7
Der zerklüftete Grund der Schlucht ließ sie nur mühsam vorankommen. Darcy ging vor und versuchte, den leichtesten Weg zu finden. Ohne zu klagen, mühte sich Etty, hinter ihm zu bleiben, kroch auf allen vieren über Felsbrocken und bog störende Zweige beiseite, die manchmal zurückschnellten und ihr das Gesicht zerkratzten. Wo immer er konnte, hielt Darcy die Zweige aus dem Weg, bis Etty vorbei war. Wenn es über hohe Hindernisse ging, zum Beispiel über einen umgestürzten Baum oder über große Felsbrocken, reichte er ihr die Hand, um sie hinaufzuziehen.
An manchen Stellen war die Vegetation so dicht, dass sie unter den Zweigen hindurchkriechen mussten, manchmal sogar auf dem Bauch. Immer wieder fragte Darcy Etty, ob sie noch könne. Schließlich bat sie ihn, damit aufzuhören.
»Ich sag dir schon, wenn ich nicht mehr kann.«
Sie wollte nicht reden, weil sie ihre ganze Willenskraft brauchte, um durchzuhalten. Das Verlangen, sich einfach auf die Erde zu legen und die Augen zu schließen, war überwältigend. Ihre Hände waren zerkratzt und blutig, und die Schrammen in ihrem Gesicht brannten von dem Schweiß, der darüber lief. Jeder Muskel in ihrem Körper tat ihr weh. Doch sie wusste, dass sie die Schmerzen ignorieren musste, wenn sie überleben wollte.
Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Waren Minuten vergangen? Oder Stunden? Etty hatte keine Ahnung. Als sie schon eine Ewigkeit durch die Schlucht zu kraxeln schienen, wurde ihr bewusst, dass sie das Feuer mittlerweile weit hinter sich gelassen hatten. Darcy hatte ihr gerade über einen gewaltigen Felsbrocken geholfen. Auf der anderen Seite befand sich ein kleiner, unglaublich klarer Wassertümpel, gesäumt von etwas Gras.
Sie knieten sich nebeneinander hin und tranken das kühle Wasser aus den Händen. »Wir ruhen uns hier aus«, sagte Darcy. »Wir sind jetzt in Sicherheit.«
Etty nickte und hoffte, dass sie die Kraft finden würde, nach ihrer Rast wieder aufzustehen und weiterzugehen. Sie legte sich ins Gras und merkte nicht mal, dass sie sofort eingeschlafen war, bis Darcy sie an der Schulter rüttelte. Als sie aufwachte, war sie völlig orientierungslos. Sie hatte von Adelaide geträumt und wusste einen Moment lang nicht, wo sie war. Doch noch bevor Darcy sprach, fiel ihr alles wieder ein.
»Wir müssen los, Etty. Die Sonne geht bald unter.«
Bevor sie sich auf den Weg machten, tranken sie noch einmal aus dem Tümpel. Nun kamen sie besser voran, weil die Schlucht allmählich breiter wurde, bis sie nur noch eine leicht abschüssige Senke war. Mittlerweile waren sie wieder von Wald umgeben. Darcy suchte stets den leichtesten Weg bergab zwischen den Bäumen und dem Unterholz hindurch. Im Westen hatte sich der Himmel leuchtend orange verfärbt. Durch den vielen Rauch in der Luft schien der Himmel eine kräftigere und sattere Farbe zu haben als normalerweise. Etty war jedoch zu müde, um die Pracht würdigen zu können, sondern betrachtete den Sonnenuntergang mit wachsender Nervosität. Je mehr die Farbe vom Himmel verschwand, desto unruhiger wurde sie. In ungefähr einer Stunde würde es völlig dunkel sein. Wie sollten sie dann ihren Weg durch den Busch finden?
