8

Zu dem kalten Schauer, der über Dietrichs Rücken lief, gesellten sich Schweißtropfen auf seiner Stirn, als Bengt mit der Antwort zögerte.

»Bengt, ich sitz hier auf glühenden Kohlen! Kassandra, Paul und Heinz Jung werden vermisst, und sie machen keine Vergnügungsreise! Was hat Arnold Kesting gesagt?«

»Gesagt hat er, dass er uns warnen will. Helfen im besten Fall. Er behauptet, seine Halbschwester plane, ich zitiere, ›offenbar was völlig Verrücktes‹. Sie hat ihm eine einerseits kryptische, andererseits eindeutige Die-Rache-ist-mein-Mail geschrieben, leider ohne zu erwähnen, was genau sie vorhat.«

Dietrich schürzte die Lippen. Rache? Dieses Motiv hatten sie bislang Raimund Degenhard unterstellt. Konnte es sein, dass die beiden sich zusammengetan hatten? Unwillig schüttelte er den Kopf, mehr über sich selbst, denn offenbar war ihm in Bezug auf Kestings Halbschwester etwas Wesentliches entgangen.

»Diese Halbschwester …«, begann Bengt in seine Gedanken hinein.

»Sie heißt Margot Kleve«, unterbrach ihn Dietrich. »Ich habe sie wie alle Personen aus Degenhards und Kestings Umfeld überprüft. Sie arbeitet als freie Journalistin in Bonn, und das einzig Auffällige an ihr ist, dass sie und Kesting bis vor zwei Jahren nichts von ihrer gegenseitigen Existenz wussten. Sie entstammt einer außerehelichen Beziehung ihres gemeinsamen Vaters und erfuhr erst nach dessen Tod davon. Sie hat Kesting ausfindig gemacht und oft im Knast besucht. Diese Familienanbindung hat zu seiner positiven Sozialprognose und damit vorzeitigeren Entlassung geführt. Sie hat keinen Grund, sich zu rächen.«

»Das sieht sie anders, und Kesting hat mir erklärt, warum. Es geht ihm nicht gut, er hat mehr Schwierigkeiten draußen als gedacht. Seine Arbeit im Fotostudio frustriert ihn, er macht den Job um des Geldes willen, als Künstler kommt er auf keinen grünen Zweig, weder als Maler noch als Fotograf. Vor ein paar Monaten hätte er fast zu viele Tabletten geschluckt, wenn seine Schwester ihm die Dinger nicht gerade noch rechtzeitig aus der Hand gerissen hätte. Sie kennt natürlich seine Geschichte, und sie gibt allen die Schuld, die ihn damals hinter Gitter gebracht haben, bloß ihm selbst nicht. Er sieht das weit realistischer, aber er kriegt diese Denkweise nicht aus ihr raus.« Bengt machte eine kleine Pause. »Wohlgemerkt: Das ist, was er sagt. Ob’s stimmt, ist schwer zu beurteilen. Ich finde ja, er trägt ein bisschen zu dick auf.«

»Warum sollte er so was erfinden?«, fragte Dietrich, nur um sich gleich selbst die Antwort zu geben: »Es sei denn, die ganze Geschichte ist fake und er zieht das gemeinsam mit seiner Schwester und Degenhard durch. Was stand denn nun in dieser angeblichen Mail, die Kesting zu seinen angeblichen Schlussfolgerungen gebracht hat?«

»Er hat sie mir und ich habe sie anschließend dir weitergeleitet. Lies am besten selbst.«

Während Dietrich sein Mailprogramm öffnete, fragte er sich, weshalb Kesting sich ausgerechnet an Bengt gewandt hatte, der längst pensioniert war.

»Weil er dich nicht ausstehen kann, und du musst zugeben, dass wenigstens das durchaus der Wahrheit entsprechen dürfte.« Bengt lachte, klang aber nicht amüsiert. »Was noch wichtiger ist: Seine Halbschwester ist auch nicht gut auf die Polizei zu sprechen. Ihre Reaktion auf deren Eingreifen könnte drastisch sein. Trotzdem, meinte er, solle sich jemand damit beschäftigen, der mit den Ereignissen damals vertraut wäre. Falls die Mail echt ist, stimme ich dem zu. Hast du sie bekommen?«

»Ja«, murmelte Dietrich, der schon begonnen hatte zu lesen.

