mit leiserer Stimme fort: »Der älteste Bruder meiner Frau ist damals schwer verwundet worden, und sein bester Freund wurde getötet. Einige weitere Ereignisse, die zwar nichts mit dem Aufstand zu tun hatten, die aber während und nach der Schlacht stattfanden, machten das alles zu einer sehr tragischen Zeit für die Familie. Sie werden deshalb verstehen, dass wir zu Hause nicht über Eureka sprechen.«
»Ja, natürlich verstehe ich das, Mr Trevannick. Danke, dass Sie mich darauf hinweisen.«
»Wir bleiben heute Abend in der Stadt und fahren erst morgen nach Hause. Ich könnte Ihnen den Ort und die alten Goldgräberstätten zeigen, wenn Sie Interesse haben.«
»Sehr gerne. Vielen Dank, Sir.«
»Ist mir ein Vergnügen. Und während ich Sie in der Stadt herumführe, könnten Sie mir auch gleich erzählen, wie mein Sohn in der Schule zurechtkommt.«
»Sobald wir zu Hause sind, werde ich als Allererstes reiten gehen«, erklärte Ruan, als sie noch etwa dreißig Minuten von Langsdale entfernt waren. Sein Blick schweifte über die Weiden, auf denen das Gras von der Hitze des langen Sommers welk war, aber immer noch einiges an Viehfutter hergab. Weiter rechts sah er eine kleine Herde von Zuchtschafen. Er atmete tief die kräftige Landluft ein, den Geruch der Bäume, der Schafe und der Eukalypten. Als er einen seltsamen Stich nahe dem Herzen spürte, erkannte er, wie sehr er Langsdale vermisst hatte und wie sehr er sich freute, wieder zu Hause zu sein. Er stieß einen Seufzer aus. »Das Allerschlimmste an der Schule ist, dass man dort nicht reiten kann.«
»Das Allerschlimmste?«, fragte Etty. »Ist es denn da so schrecklich?«
»Manchmal schon. Aber manches ist auch gar nicht so schlecht. Ich habe einen guten Freund namens Jimmy Costner. Seine Familie wohnt in Gippsland. Ganz ehrlich, Etty, ich wünschte, ich brauchte nicht ins Internat zurück. Ich vermisse Langsdale so sehr.«
Etty drückte ihrem Bruder die Hand. »Wir alle haben dich auch vermisst. All die Sachen, die wir zusammen gemacht haben, wie Angeln und so, sind nicht mehr wie früher. Und Darcy hat sich auch verändert.«
»Wie meinst du das?«
»Er schmollt immer noch, weil er nicht mit dir zur Schule gehen durfte.«
Louisa, die bisher sehr wenig gesagt hatte, verteidigte Darcy. »Darcy schmollt nicht. Er ist wütend, weil er so gerne mehr lernen würde.«
»Ich hab ihm versprochen, dass er meine Bücher mit benutzen kann, wenn ich zu Hause bin.«
»Das ist aber nicht das Gleiche, wie zur Schule zu gehen, nicht wahr?«
»Vermutlich nicht.« Ruan machte wieder ein bedrücktes Gesicht. Nun, da sie fast zu Hause waren, betrachtete er Boneys Idee, einen Weg zu finden, wie man Darcy die Schulbildung zukommen lassen konnte, nach der er sich sehnte, nicht mehr so zuversichtlich. Er würde den Mädchen noch nichts davon erzählen. Seinem Vater sollte er besser auch noch nichts sagen. Vielleicht hätte er zunächst gründlicher über alles nachdenken sollen, bevor er seinen Lehrer so spontan einlud.
Jane und Nelson sahen sich schweigend an. Beide dachten das Gleiche. Mr Boniface saß ihnen gegenüber am Tisch, Darcy an der Stirnseite. Jedes Gesicht drückte ein anderes Gefühl aus. Mr Boniface schien ehrlich begeistert, Darcy aufgeregt und erwartungsvoll. Die Mienen von Jane und Nelson wirkten reserviert. Sie hatten sich alles, was der Lehrer zu sagen hatte, kommentarlos angehört. Nun hatte Mr Boniface aufgehört zu sprechen und wartete anscheinend auf eine Reaktion von ihnen.
»Warum genau sind sie so interessiert daran, meinem Sohn Unterricht zu erteilen, Mr Boniface?«
»Als Ruan mir erzählte, dass Sie die Kinder unterrichten, war meine Neugier geweckt. Ich habe nie die allgemeine Meinung akzeptiert, dass Angehörige dunkelhäutiger Rassen weniger intelligent seien als Weiße. Ich brauche nur Sie beide anzusehen«, er nickte nacheinander Jane und Nelson zu, »um zu erkennen, dass Sie nicht auf den Kopf gefallen sind.« Er hielt inne, um sich zu räuspern, während die ihm gegenüber Sitzenden einen ironischen Blick tauschten. »Äh, verzeihen Sie mir, wenn meine Worte herablassend klingen. Ich meine das überhaupt nicht so.«
Jane versuchte, den Lehrer mit einem vagen Lächeln zu beruhigen. »Wir nehmen keinen Anstoß daran, dass Sie die Wahrheit aussprechen, Mr Boniface. Ich bin als Tochter einer weißen Familie aufgewachsen und habe häufig die Borniertheit engstirniger Menschen erlebt. Ich glaube, ich kann für meinen Mann und für mich sprechen, wenn ich sage, dass es sehr erfreulich ist, jemanden außerhalb unserer Familie – und damit meine ich alle hier auf Langsdale – kennenzulernen, der uns nicht als eine Verirrung der menschlichen Gesellschaft sieht. Sie haben jedoch noch nicht erklärt, warum Sie so sehr daran interessiert sind, ausgerechnet meinem Sohn eine höhere Bildung zu vermitteln.«
Mr Boniface kratzte sich an der rechten Augenbraue, eine Geste, die Ruan vertraut gewesen wäre. »Ethnologie ist eine Art Hobby von mir. Ich hoffe, dass es mir gelingen wird, Studien an den Aborigines durchzuführen unter besonderer Berücksichtigung der Frage, inwieweit eine vollständige Integration in die weiße Gesellschaft möglich ist. Anschließend würde ich gerne einen wissenschaftlichen Aufsatz über meine Erkenntnisse schreiben.«
»Mit anderen Worten«, stellte Nelson mit einem leicht spöttischen Unterton fest, »Sie möchten unsere Familie als Fallbeispiel dafür benutzen, wie man Aborigines zu gebildeten Menschen erziehen kann.« Er warf einen kurzen Blick zu seiner Frau, die mit einem Hochziehen der Augenbrauen und einem leichten Schürzen der Lippen antwortete. Jeder der beiden wusste, was der andere dachte, so sehr stimmten sie in allem überein.