Sie sagte nichts davon zu Darcy, weil sie spürte, dass er genauso beunruhigt war wie sie. Einmal glaubte sie, in der Ferne ein Licht zu sehen. Wenn das Licht aus Creswick kam, hatten sie noch einen weiten Weg vor sich. Und obwohl der Himmel über den Wipfeln der Bäume noch ein wenig hell war, wurde es zwischen den Bäumen rasch dunkler. Immer dunkler, bis Etty nur noch ungefähr einen Meter weit sehen konnte. Da griff sie nach Darcys Hand, weil sie Angst hatte, ihn im Dunkeln zu verlieren.
Dann hatten sie plötzlich den Wald hinter sich gelassen und standen auf einer Straße – einer richtigen Straße, nicht nur einem seit Langem nicht mehr genutztem Pfad. Und diese Straße musste nach Creswick führen. Die Lichter der Siedlung waren als schwaches Leuchten am Himmel zu sehen.
Darcy drückte Etty an sich. »Wir haben es geschafft, Etty. Auf dieser Straße werden wir gehen können, auch wenn uns nur die Sterne leuchten.«
»Was glaubst du, wie weit es noch ist?«
»Ungefähr zwei Meilen.« Er blickte zu der Feuerfront in der Ferne, die in der Dunkelheit der Nacht rot leuchtete. »Gott sei Dank ist das Feuer nicht in diese Richtung gekommen. Ein Brand von dieser Größe hätte Creswick völlig zerstört.«
Etty starrte ebenfalls zu der Feuerfront hinauf. »Ich hoffe, dass ich in meinem ganzen Leben nie wieder ein Buschfeuer sehe.«
»Das hoffe ich auch.«
Darcy hielt sie weiter an der Hand, um sie zu stützen, falls sie stolperte, doch Etty stellte fest, dass ihre Augen sich rasch an die Dunkelheit gewöhnten. Um sich von ihrer Müdigkeit abzulenken, begannen sie sich zu erzählen, was sie das ganze Jahr über gemacht hatten. Darcy berichtete Etty von seinem Traum, Jura zu studieren, und Etty erzählte, wie sehr sie sich danach sehnte, in den berühmtesten Opernhäusern der Welt zu singen.
Keiner erwähnte die Worte der Liebe, die ausgesprochen worden waren, als ihr Leben in Gefahr war. Sie waren beide erst sechzehn Jahre alt und hatten noch viele Pläne.
»Wer ist Alistair?«, fragte Darcy.
»Alistair?« Etty hatte ihn nicht erwähnt, als sie Darcy eben von Adelaide erzählte. Aus Gründen, die ihr selbst nicht klar waren, hatte sie mit Darcy nicht über ihren Klavierbegleiter reden wollen.
»Du hast gestern mit Louisa über ihn gesprochen.«
»Ach ja. Ich hab mich gefragt, woher du seinen Namen kennst. Alistair ist Pianist. Er spielt in meinen Gesangsstunden. Wenn ich einmal auftrete, wird er mein Begleiter sein.«
»Ist er jung?«
»Er ist zweiundzwanzig.«
Darcy grummelte irgendwas vor sich hin.
»Bist du etwa eifersüchtig?«, fragte Etty, die es insgeheim freute, dass er eifersüchtig sein könnte.
»Nein, bloß neugierig.« Er nahm wieder ihre Hand und drückte sie. »Du solltest besser keinen Mann angucken außer mich.«
Sie gingen weiter und schwangen dabei die Hände, an denen sie sich gefasst hatten. Etty begann das Lied zu singen, das ihre Mutter ihr beigebracht hatte und das ihren Eltern so viel bedeutete.
O fare you well, I must be gone
And leave you for a while;
But wherever I go, I will return,
If I go ten thousand miles, my dear,
If I go ten thousand miles.
Ten thousand miles it is so far
To leave me here alone,
Whilst I may lie, lament and cry,
And you will not hear my moan, my dear,
And you will not hear my moan.
The crow that is so black, my dear,
Shall change his colour white;
And if ever I prove false to thee,
The day shall turn to night, my dear,
The day shall turn to night.
O don’t you see that milk-white dove
A-sitting on yonder tree,
Lamenting for her own true love,
As I lament for thee, my dear,
As I lament for thee.