Lieber Arnold,

ich weiß, du hast gesagt, ich soll aufhören, mich zu viel um dich zu kümmern. Mich in dein Leben einzumischen. Die Dinge nur so zu sehen, wie ich sie sehen will. Aber du bist meine einzige Familie, und ich kann nicht länger ertragen, dass du leidest. Ganz davon abgesehen, dass ich weiß, dass die Dinge sind, wie ich sie sehe. Du bist definitiv zu streng mit dir selbst und zu nachsichtig mit anderen. Es wird Zeit, dass diejenigen, die dir dein Leben gestohlen haben, am eigenen Leib erfahren, wie das ist.

Ich werde sie alle zur Rechenschaft ziehen, vor allem diese falsche Schlange Tina. Sie hätte verdient, dass ich mit ihr beginne, aber vielleicht muss sie die Letzte sein und ich mich in Geduld üben, bis ich sie aufstöbere. Bis dahin werde ich mich mit den anderen befassen, mit denen, die so sorg- und arglos sind, dass ihr Sturz in die Hölle sie umso härter treffen wird.

Versuch nicht, mich aufzuhalten, und versuch auch nicht, jemanden zu warnen. Wenn du das hier liest, ist es sowieso zu spät dafür.

Und mach dir keine Sorgen um mich. Ich war und bin nicht allein, ich habe Menschen an Bord, die diesen Weg mit mir teilen. Für mich. Für uns.

In Liebe

Deine Schwester Margot

»›Versuch nicht, mich aufzuhalten‹«, zitierte Dietrich. »Der Triggersatz schlechthin. Wenn sie ihre Rachepläne ungestört umsetzen wollte, hätte sie sich bedeckt halten und ihr Ding durchziehen können.«

»Woraus du schließt, dass die Mail fingiert ist?«

»Nicht unbedingt. Möglicherweise will sie ja tatsächlich gerade das Gegenteil erreichen. Ich hätte mich tiefergehend mit Margot Kleve befassen sollen, dann wüsste ich jetzt besser, wie sie tickt. Hat Kesting sonst noch was gesagt?«

»Nur, dass er auf dem Weg nach Wustrow ist.«

»Wie bitte?«

»Ich konnte ihn aus der Ferne schlecht aufhalten«, gab Bengt zurück. »Falls er wirklich mit drinhängt, dürfte er ohnehin längst da sein.«

Das war ein Punkt. »Gut. Bitte ruf Rieka an und gib alles an sie weiter. Sie soll zusammentragen, was uns weiterhelfen kann, und mir sofort Bescheid sagen, wenn sie Kestings Standort ausfindig gemacht hat. Das Gleiche gilt für Margot Kleve. Rieka kriegt gleich alle Daten, die ich bereits habe. Inzwischen versuche ich, vor Ort weiterzukommen.«

»Rieka?« Bengt zog zweifelnd ihren Namen in die Länge. Natürlich. Er hatte keine Ahnung, dass es wieder zu einer Annäherung zwischen ihr und Dietrich gekommen war.

Der hatte keine Zeit für Erklärungen. »Ja. Tu’s einfach.«

»Alles klar, Boss.«

Dietrich nahm sich nicht mal Zeit, bei dieser Anrede seinen Mund zu verziehen, er beendete das Gespräch sofort, um die Cloud mit Informationen über Kestings Halbschwester zu füttern. Danach kehrte er zurück zu Bruno Ewald und Harald Barthel, die ihm erwartungsvoll entgegensahen.

»Das hat ja gedauert«, stellte Ewald fest. Beinah schien es, als hätten sich noch mehr Falten in sein wettergegerbtes Gesicht gegraben. »Etwas, das uns weiterbringt?«

»Ich würde Ihnen gerne eine Mail zeigen, möglicherweise verfasst von Arnold Kestings Halbschwester«, sagte Dietrich statt einer Antwort und schickte sich an zu erklären, wer Kesting war, doch beide Männer winkten wissend ab. »Bitte achten Sie auf jede Silbe und jedes Komma – vielleicht fällt Ihnen was auf oder ein.«

Diese Idee war ihm vorhin gekommen, weil beim Lesen etwas bei ihm geklingelt hatte, ohne dass er es zu fassen bekam. Er hielt Barthel und Ewald sein Telefon hin und verfolgte ungeduldig ihre Reaktionen. Kassandras Vater zeigte keine. Er sah auf und schüttelte den Kopf. Bruno Ewald dagegen schien sich an einem Teil der Mail festzubeißen.

