9
Ein Sirren in ihren Ohren war das Erste, das Kassandra wahrnahm. Sie lag auf dem Boden, etwas Schweres nahm ihr fast die Luft zum Atmen. Mühevoll drehte sie ihren Kopf und erkannte, dass ein Körper auf ihrem lag, sah einen Arm, der in einem schwarzen Jackettärmel steckte. Paul! Er musste sich auf sie geworfen haben, um sie vor der Explosion zu schützen! Ihr Herz schlug bis zum Hals. Was war …? Da bemerkte sie, dass Paul sich vorsichtig bewegte.
»Ist alles in Ordnung?«, hörte sie seine dumpfe Stimme. Ihre Ohren waren halb taub von diesem irre lauten Knall. Ansonsten verspürte sie keine Schmerzen, also nickte sie.
Langsam erhob sich Paul, der ebenfalls unverletzt schien, und half ihr auf die Beine.
Um sie herum waren überall ähnliche Bilder zu sehen. Jonas und Marlene standen langsam und mit wackeligen Beinen auf, ebenso Gerlinde und Jens. Violetta hockte sich hin und nahm dankbar Brentanos Hand, der sie hochzog. Auch Lisa und Mike rappelten sich auf. Der Einzige, den es nicht zu Boden gerissen hatte, war Gunnar Pechstein, der ruhig auf die Tür zuging, vor der die Handgranate hochgegangen war.
Die Tür! Sie hätte zerfetzt in den Angeln hängen müssen, doch sie war vollkommen unbeschädigt! Wie im Übrigen, registrierte Kassandra erst jetzt, auch alles andere im Raum.
Gunnar Pechstein bückte sich, um die Granate aufzuheben.
»Vorsicht!«, hörte Kassandra Violetta flüstern.
Sie schaute zu ihr rüber und begriff, dass ihre Freundin in Wirklichkeit geschrien haben musste, nur war da immer noch Watte in Kassandras Ohren. Sie sah Pechstein mit der Granate in der Hand näher kommen und wollte zurückweichen. Irritiert bemerkte sie, dass Paul sie vorwärtsschob.
»Eine Attrappe«, stellte er fest. Sie konnte ihn jetzt besser hören, die Watte hob sich allmählich und machte einem leisen Klingeln Platz.
»Jein.« Pechstein hielt das Ding, das alle für eine Handgranate gehalten hatten, in die Höhe. Es sah aus wie ein geköpftes Ei, darin Drähte und eine Vorrichtung, die Kassandra nicht identifizieren konnte.
»Das hier«, Pechstein zeigte auf das kleine zerfetzte Rechteck, »hat den lautstarken Knall verursacht. Es ist eine Art Platzpatrone. Insofern haben Sie recht, Herr Freese, die Handgranate ist eine Attrappe, aber nicht ausschließlich. Außer dem kleinen Scherzartikel enthielt sie nämlich noch was.« Er streckte seine linke Hand aus, in der ein kleiner Schlüssel lag.
»Darf ich mal?«, fragte Mike, griff danach und betrachtete ihn genauer. »Könnte zu einem Kellerschloss, einer Geldkassette oder einem Briefkasten passen.«
»Wer sagt denn eigentlich, dass der Schlüssel wirklich in der Handgranate war?«, ließ sich plötzlich Magnus Brentano vernehmen.
Pechstein hob die Brauen. »Woher sollte ich ihn sonst haben? Auf dem Boden hat vorher nichts gelegen.«
»Vielleicht hatten Sie den in Ihrer Tasche«, blies Jens in dasselbe Horn. »Sie wussten offenbar, dass die Handgranate«, mit den Fingern zeichnete er Gänsefüßchen in die Luft, »nicht echt ist, sonst hätten Sie sich zu Boden fallen lassen wie der Rest von uns.«
»Ha!«, machte Violetta. »Ich würde sagen, er hätte sie andernfalls erst gar nicht geworfen!«
»Ganz genau!« Brentano baute sich vor Pechstein auf. »Sie stecken mit Nicola unter einer Decke!«
Gunnar Pechstein betrachtete Brentano, Jens und Violetta nacheinander mit einem milden amüsierten Blick und verzog das Gesicht in gespielter Verzweiflung. »Sagen Sie’s ihnen, Herr Freese, mir glaubt vermutlich niemand.«
Kassandra hatte sich dieselben Fragen gestellt, aber plötzlich war ihr alles klar, und Pauls Worte bestätigten das.
