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»Wir brauchen die Konstruktions- und Umbaupläne der Stinne«, sagte Harald Barthel.

Mittlerweile hatten sie vor Wind und Regen Schutz in Dietrichs Wagen gesucht. Zwanzig Meter vor ihnen reckte das dunkle Schiff stumm seine Masten in den Himmel, an dem jetzt Blitze zuckten.

»Darin werden Verkabelungen, die gegebenenfalls zu einer Explosion führen, kaum verzeichnet sein«, wandte Dietrich ein.

»Kommt drauf an, wofür solche Verkabelungen offiziell gedacht sind, vielleicht nur für ein harmloses ›Puff!‹ bei einem normalen Spiel. Selbst wenn diese Details überhaupt nicht geplant waren, würden uns Grundrisse erstens verraten, wie die Stinne innen jetzt aussieht, und zweitens helfen, einen zweiten Zugang zum Schiff zu finden. Während Sie mit Herrn Ewald unterwegs waren, habe ich danach gesucht, aber falls es einen gibt, ist er zu gut verborgen, um ihn mit bloßem Auge zumindest bei diesen Wetterverhältnissen zu erkennen«, stellte Harald Barthel fest. »Als Kollege aus der Baubranche könnte ich Hellwerth möglicherweise überreden, uns die Pläne zu überlassen, wenn ich ihm schildere, worum es geht. Leider konnte ich ihn nicht erreichen, selbst Firmenchefs sitzen samstagsabends nicht mehr zwangsweise hinterm Schreibtisch. Ich habe auf dem Anrufbeantworter …«

In diesem Augenblick klingelte sein Telefon. Er hob die Brauen und ging ran. »Barthel.« Er hörte kurz zu und sagte dann: »Frau Hellwerth, vielen Dank, dass Sie sich melden.« Noch während er sprach, hatte er das Handy auf Lautsprecher gestellt. Nun erklärte er, wer er war und von wo er anrief. »Ich würde gerne wegen des Stinne-Projektes mit Ihrem Mann sprechen. Mir ist bewusst, dass das eine ungünstige Zeit ist, aber leider ist es sehr dringend.«

Am anderen Ende herrschte kurz Schweigen. »Welches Projekt, sagten Sie?«

»Die Stinne«, wiederholte Barthel. »Der Schoner, der in Wustrow auf dem Fischland am Boddenufer liegt und von der Holz-Steine-Stahl in ein Eventschiff umgebaut wurde.«

»Das muss ein Irrtum sein«, sagte Frau Hellwerth. »Ich bin im Vorstand unserer Firma und höre zum ersten Mal davon.«

Dietrich streckte die Hand nach dem Telefon aus, das Barthel ihm zögernd reichte. »Guten Abend, Frau Hellwerth, ich bin Kriminalhauptkommissar Kay Dietrich vom KDD in Stralsund. Leider liegen Hinweise vor, dass die Stinne für ein Verbrechen missbraucht wird und …«

»Das tut mir leid«, unterbrach ihn die Frau, »aber ich sagte schon, dass hier ein Irrtum vorliegt. Wir sind weder an diesem noch an sonst einem Projekt an der Ostsee beteiligt.«

»Ich fürchte, das ist kein Irrtum.« Er sah zu Barthel, um sich bestätigen zu lassen, dass dessen Recherchen gründlich und zuverlässig gewesen waren. Der nickte nachdrücklich. »Es stehen möglicherweise mehrere Leben auf dem Spiel, ich muss unbedingt mit Ihrem Mann sprechen, wenn Sie nicht informiert sind.«

»Das ist wirklich …«, begann sie protestierend.

»Frau Hellwerth.« Dietrich legte alle Schärfe in seinen Tonfall. »Ich habe keine Zeit, mit Ihnen zu streiten. Geben Sie mir die Nummer Ihres Mannes, unter der er jetzt zu erreichen ist, und ich rate Ihnen dringend, ihn nicht sofort zu kontaktieren, nachdem wir beide unser Gespräch beendet haben.«

Nun deutlich beunruhigt rückte sie mit einer Mobilnummer heraus. Er bedankte sich knapp, gab Barthel das Telefon zurück und schnappte sich sein eigenes, um Hellwerth anzurufen. Dabei sah er aus den Augenwinkeln Barthels nachdenklichen Blick.