»Raus damit!«, forderte Dietrich ihn auf. »Auch wenn es noch so vage ist.«

»Die einzige Formulierung, die man im weitesten Sinne aufs Fischland beziehen könnte, wäre wohl ›an Bord‹. Zugegeben, das ist weit hergeholt, weil es natürlich im übertragenen Sinne gemeint sein kann. Aber da ist diese Sache mit der Stinne.«

»Was ist mit dem Schiff?«, fragte Dietrich. »Kassandra erzählte, dass jemand daraus eine Eventlocation machen will.«

»Richtig, es muss demnächst fertig werden, da sollen Krimi-Dinner stattfinden und …« Ewald wandte sich an Barthel. »Wie heißt das, wenn man aus einem geschlossenen Raum entkommen muss?«

»Escape-Room. Ist auch nicht mein Ding«, half Barthel aus. Doch plötzlich wirkte er angespannt, er musste sich räuspern. »Die Stinne ist fertig. Ich habe gestern Mittag beim Imbiss am Hafen zufällig das Gespräch zweier Mitarbeiter der Hülskamp mitbekommen. Das ist die Projektleiterin«, ergänzte er für Dietrich. »Es sollte noch letzte Hand angelegt werden vor der Premiere für geladene Gäste am heutigen Abend. Und bei Kassandra lag ein Werbeflyer auf dem Küchentisch.«

»Das wollte ich gerade anmerken«, fügte Ewald hinzu. »Ich habe bei Paul auch so einen Flyer gesehen.«

Es gelang Dietrich kaum, seine Enttäuschung zu verbergen.

»Das Ding liegt vermutlich zu Dutzenden auf Wustrower Küchen- oder Wohnzimmertischen oder bereits im Altpapier«, sagte er. »Oder gibt es Anhaltspunkte, dass mit der Sache etwas nicht stimmt?«

»Keine wasserdichten, aber ich komme aus der Baubranche, wenn ich mich auch im Eventbereich weniger auskenne«, sagte Barthel. »Ich fand es bemerkenswert, dass Nicola Hülskamp hier als einzig Federführende vor Ort ist, den ganzen Krempel schmeißt und sich sogar ums Inhaltliche kümmert. Sie hat zum Beispiel Violetta Grabe für die Krimi-Szenarien engagiert. Das heißt, die Frau überwacht nicht nur Bau, Konstruktion und ihre Leute, sondern ist genauso verantwortlich für Detailplanung und Ausführung der Events. Das ist selbstverständlich nicht völlig unmöglich, es handelt sich um ein vergleichsweise kleines Projekt. Dennoch ist die Vorgehensweise, die Verantwortung für sämtliche Vorgänge in eine Hand zu legen, unüblich.«

»Klingt einsichtig«, fand Dietrich. Vielleicht lag Bruno Ewald doch richtig mit seiner Vermutung. »Was wissen Sie über diese Frau Hülskamp?«

Barthel zuckte mit den Schultern. »Nichts weiter. Ich habe mich damals nur über den Investor kundig gemacht. Man ist ja leider so allerhand gewohnt hier in der Gegend.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Dieter Hellwerths Holz-Steine-Stahl GmbH hat aber einen hervorragenden Ruf, sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz, in Österreich und Liechtenstein.«

»Liechtenstein?«, wiederholte Dietrich. »Hat er seinen Geschäftssitz in der Steueroase?«

»Nein, in Ulm, und ich habe bis auf Kleinigkeiten, mit denen jeder Unternehmer und Investor zu kämpfen hat, keine Klagen gehört. Daher bin ich davon ausgegangen, dass er seine Leute sorgfältig auswählt und weiß, was er tut.«

»Vielleicht«, sagte Dietrich, »hat er es in diesem Fall nicht gewusst.«

»Sie glauben, Frau Hülskamp handelt im Interesse von Kestings Halbschwester und wäre damit eine der Personen, die Margot Kleve ›an Bord‹ hat?«

»Möglich wär’s. Auf jeden Fall sollten wir uns dringend mit ihr unterhalten. Sie haben nicht zufällig ihre Kontaktdaten?«, fragte Dietrich mit wenig Hoffnung.