The river never will run dry,
Nor rocks melt with the sun;
And I’ll never prove false to the girl I love
Till all these things be done, my dear,
Till all these things be done.
Ruan wollte seinem Vater und Nelson helfen, nach Etty und Darcy zu suchen. Er könne ihnen zeigen, wo er die beiden zuletzt gesehen hatte. Doch davon wollte Con nichts wissen.
»Nelson wird ihre Spuren finden. Du reitest mit Ned, Larry und Louisa zurück. Ich möchte, dass du vor Einbruch der Nacht zu Hause bist. Deine Mutter, Agnes und Jane werden außer sich sein vor Sorge.«
Nicht dass die sichere Heimkehr von nur zwei Kindern etwas anderes auslösen würde als noch mehr Sorge, dachte Con und seufzte tief.
»Ich hoffe bei Gott, dass wir sie rasch finden.«
»Und lebend«, fügte Nelson hinzu.
Tief über den Hals seines Pferds gebeugt, suchte Nelson den Boden ab. Mühelos fand er die Spuren, die Ruan und Louisa auf ihrer Flucht vor dem Feuer hinterlassen hatten, und ritt voran den Berg hinauf. Con schaute sich angestrengt nach allen Seiten um, in der Hoffnung, irgendein Zeichen von Etty und Darcy zu entdecken. Immer wieder stieß er den Buschmannruf aus, erhielt aber keine Antwort.
Am Rande des vom Feuer verheerten Geländes hielten sie an. Baumstämme und Stümpfe schwelten vor sich hin. An manchen Bäumen züngelten noch rote Flammen, die das Innere der rauchgeschwärzten Stämme verzehrten. An den vielen dünnen Rauchfahnen und dem Flimmern der Luft war zu erkennen, welche Hitze der Boden ausstrahlte. »Da können wir mit den Pferden nicht rüber«, sagte Con und klang verzweifelt.
»Nein, Boss. Vor morgen früh wird der Boden nicht genügend abgekühlt sein, um darüber zu reiten.« Nelson blickte nach Westen. »Wir haben noch ein paar Stunden Tageslicht. Wir sollten den Rand des verbrannten Gebiets abreiten. Vielleicht stoßen wir auf ihre Spuren – falls sie durchgekommen sind.«
Falls sie durchgekommen sind. Beiden Vätern gingen die gleichen Ängste und Hoffnungen im Kopf herum.
»In welcher Richtung, Nelson? Nach rechts oder nach links?«
Nelson betrachtete sorgfältig die verkohlten Reste, die das Feuer hinterlassen hatte. »Das Feuer kam aus dieser Richtung.« Er zeigte nach rechts. »Wenn Darcy und Etty versucht haben, vor ihm zu fliehen, müssen wir nach links.«
»Das ist ein schönes Lied«, sagte Darcy, als der letzte Ton in der Nachtluft verklungen war. »Singst du es noch einmal?«
»Ich bringe dir den Text bei, dann können wir es gemeinsam singen.«
Er lachte laut. »Ich und singen?«
»Hast du schon mal versucht zu singen? Ich weiß, dass du eine Melodie pfeifen kannst. Ich bringe dir den Text Strophe für Strophe bei, und dann singen wir sie zusammen. Jetzt sprich mir nach: O fare you well – I must be gone – and leave you for a while.«
Darcy sprach Etty brav die Worte nach, bis sie die erste Strophe aufgesagt hatte. Dann ließ sie ihn die ganze Strophe wiederholen. Er gab sie ohne Zögern wieder.
»Jetzt die zweite Strophe?«, schlug er vor.
»Du solltest erst mal versuchen, die erste zu singen.«
»Ich versuche das mit dem Singen, wenn ich das ganze Lied kenne.«
»Na schön, wenn du mir versprichst, dass du es auch wirklich versuchst.«
Darcy lachte vor sich hin. »Ich verspreche, dass ich es versuche. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass es sich gut anhört.«
Sie waren so sehr mit dem Lied beschäftigt, während sie weitergingen, dass sie nicht mehr daran dachten, wie weit es noch war. Doch trotz aller Mühe und allem guten Zureden von Etty stellte sich heraus, dass Darcy keine Singstimme hatte.