»Was ist?«, fragte er.

»Wir hätten uns nach Nicola Hülskamp erkundigen sollen.«

Dietrich zuckte mit den Schultern. »Da die Gattin nichts von dem Projekt weiß oder es zumindest behauptet, sollte es mich wundern, wenn sie die Hülskamp kennt oder es zugibt. Das würde zu jeder Menge Fragen meinerseits führen, zum Beispiel, ob sie es nicht merkwürdig findet, wenn eine leitende Mitarbeiterin über Monate hinweg die meiste Zeit abwesend ist.«

»Es sei denn, sie glaubt, dass die für ein anderes Projekt anderswo tätig ist«, wandte Barthel ein.

»Dann hilft uns das bei der Suche nach ihr auch nicht weiter.« Er wandte sich wieder seinem Telefon zu. »Hören wir mal, was der Chef dazu sagt.«

Er tippte die Nummer ein und wartete. Es klingelte endlos, ohne dass die Mailbox ansprang. Möglicherweise wollte Hellwerth seine Ruhe haben und hatte keine Lust, später Nachrichten abzuhören. Oder seine Frau hatte ihn doch vorgewarnt.

»Pech gehabt«, schimpfte er. »Sechs Augen sehen mehr als zwei, und ich habe eine Taschenlampe im Handschuhfach.«

Barthel öffnete es und griff danach, während Dietrich weitersprach. »Suchen wir gemeinsam nach einem weiteren Zugang, und nehmen wir Axt und Brecheisen mit für den Fall, dass es tatsächlich keinen gibt. Es wird ja kaum das ganze Schiff verkabelt sein.«

Dietrich stieg aus und hörte nur noch mit halbem Ohr Bruno Ewald sagen, das könne man nie wissen.

Auf halbem Weg vom Lexus zur Stinne spürte er das Vibrieren seines Telefons in der Jacketttasche. Der Sturm hatte wieder zugenommen, das Klingeln hätte er nicht gehört. Rief Hellwerth zurück? Dietrich fingerte nach dem Handy. Nicht Hellwerth – Rieka.

»Sag, dass du was Nützliches herausgefunden hast«, bat er.

»Wie bitte?«, hörte er Rieka undeutlich fragen.

Dietrich wiederholte es mit erhobener Stimme, bemüht, den Wind zu übertönen, und fügte hinzu: »Wir sind draußen bei der Stinne, das Wetter ist mehr als ungemütlich.«

»Wer ist wir?« Auch Rieka sprach jetzt lauter.

»Kassandras Vater und Bruno Ewald sind mit von der Partie«, erklärte Dietrich. »Hast du nun was Nützliches?«

»Kommt drauf an. Weiterhin nichts über Margot Kleve, Kesting ist gerade durch Dierhagen durch, und ja, ich weiß, der ist nicht so wichtig wie Nicola Hülskamp, aber, und das ist die schlechte Nachricht: Die Hülskamp hat die Bühne dieser Welt erst vor acht Jahren betreten und wandelt noch dazu recht selten auf ihr. Nur im letzten Dreivierteljahr hat sie ein regelmäßiges Leben geführt, und zwar fast ausschließlich auf deiner schönen Halbinsel.«

Perplex blieb Dietrich stehen. Er sah, wie Ewald und Barthel bei der Stinne ankamen und begannen, sie Zentimeter für Zentimeter mit der Taschenlampe abzuleuchten und mit den Händen über den hölzernen Rumpf zu fahren, und fragte gleichzeitig: »Das heißt, Nicola Hülskamp gibt es gar nicht?«

»Die Frau an sich schon«, sagte Rieka belustigt, »nur heißt sie in Wahrheit anders. Bevor du fragst: Ich weiß nicht, wie. Noch nicht.«

»Gibt es Gemeinsamkeiten, Schnittpunkte, was immer, mit Margot Kleve?« Sollte es sich bei den beiden um ein und dieselbe Person handeln? Das schien die einfachste, wenn auch nicht unbedingt logischste Erklärung, denn die Hülskamp-Identität war nicht extra für den Rachefeldzug, sondern schon viel früher entstanden.