»Genau.« Boniface ließ sich so sehr von seiner Begeisterung mitreißen, dass er den Zynismus von Darcys Eltern gar nicht spürte. »Ich bin sicher, dass viele Ethnologen verblüfft über Ihre Familie sein werden. Deshalb würde ich Darcy gerne sozusagen unter meine Fittiche nehmen.«
Jane runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht, dass wir Ihnen bei Ihrem … Projekt behilflich sein können, Mr Boniface. Vielleicht ist Ihnen entgangen, dass Darcy kein vollblütiger Aborigine ist.«
Diese Feststellung brachte Mr Boniface offenbar so sehr aus dem Konzept, dass er nicht in der Lage war zu antworten. Mit tief gerunzelter Stirn betrachtete er die Familie am Tisch.
»Darcys Vater war ein Weißer«, erklärte Jane.
»Und meiner auch«, fügte Nelson hinzu.
»Ach ja, ich verstehe.« Boniface wünschte, er hätte sich bei seiner Gastgeberin gründlicher nach Darcy und seinen Eltern erkundigt. Er wusste nicht, wie er fortfahren sollte. Vielleicht hatte er diesen Leuten eine furchtbare Beleidigung zugefügt. War die Frau ebenfalls ein Mischling? Er war erleichtert, als die unausgesprochene Frage beantwortet wurde.
»Ich bin eine vollblütige Aborigine, Mr Boniface.«
»Mr Boniface«, sagte Nelson, »wir wollen Ihre Ideen und Vorschläge nicht sogleich verwerfen. Ich muss Ihr Angebot jedoch zunächst allein mit meiner Frau bereden.«
»Was gibt es da zu bereden?«, fragte Darcy aufmüpfig, wurde jedoch sofort durch einen strengen Blick seines Stiefvaters zum Schweigen gebracht. Dieser stand nun auf, um dem Lehrer anzudeuten, dass er das Gespräch als beendet betrachtete. Mr Boniface verabschiedete sich mit der Bitte an die Familie, sein Angebot sorgsam zu überdenken.
Darcy hielt sich so lange zurück, bis die Tür hinter ihrem Besucher geschlossen war. Als er mit seiner Mutter sprach, war er kaum in der Lage, den Zorn in seiner Stimme zu unterdrücken. »Warum hast du Mr Boniface nicht zugesagt? Du weißt doch, wie gern ich mehr lernen will.«
»Beruhige dich, Darcy. Dein Vater und ich wissen, dass du weiter lernen möchtest. Wir müssen nur ganz genau wissen, aus welchem Grund Mr Boniface unbedingt dein Tutor werden will.«
»Das hat er euch doch gesagt. Er weiß, dass Aborigines genauso intelligent sind wie Weiße.«
»Ganz genau so hat der Mann das aber nicht gesagt, Darcy.« Nelsons Spott war für seinen Stiefsohn unüberhörbar. »Dieser Lehrer will der Welt zeigen, dass wir trotz unserer Hautfarbe Intelligenz besitzen. Wir möchten aber nicht, dass du irgendwelchen Wissenschaftlern in England oder sonst wo auf der Welt als Kuriosität vorgeführt wirst.«
»Mich braucht niemand der Welt ›vorzuführen‹«, entgegnete Darcy wütend. »Lasst mich nur genügend lernen, dann beweise ich der Welt, wie klug ich bin.«
Nelson blieb ungerührt. »Das sind leidenschaftliche Worte, mein Sohn. Arrogante Worte. Aber sei doch vernünftig! Denk mal richtig nach! Was willst du mit der ganzen Schulbildung einmal anfangen, Darcy? Das Einzige, worauf du im Leben hoffen kannst, ist ein guter Job auf einem Anwesen wie Langsdale. In einer Stadt könnten wir niemals so angenehm leben. Wir wären Außenseiter. Sei stolz auf deine Herkunft, Darcy, aber erwarte nicht von der weißen Welt, dass sie dich als Gleichberechtigten akzeptiert.«
»Vielleicht bringe ich sie dazu, mich zu akzeptieren.« Voller Wut, die ihn in letzter Zeit immer rasch packte, stürmte er aus dem Zimmer, ohne auf die flehentlichen Worte seiner Mutter zu hören oder sich um den scharfen Tadel seines Stiefvaters zu kümmern.
Er lief über den Hof und pfiff nach seinem Pferd. Erwartungsvoll kam es ans Gatter. Er kletterte auf den Zaun, legte der Stute das Zaumzeug an, glitt auf ihren bloßen Rücken und lenkte sie zum Tor. Als er den Riegel öffnen wollte, ritt ihn plötzlich der Teufel. Er ließ die Stute auf die andere Seite der Koppel traben, streichelte ihren Hals und flüsterte ihr sanft zu. Wiehernd warf sie den Kopf zurück und richtete die Ohren nach vorn.
Dann drückte Darcy die Knie in ihre Flanken. »Los, Mädchen!«
Die Stute galoppierte schnurstracks auf das Tor zu, setzte in hohem Sprung darüber hinweg und landete sicher auf der anderen Seite. Dann galoppierten sie über das offene Weideland, und Darcy musste sein ganzes Können aufbieten, um sich auf ihrem Rücken zu halten. Sobald der wilde Ritt seinen Zorn abgekühlt hatte, ließ Darcy die Stute im Schritt weitergehen. Er glaubte, dass er besser reiten konnte als jeder Weiße, den er kannte.
Vielleicht mit Ausnahme seines Onkels Josh. Onkel Josh war ein guter Reiter gewesen. Während das Pferd in seinem eigenen Tempo dahintrottete, grübelte Darcy darüber nach, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, wenn sein Onkel nicht gestorben wäre. Höchstwahrscheinlich würden sie dann immer noch mit Oma und Opa Winton auf Riverview leben. Betrübt stellte er fest, dass er sich nur noch verschwommen an ihre Gesichter erinnern konnte, wie an das meiste aus der Zeit auf Riverview. Seine einzige wirklich klare Erinnerung war, wie er als kleines Kind vor seinem Onkel Josh im Sattel über die Ländereien geritten war.
Nelson und Con Trevannick sahen beide Darcy über das Tor springen.
»Dein Junge wird sich noch eines Tages den Hals brechen«, bemerkte Con, als er Nelson wenige Minuten später traf.