»Ich verstehe wirklich nicht, wieso du nicht singen kannst, wo du doch pfeifen kannst.«
»Warum soll ich überhaupt singen, wenn ich deiner schönen Stimme zuhören kann? Du singst, und ich pfeife die Begleitung.«
Das taten sie dann auch und hatten dabei so viel Spaß, dass die Schrecken des Feuers immer mehr in den Hintergrund traten und sie beinah das Gefühl hatten, einen ganz normalen Abendspaziergang zu machen.
Con und Nelson ritten langsam am Rande des verbrannten Gebietes entlang. In der Ferne loderte das Feuer immer noch. Wie lange es noch weiterwüten würde, bevor es endlich erlosch, darüber konnte man nur Vermutungen anstellen. Zweimal griff Con zu seinem Gewehr, um ein schwer verletztes Wallaby von seinen Qualen zu erlösen. Sie sahen auch bereits tote Tiere mit entsetzlichen Verbrennungen. Keiner der Männer sprach. Beide hofften, dass sie nicht die Leichen ihrer Kinder in einem ähnlichen Zustand finden würden.
Am Himmel kreisten Krähen, Habichte und andere Aasfresser. Die Vögel hatten sich bereits an den Wolken von Insekten gütlich getan, die sich auf ihrer Flucht vor den Flammen in die trügerische Sicherheit der Höhe gerettet hatten. An den Kadavern der Buschfeueropfer würden die Vögel noch tagelang reichlich zu fressen haben.
Plötzlich sah Nelson, dem die Augen von der angestrengten Suche bereits wehtaten, in einiger Entfernung zwischen den Bäumen ein Pferd. Abrupt zog er die Zügel an. Con hielt direkt neben ihm. »Was ist los, Nelson?«
»Da drüben steht ein Pferd. Das könnte Darcys Goonda sein.«
Con blickte zu dem Pferd hinüber und sah sich dann in der ganzen Umgebung um. »Wenn Goonda hier ist und unverletzt, dann sollten Darcy und Etty auch in der Nähe sein.«
Aber waren sie ebenfalls unverletzt? Sein Herz hämmerte vor Angst bei dem Gedanken, was für ein Schicksal den jungen Leuten widerfahren sein könnte. Er stieß ein lautes »Kuu-iii!« aus und lauschte angestrengt auf Antwort, mochte sie auch noch so leise sein.
»Die Kinder sind vielleicht gar nicht hier in der Nähe. Wenn Darcy seine Stute hat laufen lassen, könnte sie meilenweit galoppiert sein.« Nelson schwang sich aus dem Sattel und reichte Con seine Zügel. »Ich geh sie holen. Wir nehmen sie mit.«
Während Con nun Darcys Stute am Zügel führte, beugte sich Nelson wieder tief über den Hals seines Pferds, um Spuren auf dem Boden erkennen zu können. So ritten sie weiter, bis sie zu der Schlucht kamen. Sie sahen, dass das Feuer über die Schlucht gesprungen war, weil der Boden auf der anderen Seite ebenfalls verbrannt war. Die Schlucht selbst schien bis auf einige angeschwärzte Baumwipfel verschont geblieben zu sein. Zum ersten Mal, seit sie auf Ruan und Louisa gestoßen waren, verspürten die Männer eine gewisse Hoffnung – die bestätigt wurde, nachdem Nelson in die Schlucht hinuntergeklettert war.
»Ich habe ihre Spur«, rief er zuversichtlich. »Die beiden haben sich hier vor dem Feuer in Sicherheit gebracht.«
Von Freude überwältigt, spürte Con einen heftigen Schmerz in der Brust. Nachdem Nelson die Böschung der Schlucht wieder hinaufgeklettert war, riefen beide in die Dämmerung und warteten bang auf eine Antwort, die nicht kam.