»Keine eindeutigen. Allerdings erwähnte ich ja, dass ich Margot Kleve das letzte Mal vor fünf Tagen, das heißt Montag, in Münster lokalisieren konnte. Daran hat sich nichts geändert. Sie hat weder ihre Kreditkarte benutzt noch Geld abgehoben, Mails oder sonstige Nachrichten von ihren Accounts geschrieben, mit dem Handy telefoniert oder sonst etwas getan, das digitale Spuren hinterlässt.« Rieka hielt kurz inne. »Auffällig ist, dass Nicola Hülskamp an jenem Montag in Osnabrück in einem recht teuren Bekleidungsgeschäft eingekauft hat. Zwischen den beiden Städten liegen nur gut fünfzig Kilometer.«

»Du meinst, es könnte sein, dass Margot Kleve sich auf diesen fünfzig Kilometern in Nicola Hülskamp verwandelt hat.«

»Das wäre eine Option. Der Altersunterschied zwischen ihnen beträgt nur zwei Jahre. Was ihr Äußeres betrifft: Von der Kleve gibt es einige Fotos im Netz, von der Hülskamp fand ich bloß ein einziges, und das hat mich einige Anstrengung gekostet. Ich schicke es dir, plus eins von der Kleve. Die zwei haben Allerweltsgesichter, aus denen man alles machen könnte. Die Kleve hat halblange blonde Locken und grüne Augen und die Hülskamp kurze braune Haare und blaue Augen und trägt eine Brille. Alles Dinge, die leicht zu verändern wären.«

Absolut!, dachte Dietrich. Und dann: Sollte es wirklich so einfach sein? Ein ähnlicher Zweifel lag auch in Riekas Stimme, als sie weitersprach.

»Also, es wäre möglich. Die geringe Entfernung zueinander an diesem Tag könnte aber auch bedeuten, dass sie sich in Münster, Osnabrück oder dazwischen getroffen haben. Ich bin nämlich für ihr Bewegungsprofil einige Tage zurückgegangen, und es gibt eindeutige Hinweise, dass sie an denselben Tagen an unterschiedlichen Orten waren. Die Hülskamp in Wustrow, die Kleve in Bonn, wo sie wohnt.«

»Oder ihre Telefone waren jeweils da«, gab Dietrich zu bedenken.

»Und ihre Kreditkarten«, fügte Rieka hinzu. »Die wurden in beiden Fällen benutzt. Außerdem wurden zwei von Margot Kleves Artikeln für den Bonner General-Anzeiger von ihrer heimischen URL verschickt.«

Folglich ganz und gar nicht so einfach, dachte Dietrich. Da blitzte ein weiterer Gedanke auf: Es sei denn, diese Artikel hat jemand für sie von dort verschickt.

»Kannst du rausfinden, wo Kesting zu der Zeit war?«, fragte er, hatte aber noch nicht ganz ausgesprochen, da sah er Bruno Ewald vom Deck der Stinne wild gestikulieren. Dietrichs Adrenalinspiegel stieg augenblicklich. »Ich muss Schluss machen, Rieka, hier tut sich was. Melde dich, sobald du was Neues hast.«

Er drückte sie weg, ohne auf ihre Antwort zu warten, lief hinüber und erklomm die Treppe.

»Wir haben einen weiteren Zugang gefunden«, rief Ewald, mittlerweile wieder neben Barthel, und deutete auf das Deck zu seinen Füßen.