»Haben Sie das auch gesehen?«, grummelte Nelson. »Gegen so viel Leichtsinn muss man etwas tun. Wenn er nach Hause kommt, kriegt er eine ordentliche Tracht Prügel. Ich weiß ja, dass Sie nichts von körperlicher Züchtigung halten, Boss, aber alles andere scheint keinen Eindruck auf den Burschen zu machen.«
Con gab keinen Kommentar dazu ab. Nelson hatte das Recht, seinen Sohn zu bestrafen, wenn er es für angebracht hielt. Er wechselte das Thema. »Ich hab Boniface aus Ihrem Haus kommen sehen.«
»Ja, er war bei uns. Er möchte Darcy Fernunterricht erteilen. Er hat vorgeschlagen, ihm per Post Lektionen zu schicken. Darcy könnte dann die Aufgaben bearbeiten und zurückschicken. Jane und ich würden gerne wissen, was Sie von dieser Idee halten. Uns ist das angebliche Motiv dieses Mannes nicht ganz geheuer.«
Con Trevannick dachte einen Augenblick nach. »Beabsichtigt Mr Boniface, ein Honorar für diesen Unterricht zu verlangen?«
»Nein, Boss. Er will Darcy als Beispiel dafür benutzen, dass man auch Aborigines etwas beibringen kann.«
Der Zynismus entging Con nicht. »Ah, ich verstehe. Sie wollen also wissen, was ich vom Motiv des Mannes halte, Nelson?«
»Darcy will diesen Fernunterricht unbedingt. Wir hätten damit auch eigentlich kein Problem. Aber wir sind absolut dagegen, dass dieser Mann Darcy für seine eigenen Zwecke benutzt.«
»Boniface kommt mir nicht vor wie jemand, der andere zu seinem Vorteil übers Ohr haut. Was verspricht er sich denn davon, dass er Darcy unterrichtet?«
»Er hat erwähnt, dass er einen Aufsatz über die Intelligenz der dunkelhäutigen Rassen schreiben will. Er möchte beweisen, dass Intelligenz nichts mit Hautfarbe zu tun hat. Ich muss zugeben, dass mir diese Absicht vollkommen aufrichtig erscheint.«
»Wenn der Mann nichts weiter vorhat, als einen Aufsatz zu schreiben, dann bin ich der Meinung, dass Sie Darcy zuliebe sein Angebot annehmen sollten. Ich habe noch nie einen Jungen erlebt, der so begierig ist, seinen Kopf mit Wissen vollzustopfen. Ich rede mit Boniface. Und ich stimme vollkommen mit Ihnen überein, dass Darcy in keiner Weise ausgenutzt werden darf.«
»Danke, Boss.« Nelson fing plötzlich an zu lachen. Con sah ihn fragend an.
»Mir kam nur gerade der Gedanke, dass Sie nun vielleicht ein noch größeres Problem mit Ruan haben werden. Wenn er erfährt, dass Darcy Fernunterricht bekommt, wird er nicht mehr zurück ins Internat wollen.«
Con verzog das Gesicht. »Ich wünschte, Ruan hätte nur halb so viel Interesse am Lernen wie Darcy.«
Darcy war nicht der Einzige, der neidisch auf Ruan war. Als dieser seiner Schwester und Louisa seine Schulbücher zeigte, war Ettys Interesse zwar nur flüchtig, doch Louisa begann eifrig, die Lehrbücher für Mathematik zu studieren. Zahlen faszinierten sie. Miss Jane hatte ihnen addieren, subtrahieren und einfache Multiplikationen beigebracht. Das alles fand Louisa so einfach, dass sie sämtliche Aufgaben im Kopf ausrechnen konnte. Auch wenn sie niemals etwas sagen würde, was Miss Jane kränken könnte, war ihr klar, dass Mathematik sehr viel mehr beinhalten musste, als Miss Jane ihnen beibringen konnte.
In Ruans Büchern stieß sie auf Brüche, schriftliche Divisionen und Gleichungen. Völlig aus dem Häuschen war sie, als sie etwas entdeckte, was Algebra hieß und wobei Zahlen durch Buchstaben des Alphabets ersetzt wurden.
»Was hast du nur für ein Glück, Ruan.«
Dieser schnaubte verächtlich. »Was hat das denn mit Glück zu tun, wenn man Mathematik machen muss? Das ist doch absolut langweilig.«
»Für dich vielleicht, aber nicht für mich. Oh, das ist alles so aufregend. Du musst mir alles beibringen, was du gelernt hast, bevor du zurück ins Internat gehst.«
»Wozu willst du denn diesen ganzen Kram lernen?«, fragte Etty spöttisch. »Was soll das für einen Sinn für ein Mädchen haben? Wenn du groß bist, wirst du eh heiraten und Kinder kriegen. Da brauchst du bloß lesen, schreiben und ein bisschen rechnen zu können.«
»Wie kommst du auf die Idee, dass ich bloß heiraten und Kinder kriegen will? Vielleicht werde ich ja stattdessen Mathematiklehrerin.«
»Ach du meine Güte, Louisa, warum um alles in der Welt solltest ausgerechnet du Lehrerin werden wollen?«
»Warum willst du denn Sängerin werden?«, erwiderte die sonst sehr ausgeglichene Louisa ungewöhnlich scharf und stellte mit Genugtuung fest, dass Etty rote Flecken auf den Wangen bekam.
»Ich will nicht Sängerin werden, Louisa, ich bin bereits Sängerin. Während Ruan hinter den Schafen herrennt und du mit irgendwem verheiratet bist und Kinder großziehst, werde ich die ganze Welt bereisen. Ich werde eine noch berühmtere Sängerin werden als meine Mutter.«
Ihren Bruder beeindruckte das nicht. »Hör doch auf damit, Etty. Mit deinem aufgeblasenen Gerede kannst du einen manchmal furchtbar nerven.«
Etty stand übertrieben elegant auf und strich eine nicht vorhandene Falte in ihrem Rock glatt. »Und ich finde es nervig, euch beiden zuzuhören. Bestimmt gibt es irgendwas Interessantes, was ich tun kann. Amüsiert euch ruhig mit eurer langweiligen Mathematik. Ich möchte eh lieber mit Darcy zusammen sein.«
»Falls Darcy mit dir zusammen sein will. Er findet dich nämlich auch nervig.« Diese Bemerkung ihres Bruders versetzte Etty einen heftigen Stich.
»Das tut er nicht. Du bist gemein, Ruan Trevannick.« Mit diesen Worten stolzierte sie aus dem Zimmer. Zum Glück bekam sie nicht mit, wie sich ihr Bruder und Louisa angrinsten. Manchmal ließ sich Etty wirklich leicht hänseln. Doch sobald sie fort war, hatten die beiden sie auch schon vergessen.«
»Interessierst du dich wirklich für Mathematik?« In der Schule kannte Ruan nur eine Handvoll Jungen, die sich für dieses Fach begeisterten. Er konnte kaum glauben, dass Louisa, obwohl sie immer am schnellsten die von Miss Jane gestellten Rechenaufgaben gelöst hatte, tatsächlich diesen ganzen Kram lernen wollte, den er selbst absolut langweilig fand.