»Hoffen wir, dass keine Antwort heißt, dass sie fast unten sind.« Nelson stieg wieder in den Sattel. »Wir reiten so nah wie möglich an der Schlucht entlang. Ich steige alle paar hundert Meter hinunter und sehe nach ihren Spuren, nur für den Fall, dass sie die Schlucht auf der anderen Seite verlassen haben.«
Das taten die beiden, und Con rief immer wieder kuu-iii. Schließlich kamen sie zu dem Tümpel, an dem Darcy und Etty getrunken hatten. Die Sonne war längst untergegangen, und um sie herum würde bald finstere Nacht sein. Doch keiner der beiden wollte die Suche aufgeben. Nelson versuchte, anhand der Spuren herauszufinden, welche Richtung Darcy und Etty von hier aus eingeschlagen hatten.
»Die Kinder sind weitergegangen und in Sicherheit, Boss. Sieht nämlich ganz so aus, als hätten sie sich entschlossen, der Schlucht bergab zu folgen. Ich würde vorschlagen, dass wir auf dem Weg zurückreiten, den wir gekommen sind. Da haben wir mehr offenes Gelände. Schade, dass heute Abend kein Mond scheint, doch die Sterne werden uns genügend Licht geben.«
Da Con wie wohl jeder Vater in einer solchen Situation furchtbare Angst um sein Kind hatte, wollte er sich nur ungern von der Schlucht entfernen. »Besteht nicht doch die Möglichkeit, dass wir hier weiterreiten, Nelson? Vielleicht begegnen wir den beiden ja bald.«
»Ich weiß, wie Sie sich fühlen, Boss. Ich würde auch gern auf diesem Weg bleiben, doch wir müssen einen klaren Kopf bewahren. Da wir keine Antwort auf unsere Rufe bekommen haben, sind sie wahrscheinlich außer Hörweite. Der Busch da vor uns sieht ziemlich dicht aus. Wir könnten uns im Dunkeln darin verirren.«
Con wusste, dass Nelson mit dem, was er sagte, recht hatte. Also unterdrückte er das Verlangen, dort zu bleiben, wo er seine Tochter vermutete. »Okay, Nelson.«
Es war nicht einfach, im Dunkeln den Weg zurück zu finden, den sie gekommen waren. Schließlich erkannten sie die Stelle wieder, an der sie den Rand des verbrannten Gebiets erreicht hatten, und lenkten die Pferde bergabwärts. Jedoch waren sie sich keineswegs sicher, dass sie tatsächlich dem Weg folgten, den sie heraufgekommen waren. Fast am Fuße der Berge stellten sie dann überrascht fest, dass sie sich plötzlich auf einer Straße befanden.
»Sieht so aus, als wären wir auf einem anderen Weg heruntergekommen«, bemerkte Nelson.
Con versuchte, im Dunkeln irgendetwas von der Landschaft zu erkennen. »Ich glaube, ich bin schon mal auf dieser Straße gewesen. Wenn ich mich nicht irre, sind wir nicht allzu weit von Creswick entfernt.« Er wollte noch mehr sagen, als er plötzlich etwas wahrnahm, was er kaum glauben konnte. »Nelson, hören Sie das? Das ist doch Etty, die da singt.«
Nelson war so verblüfft, dass er anfing zu lachen. »Ja, ich höre sie und auch Darcy. Der pfeift nämlich zu ihrem Lied die Begleitung. Sie sind ein Stück vor uns, und es hört sich so an, als hätten sie keine Sorge auf der Welt. Und wir waren ganz von Sinnen vor Angst um die beiden.«
»Gott sei Dank, dass sie am Leben sind und offenbar unverletzt.«
Con legte eine Hand an den Mund, um erneut den Buschmannruf auszustoßen. Doch Nelson hielt ihn davon ab. »Kommen Sie. Wir reiten hinter ihnen her und überraschen sie.«
Die jungen Leute waren in so euphorischer Stimmung, dass sie dem Tod ein Schnippchen geschlagen hatten, dass Etty die fröhlichsten Lieder sang, die sie kannte. Bei einigen davon musste Darcy ganz einfach mit einstimmen, auch wenn er falsch sang. Sie schmetterten gerade aus vollem Hals Botany Bay, hatten sich an den Händen gefasst, schwangen heftig die Arme hin und her und schritten dabei munter voran, als Darcy hörte, dass sich hinter ihnen Reiter näherten. Er wusste sofort, wer diese Reiter waren.