Barthel leuchtete mit der Taschenlampe, und Dietrich erkannte eine Art Falltür mit getarntem eingelassenen Griff in der Mitte und kaum sichtbaren Scharnieren zum Bug hin. Entweder führte diese Tür nach unten in eine der Kabinen oder in einen Gang.

Vom Bodden her fegte ihnen eine Windböe um die Ohren. Unwillkürlich wollte Dietrich Ewald auffangen, doch der stand diesmal breitbeinig da wie eine Eins und deutete auf das Brecheisen, das er neben der Falltür abgelegt hatte.

»Versuchen wir’s?« Er schaute zwischen Dietrich und Barthel hin und her.

Dietrich ging in die Hocke und legte sein Ohr auf die Holzplanke des Decks, um nach Geräuschen drinnen zu lauschen. Bei dem Sturm war dieser Hörtest alles andere als zuverlässig. Er hielt sich das andere Ohr zu und konzentrierte sich. Nichts. Hieß das, dass sich niemand unter ihnen befand oder dass die Stinne so gut gedämmt war, dass man schlicht nichts hörte?

Er erhob sich wieder und griff nach dem Brecheisen. Dabei sah er Barthels skeptisch gerunzelte Stirn. Dennoch versuchte er, den Haken des Eisens in die Spalte zwischen Deck und Falltür zu führen. Vielleicht gelang es ihm, die Tür mit sanftem Hebeln zumindest ein kleines Stück anzuheben und zu prüfen, ob sich darunter Kabel befanden oder direkt etwas Explosives angebracht war. Doch die Spalte war zu schmal, er würde das Eisen nur mit grober Gewalt nutzen können.

Bedauernd schüttelte er den Kopf. »Zu riskant. Da müssen Leute ran, die sich damit auskennen.«

Er zückte sein Telefon, doch dann hielt er inne. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass Kestings Halbschwester mitbekam, was rund um die Stinne geschah. Dass sie angesichts von Dietrichs, Barthels und Ewalds Bemühungen bisher nicht eingeschritten war, mochte daran liegen, dass sie wusste, wie fruchtlos die bleiben mussten. Ein Heer von Sprengstoffspezialisten dagegen könnte zweifelsohne denselben unliebsamen Effekt haben wie ein großes Polizeiaufgebot.

Dietrich steckte das Handy wieder weg und erklärte seine Bedenken.

»Aber wir können doch nicht nichts tun«, sagte Bruno Ewald. Er holte sein Telefon hervor und begann, nach einer Nummer zu suchen.

»Wen wollen Sie anrufen?«, fragte Dietrich.

»Jonas Zepplin. Er ist Wehrführer bei der …«

»Ich weiß«, unterbrach Dietrich ihn. »Ich fürchte, Herr Zepplin ist auch auf der Stinne, und die komplette Feuerwehr zu benachrichtigen, hätte kaum andere Konsequenzen als Polizei und Sprengstoffexperten.«

Niedergeschlagen steckte Ewald das Handy wieder ein.

In diesem Augenblick legte sich ganz plötzlich der Wind, als wäre er müde und hätte eine Pause eingelegt. Es war nicht vollkommen still, die Boddenwellen rollten immer noch aufgepeitscht ans Ufer und durch das Schilf. Es lag eine eigentümliche Stimmung über dem Stück Land mit dem großen Schiff auf dem Trockenen.

Die drei Männer schauten um sich. Dann hörten sie es alle gleichzeitig: Ein schriller Schrei durchschnitt die Nacht.

Während Dietrich noch versuchte, ihn zu lokalisieren, folgte ein zweiter, viel näher. Unter ihnen aus der Stinne? Er blinzelte, sah im Geiste Kassandras schreckgeweitete Augen vor sich – und ging gleichzeitig mit Barthel blitzartig in die Hocke. Doch Barthel war schneller. Mit beiden Händen schnappte er sich die Axt und holte kräftig aus.

»Stopp! Halt! Nicht!«, brüllte da jemand aus der Ferne.

Aus den Augenwinkeln sah Dietrich, dass Barthel mit der Axt über seinem Kopf in einer Schrecksekunde fast das Gleichgewicht verloren hätte. Er fing sich wieder und ließ die Axt sinken.