Louisa wurde nachdenklich. »Ich hab schon immer gerne Zahlen zusammengerechnet. Doch bis du mir deine Bücher gezeigt hast, habe ich nicht gewusst, dass man noch so viele andere Sachen mit Zahlen machen kann. Und das würde ich am liebsten alles lernen. Weißt du, was bei dieser Rechenaufgabe herauskommt?«
Ruan blickte auf die Aufgabe. 15 + 6–5 + 9 = …. »Um das auszurechnen, brauch ich Papier und Bleistift.«
»Fünfundzwanzig.«
Ruan löste die Aufgabe auf einem Blatt Papier und war verblüfft. »Du hast recht. Wie bist du darauf gekommen?«
»Ich hab das im Kopf ausgerechnet«, erklärte sie mit bescheidenem Stolz.
»Du meinst, du kriegst das allein durch Nachdenken raus?« Er schnaubte ungläubig. »Niemand kann solche Rechenaufgaben im Kopf lösen. Du hast das zufällig richtig geraten.«
»Nein, Ruan, das war kein Zufallstreffer. Ich zeige dir, wie ich auf die Lösung gekommen bin.« Sie nahm ihm Bleistift und Papier ab. »Sechs minus fünf gleich eins. Eins plus neun gleich zehn. Zehn plus fünfzehn gleich fünfundzwanzig.«
»Wie bist du darauf gekommen, das so zu machen? Das hat man uns in der Schule so nicht beigebracht.«
Louisa zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht. Ich hab’s einfach gemacht. Zeig mir eine andere.«
Ruan blätterte zwei Seiten in dem Lehrbuch um. »Die hier.« Er zeigte auf 20–6 + 11 + 3–9 = …
»Neunzehn.«
»Lass mich mal sehen.« Wieder löste Ruan die Aufgabe auf dem Papier, während Louisa ihm zusah. »Du hast schon wieder recht. Wie bist du denn hier auf die Lösung gekommen?«
»Sechs und neun werden beide abgezogen. Zusammen ergeben sie fünfzehn. Ich hab fünfzehn von zwanzig subtrahiert, das macht fünf. Fünf plus elf plus drei ist neunzehn.«
Ruan war beeindruckt. »Du bist gut. Wir müssen Boney unbedingt zeigen, was du kannst. Vielleicht schickt er dir dann auch Lektionen, so wie Darcy.«
Louisa bekam glühende Wangen. »Meinst du, das würde er tun?«
»Wir können ihn auf jeden Fall fragen.«
»Hoffentlich ist er einverstanden. Oh!« Louisa kam plötzlich ein Gedanke. Ihre Augen strahlten.
»Was ist los? Du wirkst ja ganz aufgeregt.«
»Ich hatte gerade eine wunderbare Idee, Ruan. Wenn Boney …« Sämtliche Kinder hatten Ruans Spitznamen für den Lehrer rasch übernommen. »… wenn er für mich und Darcy Lektionen schickt, könnte er ja vielleicht auch dir welche schicken. Dann brauchtest du nicht mehr zurück ins Internat.«
»Louisa, das ist eine fantastische Idee! Ich hab aber sogar eine noch bessere. Boney könnte hier auf Langsdale bleiben und unser Tutor werden.« Die beiden lächelten sich zuversichtlich an.
»Kommt überhaupt nicht infrage«, antwortete Con Trevannick, als Ruan später am Tag seinem Vater diesen Vorschlag unterbreitete. »Du gehst weiter zur Schule, ob dir das gefällt oder nicht. Du hast die Intelligenz und den Verstand dafür. Die Schule wird dir eine gute Grundlage fürs Leben mitgeben. Die Welt besteht nicht nur aus Langsdale.«
»Steh gerade, Junge!« Ruan hatte die Schultern hängen lassen, als ihm klar wurde, dass sein Vater unerbittlich sein würde. »Fang endlich an, wie ein Mann zu handeln und Verantwortung zu übernehmen. Und in diesem Abschnitt deines Lebens besteht diese Verantwortung darin, das Beste aus deiner Schulausbildung zu machen.«
Ruan stand nun ganz gerade da. »Ja, Sir.« Er kam sich beinah vor, als wäre er wieder in Crankys Büro, so hilflos fühlte er sich seinem Vater gegenüber. »Darf ich jetzt gehen, Sir?«
»Ich werde dich nicht daran hindern«, antwortete sein Vater mit einem leicht amüsierten Zucken um die Mundwinkel. »Nur noch eines. Ich hoffe, du hast Mr Boniface noch nichts von deiner schwachsinnigen Idee erzählt.«
»Nein, Pa.«
»In Ordnung. Dann ab mit dir. Versuch, dich mit irgendetwas Sinnvollem zu beschäftigen.«
Ruan lief zum Cottage der Benedicts, um mit Louisa zu reden. Sie spielte gerade mit ihren beiden jüngsten Brüdern Ball und hielt inne, als sie Ruan sah. »Was hat dein Vater gesagt?«, fragte sie ihn.
»Er hat mir erklärt, ich müsste weiter zur Schule, ob ich will oder nicht.« Er nahm ihr den Ball ab und warf ihn Billy zu, ohne darauf zu achten, ob der Junge ihn fing oder nicht. »Komm mit, Louisa, lass uns Darcy suchen gehen.«
»Nelson hat gesagt, Darcy sei ausgeritten. Ich glaube, er ist böse auf Darcy. Was macht Etty denn gerade?«
»Sie übt mit Mutter singen. Hast du Lust, mit zum Fluss zu gehen? Wir könnten mal wieder ein bisschen nach Gold schürfen.«
»Tut mir leid, Ruan. Ma hat mir aufgetragen, auf die Jungs aufzupassen. Sie wird mir das Fell versohlen, wenn ich mit den beiden auch nur in die Nähe des Flusses gehe.«
»Was soll ich denn jetzt machen?«
»Spiel doch ein bisschen Ball mit uns.«
»Ich mag keine Kinderspiele spielen.«
»Du könntest Boney fragen, ob er mir die Mathematiklektionen schickt. Bitte!«, fügte sie hinzu, als er das Gesicht verzog.