Er ließ Ettys Hand los und drehte sich um. »Ihr habt sicher nach uns gesucht«, sagte er.
»Papa«, schrie Etty, so laut sie konnte, und während sie ihrem Vater in die Arme sank, durchlebte sie in Gedanken noch einmal die Schrecken des Feuers. »Ich hatte ja solche Angst, Papa. Ich habe geglaubt, wir müssten sterben.«
»Ihr habt euch aber gerade ganz fröhlich angehört.« Er brachte es nicht fertig, seinem geliebten Kind zu sagen, wie sehr er befürchtet hatte, nur noch seine verkohlte Leiche zu finden.
Darcy und sein Stiefvater begrüßten sich mit einem kräftigen Händedruck und sahen sich dabei fest in die Augen. Damit wusste jeder, was der andere empfand. Beide waren sie nicht der Typ dafür, ihre Gefühle mit Worten auszudrücken.
Ohne die Geborgenheit seiner Arme zu verlassen, blickte Etty ihren Vater an und fragte: »Was ist mit Ruan und Louisa?«
»Sie sind unverletzt und mit Ned und Larry auf dem Heimweg. Und nun müssen wir euch beide so schnell wie möglich ebenfalls nach Langsdale schaffen. Eure Mütter machen sich bestimmt noch größere Sorgen um euch, sobald die anderen da sind.«
Etty stieg zu ihrem Vater vorne aufs Pferd, während Darcy sich auf Goonda schwang. Und so ritten die vier nach Creswick. Dort gingen sie sofort zur Polizeistation, um zu melden, dass sie unverletzt zurückgekommen seien. Sie waren erleichtert, nur einen jungen Constable anzutreffen, der gerade Dienst hatte. Auf dem Weg durch die Siedlung wurden sie von Segenswünschen begleitet und vom Jubel und Dankgebeten dafür, dass zwei junge Leben gerettet worden waren.
»Haben denn sämtliche Einwohner auf unsere Rückkehr gewartet?«, fragte Darcy. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn sie unbemerkt über die Hauptstraße hätten reiten können. Nach der ersten Erleichterung über die glückliche Rückkehr überkamen ihn nun starke Schuldgefühle. Schließlich war er der Anführer dieses Ausflugs gewesen.
Während der drei Meilen zurück nach Langsdale wurde kaum gesprochen. Etty, die völlig erschöpft war, lehnte sich dösend gegen ihren Vater. In der Dunkelheit mussten sich die drei Reiter mit allen Sinnen auf die Straße konzentrieren. Es kam ihnen so vor, als verginge eine halbe Ewigkeit, bis sie endlich die flackernden Lichter von Langsdale sahen. Schließlich ritten sie auf den Hof.
»Wir sind zu Hause, mein Liebling«, sagte Con.
Etty öffnete die Augen und brach sofort in Tränen aus. Ihre Mutter, ihr Bruder, Louisa, Jane, Agnes und Larry, sie alle warteten auf der Veranda. Als ihr Vater sie vom Pferd hob, taten ihr die steifen Muskeln in ihren Beinen so weh, dass sie aufschrie und hingefallen wäre, wenn ihr Vater sie nicht gestützt hätte. Sofort hob er sie hoch, erlaubte ihrer Mutter, sie kurz zu streicheln und ihr Gesicht zu küssen, und trug sie ins Haus. Etty sah nur noch, wie Darcy von Jane umarmt wurde.