»Wäre Herr Pechstein Nicolas Komplize, hätte er sich sicher nicht auf so dumme Weise verraten.«
»Ach?«, machte Violetta. »Das könnte genau sein Trick sein, um von sich abzulenken, wie der Mörder, der angeblich die Leiche findet und die Polizei benachrichtigt, schon viel zu oft gesehen und gelesen, als dass ich mich von so was einlullen lasse!«
Das war ein schlüssiges Argument. Kassandra fühlte sich hin- und hergerissen, aber gerade das konnten sie sich jetzt nicht leisten.
»Mag sein«, sprach Paul ihre Gedanken aus. »Allerdings ist dieser Schlüssel gerade unser einziger Hinweis, und wir sollten herausfinden, was wir damit anstellen, bevor die nächsten Minuten zu den letzten für einen von uns werden.«
»Kann ich mal sehen?«, meldete sich unerwarteterweise Anni zu Wort.
Bereitwillig legte Mike ihr den Schlüssel in die Hand. Sie betrachtete ihn von allen Seiten und schaute dann auf. »Ich hatte das ganz vergessen, aber gestern habe ich zufällig im Vorbeigehen beobachtet, wie Nicola mit einem der Arbeiter vor einem Schaltkasten stand. Der hatte ein Schloss, zu dem der Schlüssel passen könnte, und war …« Ihr Blick glitt durch den Raum und blieb schließlich an der Wand haften, die sich zuvor Gerlinde und Jens vorgenommen hatten. »Da. Glaub ich.«
»Da ist nichts«, sagte Gerlinde überzeugt. »Wir haben die Wand gründlich abgesucht.«
Anni schüttelte den Kopf. »Nicht an der Wand. An dem Stützbalken.« Sie trat darauf zu und streckte die Hand aus, wagte aber nicht, den Balken zu berühren.
Mit zwei Schritten war Paul neben ihr und tastete konzentriert das Holz ab. Kassandra sah, wie mit einem Mal seine Augen aufleuchteten.
»Hier ist ein winziger Spalt.«
Sein Finger fuhr daran auf und ab. Dann plötzlich machte es klick, und ein dünnes Brett, etwa zwanzig mal dreißig Zentimeter groß, schwang auf. Es war in nichts von dem Holz des Balkens zu unterscheiden gewesen, hatte sich perfekt eingepasst.
Mehrere aufgeregte Stimmen flatterten durch den Raum, die alle mehr oder weniger dieselbe Frage formulierten: »Was ist dadrin?«
Kassandra stellte sich auf die Zehenspitzen, damit sie über Pauls Schulter sehen konnte. Inzwischen hatte er von Anni den Schlüssel bekommen und steckte ihn in das kleine silberne Schloss des grauen Metallkastens, der sich im Balken verborgen hatte. Kassandra war mulmig zumute. Vielleicht war das eine Falle.
Paul drehte den Schlüssel, die graue Stahltür öffnete sich geräuschlos. Dahinter kam ein unscheinbarer schwarzer Knopf zum Vorschein, darüber die Botschaft »Drück mich und lass dich überraschen«, die Paul laut vorlas.
Er sah in die Runde. Auf den Gesichtern spiegelten sich die vielfältigsten Emotionen wider: Erleichterung, Anspannung, Furcht, Freude, Unsicherheit, Ratlosigkeit.
»Was soll ich tun?«, fragte Paul.
»Das meinen Sie nicht ernst, oder?«, kam es von Pechstein.