»Warum fragst du ihn nicht selbst?«
»Er ist dein Lehrer.«
»Na schön, ich frag ihn. Bis später, Louisa.«
Er traf Boney, als der gerade auf das Fuhrwerk der Farm klettern wollte, um neben Larry Benedict auf dem Kutschbock Platz zu nehmen. »Wohin fährst du, Onkel Larry?«
»Ich muss in Creswick Umzäunungsdraht abholen und nehme Mr Boniface mit, um ihm die Goldgräberstätten zu zeigen.«
»Kann ich mitkommen?«
»Klar, wenn deine Eltern damit einverstanden sind.«
»Die haben bestimmt nichts dagegen.« Er sah eins der Aborigine-Hausmädchen in der Nähe der Küche. »Hey, Ruby«, rief er. »Sag der Missus, dass ich mit Mr Benedict mitfahre.« Dann sprang er hinten auf den Wagen und setzte sich auf die Ladefläche, die Ellbogen auf eine Seitenwand gestützt. »Was halten Sie bisher von Langsdale, Mr Boniface?«
»Es ist alles äußerst interessant, Ruan. Ich genieße meinen Aufenthalt hier sehr.«
»Würden Sie gern in einer Gegend wie dieser leben, Mr Boniface? Ich meine draußen im Busch?«
»Ich habe mein Leben lang in Städten mit vielen Menschen gewohnt, Ruan, doch ich glaube, ich würde gerne im ›Busch‹ leben, wie ihr hier die Natur nennt. Ich habe schon viel über die endlosen Weiten Australiens gelesen. Doch hierherzukommen und diese unermessliche Weite aus erster Hand zu erleben ist unvergleichlich. Ich beginne allmählich zu verstehen, warum du dich in der Schule eingeengt fühlst, Ruan.«
Ruan machte ein zerknirschtes Gesicht. »Die Schule ist die meiste Zeit schon ganz in Ordnung, Sir. Allerdings würde ich lieber zu Hause bleiben. Wäre es nicht möglich, dass ich ebenfalls Fernunterricht bekomme?«
Mr Boniface musterte seinen Schüler forschend. »Möglich wäre das schon, wenn auch nicht unbedingt zweckmäßig, da du ja zur Schule gehen kannst. Auch wenn die Lektionen, die ich Darcy schicke, sein Wissen vermehren, wird er bei Weitem keine so umfassende Schulbildung erhalten wie du.«
In diesem Moment wurde Ruan klar, dass Boney ihn nicht bei seinem Versuch unterstützen würde, eine Möglichkeit zu finden, nicht zurück ins Internat zu müssen. Also beschloss er, Boney stattdessen von Louisas mathematischem Talent zu erzählen.
»Ist das das kleine blonde Mädchen in deinem Alter?«
Ruan nickte. »Louisa ist Onkel Larrys Tochter.«
»Unsere Älteste«, stellte Larry klar.
»Du sagst, sie kann Rechenaufgaben im Kopf lösen?«, vergewisserte sich Boniface bei Ruan.
»Ja, Sir. In Miss Janes Unterricht war Louisa immer die Beste im Rechnen. Sie hat mir erzählt, dass sie sich unheimlich gern mit Zahlen beschäftigt. Sie möchte sogar Algebra lernen.«
»Du meine Güte, das ist ja wirklich faszinierend. Da gibt es hier doch tatsächlich einen zwölfjährigen Aborigine-Jungen und ein zehnjähriges Mädchen, die beide klug sind und begierig, ihre geistigen Fähigkeiten zu nutzen. Das muss an der Luft in Langsdale liegen.«
Dieser plumpe Versuch, witzig zu sein, kam bei Ruan nicht an. »Miss Jane ist eine gute Lehrerin«, antwortete er ganz ernsthaft. »Sie hat uns immer ermutigt, selbst zu denken und nicht einfach auswendig zu lernen.«
»Miss Jane ist eine ganz ungewöhnliche Frau.«
In diesem Moment brachte Larry Benedict, der sich leicht amüsiert Ruans Loblied auf Louisas geistige Fähigkeiten angehört hatte, das Fuhrwerk mit einem deftigen Fluch zum Stehen. Boneys Augenbrauen verschwanden sofort schockiert unter seinem Haar. Ruan bemühte sich, keine Miene zu verziehen. Sein Vater sah es nicht gern, wenn seine Männer in irgendeiner Form fluchten, besonders wenn Kinder oder Frauen in der Nähe waren. Dennoch hatte sich Ruan, genau wie Darcy, bereits ein umfangreiches Repertoire an Schimpfwörtern angeeignet.
»Was ist los, Onkel Larry?«, fragte er.
»Sieh mal da drüben.« Larry deutete mit dem Kopf ein Stück nach rechts, während er die Leinen vorne am Wagen festband.
Ruan drehte sich um, um sehen zu können, was los war. »Oh-oh, das wird Pa gar nicht gefallen.«
»Ist das Schaf da drüben mit einem Speer getötet worden?«, fragte Boney ängstlich und fasziniert zugleich. Ruan musste schon wieder die Lippen zusammenbeißen, um nicht zu grinsen.
»Ja, schon das zweite diese Woche.« Larry sprang vom Kutschbock, und Ruan schwang sich behände über die Seitenwand des Wagens.
»Kommen Sie mit gucken, Mr Boniface?«, fragte er.
»Äh, nein, ich glaube, ich bleibe lieber hier.«
Das Schaf war noch nicht lange tot. Das Blut um die Wunde war noch hell und frisch. Schon allein die Tatsache, dass der Speer noch in dem toten Tier steckte, sagte dem Mann und dem Jungen, dass derjenige, der die Waffe geworfen hatte, noch in der Nähe war. Kein Aborigine-Jäger würde einen guten Speer zurücklassen.
Larry suchte die Büsche ab, in denen sich der Wilderer versteckt haben könnte. Ruan kniete sich auf den Boden, um nach Fußabdrücken zu suchen, fand jedoch keine.
»Er muss uns genau in dem Moment kommen gehört haben, als er den Speer geworfen hat, Onkel Larry. Der beobachtet uns bestimmt von irgendwo.«
»Und ob der uns beobachtet.« Larry stellte einen Fuß auf das Schaf und zog den Speer heraus. Er hätte ihn über dem Knie zerbrochen, wenn er sich nicht so wunderbar leicht und elastisch in seiner Hand angefühlt hätte. Ohne den Blick von dem dichten Buschwerk abzuwenden, forderte er Ruan auf, den Wagen zu holen.
»Der Kerl wird weder seinen Speer noch eine kostenlose Mahlzeit bekommen. Da das Schaf frisch getötet ist, werden wir es zum Metzger in Creswick bringen.«
Mr Boniface verzog das Gesicht, als Larry und Ruan mit ziemlicher Mühe das tote Tier auf den Wagen hievten. Er zog ein ordentlich gebügeltes Taschentuch hervor und hielt es sich über Nase und Mund, während er das erlegte Schaf mit einer Mischung aus Faszination und Ekel betrachtete.
»Das gehört halt zum Leben hier dazu«, erklärte ihm Larry, als er sich wieder auf den Kutschbock schwang und den Wagen in Bewegung setzte.
»Kommt es oft vor, dass ein Stück Vieh mit einem Speer getötet wird?«, fragte Boniface mit vorgehaltenem Taschentuch.