Ned kümmerte sich um die Pferde. »Bin ja wirklich froh, dass ihr alle wieder zu Hause seid. Ihr habt sicher viel zu erzählen.«
Alle wollten die Geschichte hören und drängten sich hinter den Trevannicks ins Wohnzimmer. Ruan setzte sich neben seine Schwester und legte den Arm um ihre Schultern. Meggan saß auf der anderen Seite neben Etty, hielt ihre Hände und betrachtete besorgt das ascheverschmierte Gesicht ihrer Tochter. »Ist wirklich alles in Ordnung, Schatz? Du siehst aus, als wärst du tatsächlich im Feuer gewesen.«
»Das waren wir auch fast, Mama. Darcy hat uns beide gerettet.«
Darcy schüttelte den Kopf. »Wir haben Glück gehabt, Etty. Mehr nicht.«
Etty widersprach ihm mit feuchten Augen. »Das war nicht nur Glück, Darcy. Du wusstest genau, was zu tun war. Ohne dich hätte ich keine Ahnung gehabt, wie ich mich vor dem Feuer in Sicherheit hätte bringen können.«
»Ihr seht beide aus, als wärt ihr durch die Hölle gegangen«, stellte Meggan fest. »Gott sei gedankt, dass euch nichts passiert ist. Alle hier haben für eure sichere Rückkehr gebetet.«
In diesem Augenblick kam Mrs Clancy mit einem mit Essen voll beladenen Tablett ins Zimmer. Die beiden Aborigine-Hausmädchen folgten ihr. Eine mit einer riesigen Teekanne, die andere mit einem Tablett mit Tassen.
Erst beim Anblick des Essens merkte Etty, wie hungrig sie war. »Sie sind ein Engel, Mrs Clancy.«
»Hab mir gedacht, ihr könntet beide ein bisschen Hunger haben. Und nach dem langen Warten und all der Aufregung tut eine schöne Tasse Tee sicher allen gut.«
Etty und Darcy stürzten sich auf das Essen, während Con und Nelson ihnen ein wenig dabei halfen, alles zu verputzen. Ruan und Louisa hatten bereits gegessen und gebadet. Nach dem Essen wollte Etty noch nicht gleich baden. Zuerst wollte sie zusammen mit Darcy von ihren Abenteuern erzählen.
»Wenn ich erst mal sauber bin, will ich nur noch schlafen. Ich bin ja so müde.«
»Das geht mir genauso«, sagte Darcy. »Wir werden euch jetzt sofort alles erzählen.« Er sah Con an. »Wo soll ich anfangen?«
»Da, wo Etty vom Pferd gefallen ist.«
Etty überließ Darcy nur zu gerne das Reden. Er erzählte alles, ohne ein einziges Mal von seinen Zuhörern unterbrochen zu werden. Er berichtete, wie sie zu der Schlucht gekommen waren, wie sie in die kleine Felsenhöhle gekrochen waren und sich mit der nassen Wolldecke zugedeckt hatten, wie sie dem Verlauf der Schlucht bergab gefolgt und dann zu ihrer großen Freude auf die Straße gestoßen waren. Die Reaktionen der Zuhörer auf die Geschichte, die sie da hörten, waren nur an einem gelegentlichen Hochziehen der Augenbrauen oder Schürzen der Lippen abzulesen. Meggan war so aufgewühlt, dass sie die Hand ihrer Tochter noch stärker umklammerte.
»Gott segne dich, Darcy. Weil du so klar gedacht und so überlegt gehandelt hast, hast du euch beiden das Leben gerettet.«
Darcy verzog das Gesicht. »Ich weiß nicht, ob ich überhaupt etwas gedacht habe, Tante Meggan, außer natürlich, dass ich nicht wollte, dass wir in das Feuer geraten. Die Schlucht haben wir nur durch Zufall gefunden.«
»Oder durch die Hand der Vorsehung«, gab Con zu bedenken. »Doch ich stimme mit Ettys Mutter überein. Es spricht schon für klares Denken, dass du die Decke geschnappt hast, bevor du in die Schlucht hinuntergestiegen bist, und dass du sie dann nass gemacht hast, um euch vor der Hitze zu schützen.«
Darcy zog die Mundwinkel herunter. »Ich habe nicht das Gefühl, dass ich was Besonderes getan habe. Schließlich war es meine Schuld, dass wir überhaupt in diese Situation geraten sind.«
Seine drei Freunde protestierten lautstark, wie er denn auf so eine Idee komme.