»Wenn das der Zauberknopf ist«, sagte Kassandra leise, »sind wir danach möglicherweise aus diesem Raum heraus, aber immer noch auf der Stinne.«
»Aber es wäre ein Anfang!«, sagte Liza. In ihrer Stimme schwang gleichermaßen Hoffnung und Panik mit. »Wer weiß, vielleicht nimmt Nicola das mit der Zeit oder den Regeln ja doch nicht ganz so genau. Ich meine, wir haben dann ja immerhin Fortschritte gemacht. Das muss sie doch anerkennen!«
»Jetzt drück schon drauf«, sagte Jonas. »Wir haben sowieso keine Alternative.«
»Richtig. Wir müssen uns ja nur ihn da«, Brentano zeigte auf Raimund, »ansehen, um zu wissen, dass es keinen Sinn hat, das hier aussitzen zu wollen.« Er klammerte sich an den Durchgang zur Kombüse und wirkte überaus nervös. Flüchtig sah er zu Liza. »Und leider glaube ich nicht …« Er stockte, schloss kurz die Augen, fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. »Glaube ich nicht«, fing er wieder an, »dass Frau Hülskamp was anerkennt außer … ihre … verd… verdammten … eig… eigenen Regeln.« Brentanos Gesicht war blass geworden, auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Er hatte Angst, kein Zweifel, mit seiner Ruhe war es vorbei. Vielleicht hatte Kassandra sich doch in ihm getäuscht. Oder er wusste, was passieren würde, wenn jemand auf diesen Knopf drückte. Sein Blick traf auf Pauls. »Na los!«
Den Bruchteil einer Sekunde schwebte Pauls Zeigefinger über dem Knopf. Dann traf er ihn zielsicher wie ein Seeadler, der seine Beute schnappt.
Einen Moment lang geschah gar nichts. Schließlich ertönte ein Klacken, dann ein Rauschen und Zischen, als entwiche irgendwo Luft. Schließlich wieder ein Klacken. Die Geräusche kamen von der verrammelten Tür, auf die nun alle ihre Blicke richteten und die sich Stück für Stück öffnete. Und schließlich gab es kein Halten mehr, sodass es vor der Tür zu einem Stau kam. So gut wie jeder wollte als Erster durch das Tor zur Freiheit.
Kassandra spürte, wie Paul nach ihrer Hand griff. Sie beide folgten langsamer und ließen einander nicht los, in dem Bewusstsein, dass die zwei Stunden fast um, sie aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch immer Gefangene auf der Stinne waren. Da hörten sie auch schon frustrierte, verärgerte und verängstigte Stimmen.
»Hier geht’s nicht weiter, verflucht!« Das klang nach Mike.
»Das darf nicht wahr sein!«, rief Gerlinde.
»Ist es aber«, antwortete Jens.
»War doch klar!«, sagte Anni, den Tränen nahe.
»Ich könnte die Hülskamp eigenhändig erwürgen«, ließ sich Jonas ruhig, aber mit kaum unterdrücktem Zorn vernehmen. Niemand widersprach ihm.
Marlene blinzelte Tränen der Enttäuschung fort und klammerte sich an ihn. Kassandra konnte das Gefühl viel zu gut nachvollziehen. Sie war froh, dass Paul so nah bei ihr stand. Violettas Blick traf auf ihren, darin die Bitte um Entschuldigung, obwohl sie keinerlei Schuld trug.
Sie standen vor einer zweiten Tür ohne Klinke, die zuvor in der Wand oder über ihnen verborgen gewesen und später heruntergelassen worden sein musste. Nun trennte sie sie von der Treppe nach oben. An der Tür war ein großer Spiegel befestigt, auf dem in roter Lippenstiftschrift geradezu obszön »Mach mich auf!« stand, und zwischen den Buchstaben spiegelten sich ihre eigenen ratlosen Gesichter.
Kassandra blinzelte. Eins fehlte.