»Erst in den letzten paar Monaten. In dieser Gegend leben nicht mehr allzu viele Aborigines.«
»Wie kommt das?«
Larry zuckte mit den Schultern. »Als die Goldgräber in die Jagdgebiete der Stämme eindrangen, brachten sie auch die Krankheiten der Weißen mit. Wenn weiße Kinder Masern kriegen, werden sie meistens wieder gesund. Schwarze Kinder sterben daran. Das trifft auf die meisten von unseren Krankheiten zu. Aborigines haben nicht einmal Abwehrkräfte gegen eine ganz normale Erkältung. Solche Infektionen gab es nämlich nicht, bevor die Weißen kamen. Das sind jedoch nicht die einzigen Dinge, die sie umbringen. Viele Aborigines haben Geschmack am Alkohol gefunden. Sie werden rasch abhängig. Dann treiben sie sich am Rand der Siedlungen herum und versuchen, auf irgendeine Weise an einen Drink zu kommen. Leider dreht sich schon bald ihr ganzes Leben nur noch darum, sich Alkohol zu beschaffen. Und wenn sie in diesem Zustand sind, leben sie natürlich nicht mehr lange.«
»Ich habe irgendwo etwas darüber gelesen, wie sehr die eingeborene Bevölkerung durch die weißen Siedlungen dezimiert wird. Ist es denn möglich, dass bereits ganze Stämme ausgerottet wurden?«
»Das ist nicht nur möglich, sondern in manchen Gegenden schon mehr oder weniger Tatsache.«
»Als die Aborigines nicht mehr in ihren Gebieten jagen konnten, haben sie angefangen, mit ihren Speeren Schafe zu töten«, fügte Ruan hinzu, der ebenfalls zu Boneys Weiterbildung beitragen wollte.
»Aber Sie haben doch gesagt, Benedict, dass so etwas erst in jüngster Zeit vorgekommen ist?«
»Der Boss meint, dass hierfür eine kleine Gruppe verantwortlich sein könnte, die sich von ihrem Stamm abgesondert hat. Die werden wir eines Tages schon erwischen, hoffentlich ohne jemanden von ihnen erschießen zu müssen.«
Larrys letzte Worte machten Mr Boniface völlig fassungslos. »Jemanden erschießen? Aber wäre das nicht eine Straftat?« Er blickte nervös auf Larrys Pistole und auf das Gewehr, das im Wagen lag.
»Es besteht ein Unterschied zwischen einem kaltblütigen Mord und Notwehr, Boniface. Wenn es um die Frage ginge, ihr Leben oder unseres, ja, dann würde ich schießen.«
»Äh, ja, natürlich. Und Sie glauben, dass der Mann, der das Schaf getötet hat, immer noch in der Nähe ist?« Boniface blickte nervös zu den Büschen am Wegrand hinüber.
Larry grummelte. »Ja, das glaube ich. Wenn ich sicher gewesen wäre, dass es nur einer ist, hätte ich ihn verfolgt und mir von Ruan mit dem Gewehr Deckung geben lassen. Aber man kann leider nicht feststellen, wie viele sich da im Busch verstecken. Die Eingeborenen verstehen sich darauf, so mit der Landschaft zu verschmelzen, dass man sie nicht sieht.«
»Ja, das habe ich auch schon gehört.« In diesem Augenblick wurde Boney bewusst, was Larry zuvor gesagt hatte, und er gab einen erstickten Laut von sich. »Sie hätten Ruan erlaubt, das Gewehr zu benutzen, Benedict?«
»Ich kann schießen, Mr Boniface. Pa hat es uns allen beigebracht. Er glaubt, wer schießen kann, hat Respekt vor Waffen.«
»Interessante Idee.« Ruan hatte den Eindruck, dass sich Boneys Augenbrauen jetzt auf Dauer unter seine Haare verzogen hatten. »Du hast gesagt, ›uns allen‹. Lernen die Mädchen denn auch, Waffen zu gebrauchen?«
»Etty übt immer mit uns. Louisa nicht mehr. Nachdem sie gelernt hatte, wie man schießt und mit einem Gewehr umgeht, wollte sie nicht mehr mitmachen.«
Larry lachte in sich hinein. »Louisa kann viel besser schießen als ihre Mutter.« Nun fing er laut an zu lachen.
»Was ist denn daran so komisch, Onkel Larry?«
»Ich musste gerade an etwas denken, was vor langer Zeit passiert ist.«
»Erzähl es uns doch bitte.«
»Tut mir leid, Ruan. Das ist zu persönlich und außerdem eine zu kostbare Erinnerung, um sie mit anderen zu teilen.«
»Schießt du denn auf Wild?«, wollte Boniface von Ruan wissen. Offenbar machte ihm immer noch die Vorstellung zu schaffen, dass Kinder hier draußen Waffen in die Hand bekamen.
»Nein. Wir dürfen nur auf Zielscheiben ballern. Pa sagt, er lässt uns erst mit fünfzehn auf Kängurus schießen.«
»Auf Kängurus?«
»Kängurufleisch ist mal eine angenehme Abwechslung statt immer nur Lamm.«
»Du meine Güte. In was für eine fremde Welt bin ich hier nur geraten?« Seine Augenbrauen senkten sich endlich wieder auf ihre normale Höhe.
»Können Sie denn schießen, Mr Boniface?«
»Nein, Ruan, das kann ich nicht«, antwortete der Lehrer nachdrücklich. »Und ich habe auch nicht vor, jemals eine Feuerwaffe in die Hand zu nehmen.«
»Eine Kugel ist allemal schneller als ein Speer«, grummelte Larry vor sich hin.
Als Larry den Kopf wandte, um nachzusehen, wie weit das Gewehr von seiner Hand entfernt lag, wurde sowohl Ruan als auch seinem Lehrer klar, dass das keine beiläufige Bemerkung gewesen war.
Boniface’ Augenbrauen wanderten wieder nach oben. »Sind wir in Gefahr?«
Ruan ließ seinen Blick über die Büsche am Wegrand schweifen. »Kannst du sie sehen, Onkel Larry?«
»Wir werden von mindestens zwei verfolgt. Vermutlich wollen sie wissen, wo wir ihr Abendessen hinbringen. Auf dem Heimweg sollten wir wohl besser die Augen offen halten.«
»Glauben Sie, man könnte uns angreifen?« Mr Boniface schien die Begeisterung für diesen Ausflug ein wenig vergangen zu sein.