»Nein, aber es ist allgemein bekannt, dass sie bei den Streblows untergekommen ist. Er ist Direktor vom Dünentraum, ich kenne ihn ganz gut und kann ihn fragen.« Barthel hatte schon sein Telefon hervorgeholt und kurz darauf Frau Streblow in der Leitung. Er brachte sein Anliegen vor, hörte eine Weile zu, notierte sich etwas und bedankte sich schließlich. »Frau Hülskamp ist nicht zu Hause, was nicht anders zu erwarten war. Ich habe hier aber ihre Telefonnummer, unter der sie laut Frau Streblow jederzeit erreichbar ist.« Er reichte Dietrich den Zettel.

»Das wäre ja schön, aber es sollte mich wundern.« Dietrich gab die Nummer ein und erhielt sofort die Ansage, die er heute schon mehrfach gehört hatte: Der Teilnehmer ist nicht erreichbar.

»Sackgasse«, grummelte Ewald.

»Noch nicht ganz«, widersprach Dietrich. »Bitte entschuldigen Sie mich kurz.« Wieder verschwand er in der Küche. Auf seinem Telefon tippte er Riekas Nummer an.

»Soll ich mich geschmeichelt fühlen, weil du mich für superschnell hältst?«, fragte sie. »Oder bist du bloß ungeduldig?«

Er hörte an ihrem Tonfall, dass sie nicht ernsthaft sauer war. »Beides.«

»Ja, klar. Also, Arnold Kesting ist auf der A20 unterwegs, hat gleich Rostock erreicht, und wenn er in dem Tempo weiterrast und die Geschwindigkeitsbegrenzungen missachtet, dürfte er bald bei euch auf der Matte stehen. Vielleicht findest du interessant, dass er nicht erst seit eben im Norden ist, sondern seit vorgestern in Hamburg war. Oder zumindest sein Telefon«, schränkte Rieka ein. »Schlechte Nachrichten dagegen bezüglich Margot Kleve. Ihr letzter Standort war Münster, das ist fünf Tage her. Seitdem konnte ich sie zumindest bisher nirgends ausfindig machen. Ich bin dabei, ihre Bankbewegungen nachzuvollziehen, vielleicht ergibt sich was über Kreditkartenzahlungen oder Bargeldabhebungen, aber ich brauche ein klein wenig mehr Zeit. Das gilt auch für Kestings weitere Unternehmungen.«

»Danke.« Dietrich wägte ab, was jetzt am wichtigsten war. »Lass Kesting einen Augenblick ruhen. Margot Kleve ist dringender. Anschließend such nach Nicola Hülskamp.« Er gab ihr die Nummer durch, ohne sich allzu viel davon zu versprechen. Wenn sie was zu verbergen hatte, führte diese Nummer ins Nichts. »Leider wissen wir wenig über sie, außer dass sie Projektleiterin für die Baufirma Holz-Steine-Stahl GmbH in Ulm ist, die wiederum einem Dieter Hellwerth gehört. Zurzeit betreut sie ein Projekt in Wustrow – die Stinne. Du erinnerst dich, das Schiff auf dem Trockenen.«

»Ja«, sagte Rieka neutral. Sie und Dietrich waren mal gemeinsam da gewesen, was im Streit geendet hatte. »Ich melde mich, Bulle.«

Sein »Danke« ging bereits ins Leere.

Als Nächstes rief er Tobias an und berichtete von den neuen Erkenntnissen. »Ich fahre rüber zur Stinne. Wenn die Kollegen kommen, brauchen die mich in Heinz Jungs Haus nicht, aber vielleicht kann ich auf dem Schiff was ausrichten. Von den Kollegen will ich da übrigens niemanden sehen. Nach allem, was Bengt über Kestings Halbschwester sagt, könnte das nach hinten losgehen, wenn die mitkriegt, dass es um die Stinne herum von Polizei wimmelt. Am besten, unsere Leute sind selbst bei Jungs Haus äußerst vorsichtig und fahren nicht mit großem Geschirr vor«, schloss er.