»Wieso soll das deine Schuld gewesen sein?«, fragte Etty.
»Wir waren doch alle zusammen«, meinte Ruan.
»Du hast das Feuer schließlich nicht gelegt«, sagte Louisa.
Nelson legte eine Hand fest auf Darcys Schulter. »Die drei haben recht, mein Sohn. Das Feuer war halt plötzlich da. Wie es entstanden ist, kann man nur vermuten.«
»Der Vorschlag, in die Berge zu reiten, kam von mir.«
»Und wir waren alle einverstanden«, erinnerte ihn Ruan. »Mach dir keine Vorwürfe, Kumpel. Ende gut, alles gut, wie man so sagt.«
Con versuchte, das Gespräch von Darcys Schuldgefühlen abzulenken. »Kannst du dir vorstellen«, sagte er zu Meggan, »dass die beiden die Straße entlanghüpften und Botany Bay sangen, als wir sie gefunden haben.«
Etty lächelte ihre Eltern verlegen an. »Ich habe gedacht, Singen würde mich von meiner Müdigkeit ablenken und dafür sorgen, dass die Zeit schneller vergeht.«
»Ich kann das gut verstehen, Liebes. Das Singen hat dich bestimmt auch ein wenig aufgeheitert. Jetzt aber ab ins Bad und dann ins Bett. Morgen reden wir weiter.«
Nachdem sich alle eine gute Nacht gewünscht hatten, ging Darcy mit seinen und Louisa mit ihren Eltern nach Hause. Ruan, der plötzlich todmüde war, ging ebenfalls ins Bett.
Nachdem Etty gebadet hatte, kam ihre Mutter, um ihr einen Gutenachtkuss zu geben. »Schlaf gut, Schatz.«
»Das werde ich. Mama …«
»Ja?«
»Wir haben nicht nur Botany Bay gesungen. Als Erstes habe ich The True Lover’s Farewell gesungen. Für Darcy, verstehst du?«
Meggan lächelte versonnen. Die Vorstellung, dass ihre geliebte und leidenschaftliche Tochter ganz bestimmt Liebesleid erfahren würde, tat ihr im Herzen weh.
»Ja, das tue ich. Ich habe dir doch erzählt, wie viel dieses Lied deinem Vater und mir bedeutet.«
»Hast du es für Papa gesungen, um ihm zu sagen, dass du ihn immer lieben wirst?«
Meggan lächelte. »Was glaubst du denn? Hast du es deshalb für Darcy gesungen?«
»Er sollte wissen, dass ich ihn immer lieben werde, egal wohin das Leben uns führt.«
»Ihr seid doch beide erst sechzehn, Schatz.«
»Papa hat mir mal erzählt, er habe sich in dich verliebt, als du erst zwölf warst.«
Bei der Erinnerung daran umspielte ein zärtliches Lächeln die Lippen ihrer Mutter.
»Das hat er schon häufiger behauptet. Schlaf jetzt, Schatz. Ich glaube, es wird immer eine besondere Beziehung zwischen dir und Darcy bestehen. Träum von ihm, wenn du möchtest.« Sie küsste Etty auf die Wange. »Gute Nacht, Liebling.«
»Gute Nacht, Mama.«
Meggan schloss leise die Tür. Dann blieb sie einen Augenblick in Gedanken versunken stehen, die Hand immer noch am Türknauf. Die starke Bindung zwischen Darcy und Etty war entstanden, als beide noch sehr klein waren. Dass sich aus dieser Freundschaft Liebe entwickeln würde, war für Meggan keine Überraschung. Doch die beiden waren noch jung – zu jung. Und selbst wenn sie das nicht wären, müsste Etty bereit sein, alles aufzugeben, um Darcy zu heiraten. Die Gesellschaft würde eine weiße Frau meiden, die einen Mischling zum Ehemann hatte.