»Nein. Allerdings sollten wir kein Risiko eingehen.«
»Wäre es nicht ratsam, die Polizei zu informieren?«
»Ich werde das getötete Schaf melden. Aber ich werde auf keinen Fall die Polizei bitten, uns nach Hause zu eskortieren, falls Sie an so etwas gedacht haben. Der zuständige Sergeant ist ein ziemlich voreingenommener Mann. Er hasst die Aborigines fast so sehr wie die Chinesen.«
»Wegen Miss Jane, Nelson und Darcy lädt Pa den Sergeant nie nach Langsdale ein«, erklärte Ruan. »Der hat mal in der Stadt ein paar beleidigende Dinge zu Miss Jane gesagt. Darauf hat Nelson gedroht, ihm den Dez zu zerdeppern.«
»Den Dez zerdeppern?« Boniface blinzelte und zog gleichzeitig die Stirn in Falten. Seine Augenbrauen, die diesmal offenbar keine Antwort unter seinem Haar fanden, zogen sich über dem Nasenrücken zusammen, um sich zu beraten.
»Seinen Kopf mit Fäusten zu bearbeiten«, erklärte Ruan. »Pa musste Nelson zurückhalten.«
»Ich glaube, heute lernt mal der Lehrer was vom Schüler«, sagte Larry lachend. Ruan grinste breit. Und auch Mr Boniface lächelte gut gelaunt.
»Sieht ganz danach aus.«
Sie lieferten das Schaf beim Metzger ab, erstatteten bei einem jungen Polizisten Anzeige und unternahmen eine Tour durch die kleine Stadt und die angrenzenden Goldfelder. Die anschließende Rückfahrt nach Langsdale verlief ohne Zwischenfall.
Am nächsten Morgen brachte Ned Clancy eine Nachricht, die Con Trevannick zwang, den Schritt zu tun, den er seit Längerem hinausgezögert hatte. Vier von Langsdales besten Zuchtschafen waren getötet worden, drei davon lagen noch auf der Weide.
»Die Mistkerle haben nur ein Schaf mitgenommen, Boss. Warum zum Teufel mussten sie noch drei abschlachten, um sie dann einfach liegen zu lassen?« Ned war stinksauer.
Cons Gesicht wirkte grimmig. »Vielleicht war das die Rache dafür, dass Larry ihnen gestern ihre Beute weggenommen hat. Was mir am meisten Sorgen macht, Ned, ist allerdings, dass sie sich so nah an die Farm heranwagen. Ob sie gefährlicher für uns werden? Werden sie noch weiter gehen, als nur Schafe zu töten?«
»Das hab ich mich auch schon gefragt. Erinnern Sie sich noch an die beiden furchtbaren Massaker vor einiger Zeit in Central Queensland?«
Die Vorfälle, von denen Ned sprach, hatten das ganze Land schockiert. 1861, vor gerade mal drei Jahren, waren achtzehn Männer, Frauen und Kinder in Cullin-la-Ringo von Aborigines getötet worden. Vier Jahre zuvor waren elf Weiße auf der Hornet-Bank-Farm ermordet worden.
»Das Hornet-Bank-Massaker war ein Vergeltungsschlag für die Vergewaltigung und Misshandlung von Aborigine-Frauen durch mehrere Weiße. Dagegen soll Wills auf der Cullin-la-Ringo-Farm die Aborigines immer freundlich behandelt haben, das hat jedoch ihn und seine Familie nicht gerettet. Wir müssen diejenigen finden, die die Schafe getötet haben, und diesem Treiben irgendwie ein Ende setzen.«
»Wollen Sie heute noch nach ihnen suchen, Boss?«
»Ja, ich glaube, es wird Zeit, etwas zu unternehmen.«
»Meinen Sie, wir sollten die Polizei um Hilfe bitten?«
Con schüttelte den Kopf. »Ich bin immer noch der Meinung, dass es sich um eine kleine Gruppe handelt, nicht um einen ganzen Stamm. Wenn sie die Tiere, wie ich hoffe, nur getötet haben, weil sie was zu essen brauchten, dann werde ich versuchen, mit ihnen zu verhandeln.«
»Wollen Sie ihnen freien Proviant anbieten, wenn sie sich bereit erklären, keine Schafe mehr zu töten?«
»Genau das habe ich vor.«
Bereits eine Stunde später war der Suchtrupp, bestehend aus Con, Nelson, Ned und Darcy, unterwegs. Nelson ritt voran, sämtliche Sinne äußerst angespannt, bis er die Spuren fand, nach denen er gesucht hatte. Auf einen Wink von ihm stieg Darcy vom Pferd, um sich die Sache genauer anzusehen. Vorsichtig hockte er sich hin, um die schwachen Fußabdrücke nicht zu zerstören.
»Diese Spuren stammen von letzter Nacht. Zwei Männer und ein Junge. Einer der Männer hat etwas Schweres getragen, vermutlich das Schaf.«
Nelson nickte zustimmend. »Richtig, mein Sohn, so würde ich die Spuren auch lesen. Möchtest du jetzt die Führung übernehmen?«
»Klar.«
Ohne ein einziges Mal zu zögern, folgte Darcy eine Meile lang den Spuren, bis sie an ein mit Gestrüpp überwuchertes ausgetrocknetes Flussbett kamen. Dort hob er warnend die Hand. »Sie kampieren etwa eine Viertelmeile weiter im Flussbett.«
»Woher weißt du das?«, fragte Ned und war verblüfft, als er dafür ein Grinsen von Nelson erntete.
»Rauch«, antwortete Darcy.
»Wo?« Con blinzelte in die Richtung, in die Darcy gezeigt hatte.
»Der Junge hat sehr gute Augen«, sagte Nelson. »Er hat den Rauch sogar noch vor mir gesehen. Machen Sie sich keine Sorgen, Boss, Sie werden nicht blind.« Er lachte gutmütig. »Der Rauch zeichnet sich nur als ganz schwacher Schatten gegen den Himmel ab.«
Ned blickte angestrengt zu der Reihe niedriger Bäume am Flussbett. »Also, ich kann keinen Rauch erkennen. Aber ich zweifel natürlich nicht, dass da welcher ist. Boss, sollen wir … Was zum Teufel ist denn da los?«
Gewehrschüsse hatten plötzlich die Stille zerrissen. Die drei Männer und der Junge sahen sich besorgt an. Die Schüsse waren aus der Richtung gekommen, in der Darcy das Feuer ausfindig gemacht hatte. Con trieb sein Pferd an und mahnte die anderen zur Vorsicht.
»Die Aborigines da drüben haben keine Gewehre. Haltet also eure Waffen bereit.«
Sie ritten zügig und verlangsamten erst das Tempo, als sie sich der Baumreihe am Flussbett näherten. Beißender Pulverdampf lag in der Luft. Schurkisches Gelächter drang an ihre Ohren. Alle wussten, wem dieses unangenehme Lachen gehörte.
»Sergeant Dunstan«, flüsterte Nelson.