»Wo ist Herr Brentano?«
Gemurmel hob an, während sich jeder suchend umsah, und wurde lauter, als der Koch unauffindbar blieb. Hinter Kassandra und Paul stand nur noch Gunnar Pechstein, der ebenfalls zurückschaute, doch der Speisesaal der Stinne war leer.
»Er kann sich nicht in Luft aufgelöst haben.« Schnellen Schrittes ging Paul auf die Stelle zu, an der sie Brentano zuletzt gesehen hatten.
»Vielleicht gibt es ja doch einen geheimen Ausgang, den Brentano kannte, weil er Nicolas Komplize ist. Er hat die Gunst der Stunde genutzt und ist abgehauen«, schlug Liza vor, gerade als Paul hinter dem Serviertresen und dem Durchgang zur Kombüse ankam.
»Nein«, sagte er.
Über Kassandras Rücken lief eine Gänsehaut. So bestimmt, wie er das ausgesprochen hatte, konnte das nur eins bedeuten. Das begriffen nach und nach auch die anderen. Sosehr sie damit hätten rechnen müssen, die Hoffnung, dass der schlimmste Fall nicht eintrat, hatte alle beseelt. Bis auf den Mörder.
Langsam löste Kassandra sich aus dem Pulk. Brentano lag verborgen vom Serviertresen im Durchgang – sein Oberkörper in der Kombüse, seine Beine im Speisesaal.
Paul bückte sich und suchte nach dem Puls. Wie bei Raimund zuvor fand er keinen. Die Szene kam Kassandra vor wie ein schauriges Déjà-vu. Brentano musste in dem Moment gestorben sein, als sich die Aufmerksamkeit aller auf die sich öffnende Tür gerichtet hatte. Damit war der Mord zu früh verübt worden, aber eine bessere Gelegenheit hätte sich für den Täter oder die Täterin so schnell nicht wieder ergeben.
»Nicola wird durchziehen, was sie sich vorgenommen hat«, sagte Kassandra in die Stille hinein. »Wahrscheinlich ist es egal, ob wir ihren vorgegebenen Zeitplan einhalten. Sie spielt sowieso ihr eigenes Spiel.«
»Aber sie hat gesagt, wir hätten eine Chance!«, protestierte Marlene.
»Ich fürchte, was Frau Hülskamp sagt, sollte man nicht auf die Goldwaage legen«, meinte Gunnar Pechstein, trat nun ebenfalls näher und betrachtete Brentanos Leiche. »Wir sollten feststellen, wie er getötet wurde.«
»Möglicherweise wissen Sie das am besten«, sagte Jonas scharf.
Pechstein drehte sich zu ihm um. »Wie kommen Sie auf diese absurde Idee?«
»Weil ich Sie nirgends gesehen habe, als wir zur Tür sind, sondern erst wieder bei der Rückkehr in den Speisesaal.« Jonas wandte sich an die anderen. »Hat jemand was anderes beobachtet?«
Paul schüttelte den Kopf und musterte Pechstein. »Sie standen hinter Kassandra und mir, als wir uns umdrehten, um nach Brentano zu sehen.«
»Na und? Nur, weil ich mich nicht wie ein Verrückter auf die Tür gestürzt habe, die uns ohnehin nicht weitergebracht hat, heißt das noch lange nicht, dass ich den Koch auf dem Gewissen habe«, verteidigte Pechstein sich, allerdings weniger selbstsicher, als er zuvor geredet hatte.
»So, wie Sie sich ausdrücken, klingt das für mich, als hätten Sie gewusst, dass die offene Tür uns bloß was vorgaukelt«, sagte Jonas. »Genauso, wie Sie wussten, dass die Handgranate eine Attrappe war, um das noch mal zu erwähnen. Woher eigentlich?«
»Meine Güte! Wenn Sie drauf bestehen: Ich bin … beim Kampfmittelräumdienst und erkenne Bomben und Granaten, wenn ich sie sehe.«
Das klang einleuchtend, allerdings war Kassandra sein Zögern aufgefallen, und wie Paul vor einer scheinbaren Ewigkeit festgestellt hatte: Was immer jemand behauptete, es konnte nicht nachgeprüft werden. Das dachten offenbar auch diejenigen, die näher an Pechstein gestanden hatten und Jonas’ Argumenten zustimmten. Sie wichen zurück.