»Verstehe«, sagte Tobias, »aber bist du sicher, dass du ohne Unterstützung klarkommst?«

»Nein«, gab Dietrich zu. »Allerdings bleibt mir nichts anderes übrig.«

Er unterließ es zu erwähnen, dass er Kassandras Vater und Bruno Ewald zur Stinne mitnehmen wollte. Das war zwar auch nicht ohne Risiko, aber zumindest kein Großaufgebot an Blaulicht, und Kestings Schwester würde hoffentlich drei Männer, zwei davon schon recht betagt, als geringe Bedrohung betrachten. Ihm war klar, dass mit diesem Gedanken die realistische Einschätzung einherging, dass ihre Chancen, bei der Stinne etwas auszurichten, ebenfalls gering waren.

Dietrich trat auf den Flur und rief nach den beiden Männern. »Auf zur Stinne. Wir nehmen meinen Wagen.« Er lud Barthel, der vermutlich grob ahnte, was Dietrich gerade veranlasst hatte, und Ewald in den Lexus und kurvte durch den Sturm zum Kuhleger, von wo er in die Straße bog, die zur Stinne führte.

Immerhin schüttete es nicht mehr, sodass sie einigermaßen trocken blieben, als sie ausstiegen, doch der Wind zerrte an ihrer Kleidung, und die dicke Wolkenschicht über ihnen kündigte weiteren Regen an. Das Schiff lag als schwarzer schweigsamer Schatten vor dem dunklen Himmel.

Dietrich wandte sich nach links zur Backbordseite der Stinne. Dort befand sich, etwa in der Mitte des Rumpfes, der Eingang zum Restaurant. Oder vielmehr: hatte sich befunden. Denn da war nur noch schwarzer Rumpf, nicht einmal die Andeutung einer Tür oder überhaupt einer Öffnung.

»Ist das also jetzt wirklich komplett dicht hier«, sagte Barthel. »Dann müssen wir nach Steuerbord.«

»Wussten Sie von den Plänen, den Eingang zum Restaurant zu schließen?«, erkundigte sich Dietrich, während er Barthel mit Bruno Ewald folgte.

»Als ich vor zwei Monaten mal neugierigerweise hier war, habe ich es, nach allem, was ich sah, vermutet. Ich wurde allerdings schnell wieder weggeschickt.«

Inzwischen hatten sie das Heck umrundet und standen vor der Außentreppe. Auf halber Höhe erkannten sie jetzt schwaches Licht hinter dem Bullauge der Tür, die früher zu den Kabinen geführt hatte. Dietrich hastete hinauf und warf einen Blick hindurch, doch er sah nur einen kleinen schummrig beleuchteten Flur und linker Hand zwei, drei Stufen nach oben. Ein kleines Stück weiter hinten rechts ging offenbar ein Gang ab, von dem er jedoch kaum einen halben Meter erkennen konnte. In Sichtweite hielt sich niemand auf.

Er rüttelte an der Tür, zuerst allein, dann mit Hilfe von Harald Barthel. Sie hielt stand, das änderten auch zwei, drei kräftige Fußtritte nicht. Rechts neben der Tür gab es eine Reihe Fenster, vermutlich gehörten die zu den ehemaligen Kabinen – was auch immer sich nun dahinter verbarg. Dietrich stieg die nächsten zwei Stufen der Treppe hinauf, um einen Blick durch das erste Fenster zu werfen, doch da war, wie nicht anders zu erwarten, nur Dunkelheit. Er schaute genauer hin und bemerkte, dass die Fenster von innen verkleidet waren. Vielleicht mit Holzläden, vielleicht mit sehr dicken, straffen Vorhängen. Er klopfte gegen das Glas. Nichts. Kein Geräusch von innen. Dann zog er sein Jackett aus, wickelte es sich um den Unterarm und versuchte, die Scheibe zu zertrümmern. Vergeblich.