Con nickte mit finsterer Miene. Obwohl die Männer mit dem Schlimmsten rechneten, erfüllte sie das, was sie schließlich am Lager der Aborigines vorfanden, mit Wut und Entsetzen. Sieben dunkelhäutige Leichen lagen auf dem Boden. Ihr Blut hob sich leuchtend rot vom sandigen Flussbett ab. Außer den dreien, deren Spur Darcy gefolgt war, handelte es sich um zwei Frauen, eine junge und eine mittleren Alters, sowie einen etwa achtjährigen Jungen und einen Säugling – oder eher das, was von ihm übrig geblieben war, denn die furchtbaren Verletzungen an seinem Körper zeigten deutlich, dass er mehrere Male mit einem Gewehrkolben geschlagen worden war.
Sergeant Dunstan, ein übergewichtiger Mann mit geröteter Haut, dem die Bösartigkeit im Gesicht geschrieben stand, begrüßte sie mit einem selbstgefälligen Grinsen.
»Ich hab Ihnen die Arbeit abgenommen, Trevannick.« Er deutete auf die Gewehre, die seine Männer in den Händen hielten. »Diese schwarzen Dreckskerle werden keine Speere mehr auf Ihre Schafe werfen.«
»Sie mörderisches Schwein, Dunstan! Glauben Sie, dieses Baby oder dieser Junge hätte einen Speer werfen können?« Con stieg die Galle hoch, und er wurde von einem Zorn gepackt, wie er das nur selten erlebt hatte. Noch nie in seinem Leben hatte er einen Menschen erschossen und immer geglaubt, dass er zu einer solchen Tat gar nicht fähig wäre. Doch so wie in diesem Moment hatte er sich noch nie gefühlt. Am liebsten hätte er mit beiden Händen an diesen Mördern auf brutale Weise Gerechtigkeit geübt. Er kannte die drei Männer, die bei dem Sergeant waren. Weißer Abschaum, Männer, die sich einen Spaß daraus machten, Jagd auf Aborigines zu machen und sie wie Wild abzuknallen.
Den Sergeant ließ die Beschimpfung ungerührt. »Seit wann ist es Mord, das Gesetz zu schützen, Trevannick? Das Töten von Schafen ist ein schweres Verbrechen.« Damit stieg er lässig auf sein Pferd, und seine Spießgesellen taten es ihm gleich.
Die beiden Gruppen starrten sich an. Zwischen ihnen lagen die Leichen der ermordeten Familie, um die bereits die Fliegen schwirrten.
Auf der einen Seite Con, Nelson und Ned, schweigsam und wütend.
Auf der anderen Seite Dunstan und seine Spießgesellen, die alle drei etwas weniger großspurig wirkten als der Sergeant. Zweifellos fragten sie sich, ob ihr Verbrechen an höherer Stelle gemeldet würde. Sie fühlten sich offenkundig unbehaglich, auf frischer Tat ertappt worden zu sein.
Con atmete tief durch, um sich ein wenig zu beruhigen. »Damit kommen Sie nicht ungestraft davon, Sergeant.«
»Nein? Sie haben anscheinend vergessen, dass ich hier in der Gegend das Gesetz bin.«
»Ich werde diese Gräueltat an höherer Stelle melden.«
»Ach ja? Na, wenn Sie das ohnehin tun, sollten wir Sie vorher vielleicht gleich noch von diesen Schwarzen befreien, die bei Ihnen leben«, sagte der Sergeant höhnisch.
Nur durch seine jahrelange Selbstdisziplin gelang es Nelson, reglos im Sattel sitzen zu bleiben, selbst als er beobachtete, dass der Mann das Gewehr ein winziges Stück in die Höhe hob. Er hielt dem Blick des Sergeants stand, ohne durch ein Wimpernzucken zu verraten, was in ihm vorging.
»Du bist ja ein ganz Cooler, was Schwarzer? Wo ist denn dieses Balg von dir?«
»Hier bin ich!« Mit diesen Worten sprang Darcy aus dem Gebüsch, in dem er sich versteckt hatte, und warf gleichzeitig einen spitzen Stein, der das Pferd des Sergeants an der Flanke traf. Ängstlich wiehernd bäumte sich das Pferd auf. Bevor er wusste, wie ihm geschah, lag Dunstan mit dem Rücken auf dem Boden und bekam kaum Luft. Das hämische Gelächter seiner Kumpane machte seine Schmach und seinen Zorn nur noch schlimmer. Er richtete sich halb auf und drückte eine Hand auf seine schmerzende Brust.
»Was … gibt es … da zu lachen, ihr … Dreckskerle?«
»Du hast dich von einem schwarzen Jungen austricksen lassen. Jetzt musst du alleine klarkommen, Sergeant. Wir hängen hier nicht länger rum.« Damit wendeten die drei ihre Pferde und ritten rasch davon.
Nelson ritt etwas näher an Dunstan heran, der sich mittlerweile auf einen Ellbogen aufgestützt hatte und immer noch nach Luft schnappte. Darcy war nirgends mehr zu sehen. »Da hat dieses Balg es Ihnen aber gezeigt, Sergeant.«
»Dafür … wird er … büßen, au … Herrgott noch mal!« Mühsam kam er auf die Beine und stieg wieder in den Sattel, was ihm offenkundig Schmerzen bereitete. Zwischen keuchenden Atemzügen schwor er immer wieder Rache. Dann wendete er sein Pferd und sagte im Wegreiten: »Mit dem Aas da können Sie machen, was Sie wollen, Trevannick.«
»Wir müssen sie begraben«, erklärte Con, nachdem Dunston fortgeritten war, und runzelte nachdenklich die Stirn. »Dafür müssen wir aber erst zurück zur Farm, um Schaufeln zu holen.«
»Ich kann hierbleiben«, bot Nelson an, der wusste, welche Gedanken Con durch den Kopf gingen. »Dann kann ich die Aasfresser verscheuchen.« Er blickte zum Himmel, wo bereits Aaskrähen kreisten.
Während er Wache hielt, dachte er über die Worte des Sergeants nach, dass Darcy für die Demütigung, die er ihm zugefügt hatte, büßen müsse. Das war keine leere Drohung gewesen. Auch würde der Sergeant den Zwischenfall so schnell nicht vergessen. Die Geschichte würde sich rasch verbreiten und dabei immer weiter ausgeschmückt werden. Es gab nämlich eine Menge Leute, denen es großes Vergnügen bereiten würde, diese Geschichte weiterzuerzählen und sich auf Kosten des verhassten Sergeants lustig zu machen. Darcy hatte sich einen Feind fürs Leben geschaffen.
Zwei Tage später fuhren Mr Boniface und Ruan mit dem Zug zurück nach Melbourne – und zurück zur Schule.