»Wie habe ich Brentano denn Ihrer Meinung nach ermordet?«, fragte er unwirsch, fast schon aggressiv, und deutete auf die Leiche. »Ich sehe weder Einschussloch noch Blut, also werde ich ihn wohl auch nicht erstochen haben.«
»Ziehen wir ihn da raus und untersuchen ihn«, schlug Mike vor. »Was meinst du, Paul? Allmählich gewöhne ich mich dran.«
Wortlos nickte Paul. Unter den Blicken der Übrigen bugsierten sie Magnus Brentano hinter dem Tresen hervor und legten ihn neben Raimund. Ein hartes Stück Arbeit, denn auch wenn Brentano noch voll beweglich war, so war er doch erheblich schwerer als Raimund. Wie sie da lagen, sah es makaber aus. Oder so, wie Kassandra es sich in den Räumen eines Bestatters vorstellte, nur dass die Leichen dort nicht auf dem Fußboden lagerten.
Paul und Mike machten sich daran, Brentano abzutasten. Schließlich sah Paul auf und sagte zu Pechstein: »Sie haben recht, es gibt keine Wunde, zumindest keine, die man mit bloßem Auge auf Anhieb erkennt.«
»Dann habe ich ihn selbstverständlich vergiftet, und da ich keine Möglichkeit hatte, an das heranzukommen, was er möglicherweise gegessen hat, habe ich ihm was injiziert. Suchen Sie nach einem Einstichloch. Hinterm Ohr vielleicht oder in der Pofalte oder der Kniekehle, irgendwo, wo man es nicht so leicht findet.«
Paul legte den Kopf schief. »Und wo Sie es in der Eile schlecht haargenau platzieren konnten.« Er sah nachdenklich aus.
»Es sei denn, er hätte medizinische Kenntnisse«, meinte Gerlinde.
Trotzdem wäre es durch die Kleidung hindurch wahrscheinlich schwierig gewesen, dachte Kassandra, doch Pechstein sprach bereits für sich selbst.
»Ich habe gesagt, was mein Beruf ist. Von Medizin habe ich keine Ahnung. Allerdings möchte ich anmerken, dass Brentano vorhin, kurz bevor Herr Freese auf den Knopf gedrückt hat, ziemlich schlecht aussah. Er war kalkweiß und schwitzte. Das heißt, dass ihm jeder andere zu jeder anderen Zeit ebenfalls Gift hätte injizieren oder sonst wie zuführen können. Inklusive …«, er spießte Kassandra mit einem Blick auf, »Ihnen, Frau Voß. Sie hatten sogar die beste Gelegenheit, denn Sie waren mit Brentano allein in der Kombüse. Niemand von uns kann sicher sein, dass er da während Ihrer Suche nicht was zu sich genommen hat, in das Sie ein paar Tropfen irgendwas getan haben. Soll ja Gifte mit Langzeitwirkung geben.«
So lachhaft das in Kassandras Augen war, bemerkte sie doch, dass die Blicke all jener, die sie nicht kannten, sich plötzlich veränderten. Noch wichen sie nicht vor ihr zurück wie eben vor Pechstein, doch viel fehlte nicht mehr.
»Das ist Blödsinn!«, protestierte sie. »Eines ist mir in der Kombüse aber tatsächlich aufgefallen.«
In diesem Augenblick erwachte der große Bildschirm mit einem Flackern zum Leben, und Kassandra kam nicht mehr dazu zu sagen, was, und da Brentano jetzt tot war, hatten die Fertigprodukte und die Frage, ob er Sternekoch gewesen war oder nicht, ohnehin an Bedeutung verloren.