»Haben Sie einen Wagenheber im Auto?«, fragte Bruno Ewald. »Vielleicht geht es damit.«

Dietrich nickte, und Barthel, der am weitesten unten stand, bot an, ihn zu holen. Dietrich zog das Jackett wieder über und fischte nach dem Schlüsselbund in seiner Hosentasche, das er Barthel zuwarf. Während Barthel losging, stieg Dietrich mit Ewald weiter die Treppe hinauf auf Deck. Es war leer bis auf einen großen Kasten, in dem sich kurioserweise Schwimmwesten, ein Rettungsring und eine Strickleiter befanden. Gerade als sie den Deckel wieder auf den Kasten fallen ließen, erwischte sie eine Sturmböe und ließ sie gegen die Reling taumeln. Bruno Ewald war kein kräftiger Mann und konnte sich gerade noch festhalten, sonst wäre er die Treppe rücklings hinuntergestürzt. So ging er nur in die Knie und war dankbar, dass Dietrich ihn stützte.

»Entgegen aller Hoffnung werde ich nicht jünger«, murmelte er.

Dietrich öffnete den Mund, doch bevor er überhaupt eine Silbe von sich geben konnte, sagte Ewald: »Kommen Sie jetzt bloß nicht auf die Idee, mich nach Hause zu schicken!«

Das hatte er tatsächlich vorgehabt, obwohl er wusste, dass er tauben Ohren predigen würde, also hielt er besser die Klappe. Gemeinsam machten sie sich an den Abstieg und trafen Barthel beim Eingang wieder, den Wagenheber in der Hand. Er reichte ihn Dietrich.

»Sie haben bestimmt mehr Muskeln im Arm als ich. Versuchen Sie Ihr Glück.«

Dietrich schlug mehrmals mit aller Wucht zu, doch das Glas hielt stand, ebenso das des Bullauges.

»Escape-Room vom Feinsten«, zischte er zwischen den Zähnen hervor. »Wir brauchen mindestens ein Brecheisen oder eine Axt.«

»Und falls das hier doch eine falsche Fährte ist?«, wagte Barthel einzuwerfen. »Wenn die dadrin wirklich nur ein harmloses Spiel spielen oder überhaupt niemand da ist, weil die Premiere wegen Wetter unerwartet ausfiel? Wenn Kassandra, Paul und Heinz ganz woanders sind?«

Dietrich glaubte nicht daran. Seit er einen Blick auf die Stinne geworfen hatte, wusste er instinktiv, dass hier alle Fäden zusammenliefen. Aber er konnte schlecht mit seinem Bauchgefühl argumentieren.

»Mit diesem Risiko kann ich gut leben«, sagte er deshalb und wandte sich an Bruno Ewald. »Sie haben zu Hause doch bestimmt eine Axt, die wir schnell mit dem Wagen holen können.«

Ewald nickte und marschierte bereits hinunter, während Dietrich von Barthel seine Schlüssel wieder in Empfang nahm und ihn bat, an Ort und Stelle zu bleiben und ihn sofort zu benachrichtigen, wenn sich etwas tat.

Bruno Ewald war ein ordentlicher Mensch, er wusste genau, in welcher Ecke seines Kellers die Axt stand, und Dietrich griff sich auch das Brecheisen, das er an die Wand gelehnt entdeckte.

Keine zehn Minuten später waren sie zurück. Inzwischen hatte der Regen wieder eingesetzt, Harald Barthels Haare waren bereits durchnässt. Abwehrend hob er die Hände, als Dietrich mit der Axt auf die Stinne zukam.

»Lassen Sie das Ding lieber stecken«, sagte er frustriert. »Ich habe mir den Nacken verrenkt, um mehr durch dieses kleine Bullauge zu erkennen, und ich fürchte, es hat sich gelohnt. Die Tür ist verkabelt, und falls Kestings Halbschwester auf einem verrückten Rachefeldzug ist, der hierherführt, haben wir Glück gehabt, dass die Fenster womöglich aus Panzerglas bestehen. Wir sollten besser nicht ausprobieren, was passiert, wenn wir uns gewaltsam Zutritt zur Stinne beschaffen. Mit dem Schiff, den Leuten dadrin und mit uns.«