Dass Brentano tot war, hatte allerdings sehr wohl etwas zu bedeuten. Da er nichts mit den so lange zurückliegenden Fischländer Ereignissen zu tun hatte, ging es in diesem Spiel womöglich doch um etwas anderes. Kassandra wusste nicht, ob sie erleichtert oder verängstigter als zuvor sein sollte, weil diese Tatsache die Vorgänge auf gewisse Weise noch unberechenbarer machte.
Wie alle anderen starrte sie nun auf den Bildschirm und damit auf Nicola, die sie einen nach dem anderen musterte, ohne eine Miene zu verziehen. Es kam Kassandra unendlich lang vor, dabei konnten nur ein paar Sekunden vergangen sein, bis Nicola sich räusperte und wieder ihr falsches Lächeln aufsetzte.
»Wie bedauerlich, dass ihr die Zeit nicht besser genutzt habt. Andererseits ist es euch immerhin gelungen, die erste Tür zu öffnen, also bin ich zuversichtlich, dass ihr das Rätsel der Spiegeltür auch bald löst. Es ist wirklich nicht schwierig. Im Gegensatz zu dem, was euch wiederum dahinter erwartet. Das wird knifflig, kann ich euch versprechen.«
»Um Himmels willen, lass uns raus hier!«, rief Anni mit tränenerstickter Stimme. »Was haben wir dir getan, dass du uns so … so …«
Ihr fehlten die Worte. Violetta trat zu ihr und legte den Arm um sie und wandte sich an Nicola, die reglos auf Anni niedersah.
»Nicola«, sagte sie ruhig. »Ich fühle mich mitverantwortlich für das, was hier geschieht, auch wenn ich weiß, dass du allein uns das eingebrockt hast. Ich appelliere an dein Mitgefühl. Es hat zwei Tote gegeben. Zwei Tote«, wiederholte sie. »Ich weiß nicht, was Raimund und Herr Brentano dir getan haben. Ob sie dir überhaupt was getan haben. Aber lass es hier enden. Jetzt. Du kannst doch nicht wollen, dass noch mehr Menschen sterben.«
Nicola guckte erstaunt. »Hast du die Regeln vergessen? Niemand muss sterben, wenn ihr euch daran haltet. Findet einen Weg hinaus, und alles ist gut.«
»Aber …«, begann Violetta von Neuem.
»Schluss jetzt!« Zum ersten Mal hob Nicola ihre Stimme und blitzte sie an. »Ich diskutiere dieses Spiel nicht, erst recht nicht mit dir, du eitle, dumme Gans. Du hast bisher nie was hinterfragt, sondern mir immer schön aus der Hand gefressen. Es ist besser für dich, du tust das weiter.« Wieder ließ sie den Blick über alle schweifen, bis er an Kassandra hängen blieb.
Die Gemeinheiten, die sie Violetta an den Kopf geworfen hatte, hatten ihr einmal mehr die Maske vom netten Gesicht gerissen und die böse Fratze gezeigt, die dahintersteckte. Kassandra schluckte, als Nicola sich regelrecht an ihr festzubeißen schien.
Schließlich wanderte ihr Blick doch weiter, und sie sah niemanden im Besonderen an, als sie weitersprach. »Ihr habt zwei Stunden, bis ihr wieder jemanden betrauern müsst. Falls ihr auf meinen Rat Wert legt, er ist ganz einfach: Strengt euch mehr an.« Ihr Blick wanderte zurück zu Kassandra. »Motivier deine Mitstreiter, meine Liebe, es lohnt sich doppelt für dich.«
»Für mich? Wieso?« Plötzlich saß ein großer Knoten in Kassandras Magen, schwer wie ein Stein, und ihr Herz schlug bis zum Hals.
Nicola lächelte nur, der Bildschirm erlosch.
»Ich versteh nicht … Was … was meint sie denn?« Ratlos sah Kassandra zu Paul, der sanft mit dem Finger über ihre Wange strich.
»Ich wollte, ich wüsste es, Liebes. Sie …«
»Kassandra, sieh mal, ogottogottogott!«
Alarmiert fuhr Kassandra zu Violetta herum, doch die schaute gar nicht auf sie, sondern auf den Bildschirm. Noch während sie sich dem selbst wieder zuwandte, hörte sie Aufstöhnen und Laute des Erschreckens von den anderen. Ihr Gehirn brauchte ein wenig, um das, was sie sah, in verständliche Signale umzuwandeln, sodass sie erst einen Wimpernschlag später mit voller Klarheit begriff.
Heinz saß mit nichts als einem Pyjama bekleidet auf einem Stuhl, die Hände hinter dem Rücken gefesselt, die Beine an den Stuhlbeinen. Er hatte einen Knebel im Mund und eine Binde vor den Augen, dennoch konnte man deutlich erkennen, dass sein linkes dick und geschwollen war. Sein Kopf hing leicht nach links geneigt auf seiner Brust, ein dunkelblaues Hämatom dominierte seine rechte Gesichtshälfte. Zweifellos war er bewusstlos.
Von irgendwoher hörte Kassandra einen leisen Schrei, ihr eigenes lang gezogenes »Nein!«.
Ihr wurde eiskalt, nicht einmal Pauls Arme, die sie umfangen hielten und verhinderten, dass ihre Knie nachgaben, konnten sie wärmen. Dann kochte der Zorn so unvermittelt in ihr hoch, dass ihr heiß wurde.
»Nicola!«, brüllte sie. »Ich schwör dir, ich komm hier raus, und dann ist das, was du hier veranstaltest, nichts im Vergleich zu dem, was ich mit dir mache!«
Der Bildschirm wurde schwarz, kurz darauf erschien Nicola erneut mit ihrem ewigen Lächeln, das Kassandra jetzt noch mehr zur Weißglut brachte.
»Nur zu. Ihr habt eine Stunde und«, sie sah auf die Uhr, »vierundfünfzig Minuten, um die Stinne zu verlassen. Dann wird euch eine weitere Leiche in eurem erlauchten Kreis erspart bleiben.« Sie machte eine winzige Pause. »Ich hoffe für dich, liebe Kassandra, dass ihr schneller seid, denn es bleiben, sobald ihr draußen seid, nur drei winzige Stündchen, in denen dein Onkel gefunden und befreit werden muss. Andernfalls stirbt er.« Sie trat einen Schritt näher an die Kamera und sagte leise: »Noch eine kleine Warnung: Falls ihr es rechtzeitig von der Stinne schafft, kommt nicht auf die Idee, die Polizei zu verständigen. Weder, um mich aufzuspüren, noch, um bei der Suche nach deinem Onkel zu helfen. Ich bin sicher, du weißt, was dann mit ihm passiert.« Sie trat wieder zurück. »Viel Erfolg.«
Erneut wurde der Bildschirm schwarz, und diesmal blieb er es.
Kassandra horchte in sich hinein und war über sich selbst erstaunt. Sie hatte keine Angst mehr, die Panik war weg, stattdessen loderte ausschließlich dieser unbeschreibliche Zorn in ihr.
Nicola Hülskamp war bereits für den Tod von zwei Männern verantwortlich, hielt weitere Menschen gefangen, bedrohte deren Leben und das von Heinz, der, wusste der Himmel, wo, gefesselt, verletzt und ohnmächtig nichts tun konnte, als darauf zu vertrauen, dass sie ihn fand. Und das würde sie, und wenn es das Letzte war, was sie tat. Der Zorn wurde übermächtig.
Ohne zu überlegen, riss sie sich von Paul los, schnappte sich einen Stuhl und raste wie eine Furie damit durch den Speisesaal, durch die geöffnete und auf die versperrte Tür zu und rammte den Stuhl mit aller Kraft in den Spiegel. Das Glas zerbrach unter schrillem Klirren in tausend Splitter, die zu ihren Füßen zu Boden fielen. Nur wie durch Nebel nahm sie wahr, dass Paul sie von den Glassplittern wegzog, in denen sich ihr verzweifeltes Gesicht zigfach spiegelte.