Dietrich starrte nach unten, eine schwarze Gestalt kam auf dem Rasen zum Stehen und starrte zurück, und im selben Moment setzte der Sturm wieder ein. Die Gestalt stemmte sich dagegen an, lief zur Treppe, hastete herauf und war auch schon bei ihnen auf Deck.

»Lassen Sie das um Himmels willen bleiben«, fuhr der Mann Barthel an. Viel hätte nicht gefehlt, und er hätte ihm die Axt aus den Händen gerissen. Doch Barthel trat drohend einen Schritt auf ihn zu.

»Sagt wer?«

»Herr Kesting, was für eine Überraschung«, ging Dietrich dazwischen.

»Sie sind Arnold Kesting?«, fragte Barthel verblüfft, bevor der überhaupt zu einer Antwort kam.

»Die interessantere Frage ist …«, fing Dietrich an.

Da ertönte der Schrei wieder. Gedämpfter durch die Geräusche des Sturmes, dennoch war es unverkennbar dieselbe Stimme.

Barthel vergaß seine Irritation bezüglich Kestings Auftauchen, wandte sich der Luke zu und hob die Axt erneut.

Kesting griff ihm in die Arme. »Sie sollen das lassen!«

Beinah hätte Barthel mit der Axt nach ihm geschlagen. »Hören Sie denn nicht …?«

Diesmal ging nicht nur Dietrich, sondern auch Bruno Ewald dazwischen, mit Körpereinsatz und Worten.

»Harald!«, rief Ewald. »Das war bloß der Schrei von einem Fuchs! Ich hätt’s gleich erkennen müssen – mein Nervenkostüm ist leider gerade ziemlich dünn.«

Ganz langsam entspannte Barthel sich. »Ich … tut mir leid. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«

»Schon gut«, brummte Kesting, der sichtlich mitgenommen wirkte.

Auf den ersten Blick hätte Dietrich ihn nicht erkannt, wäre er ihm unerwartet auf der Straße begegnet. Kesting war noch immer groß und, soweit man es in der Dunkelheit erkennen konnte, auch noch immer recht attraktiv, allerdings trug er seine inzwischen ergrauten Haare sehr viel länger, und sein Gesicht zierte ein ebenso grauer Vollbart. Seine Stimme dagegen hatte sich nicht verändert.

»Sie wollen wissen«, fuhr er jetzt an Dietrich gewandt fort, »was ich hier mache und woher ich weiß, dass Sie hier sind.«

»Stimmt«, bestätigte Dietrich. »Meine einzige Erklärung ist, dass Sie über die Pläne Ihrer Schwester besser informiert sind, als Sie zugeben.«

»Leider falsch. Tatsächlich war Herr Johannsen so zuvorkommend, mich aufzuklären«, sagte Kesting.

»Leider falsch«, zitierte Dietrich ihn sarkastisch. »Herr Johannsen weiß gar nicht, dass wir hier sind.«

In Kestings Augen blitzte es auf, der Ausdruck darin ebenso verärgert wie damals, als er sich von Dietrich in die Mangel genommen sah. »Vielleicht nicht von Ihnen. Überprüfen Sie doch mal Ihre interne Kommunikation, dann erfahren Sie sicher, wer es ihm gesagt hat, sodass er es mir sagen konnte. Sonst wäre ich nämlich nicht hier.«

Rieka, dachte Dietrich. Sie hatte zwischenzeitlich bestimmt mit Bengt gesprochen. Dennoch würde er genau das tun, was Kesting geraten hatte, und es nachprüfen. Er trat ein paar Meter beiseite, um Bengt anzurufen.

Bengt war sofort dran. »Ja, Rieka hat’s mir erzählt, und ich hab’s an Kesting weitergegeben«, bestätigte er. »Hab kurz mit mir gekämpft, ob das klug ist, andererseits hast du ihn so im Auge. Besser, du weißt, wo er sich rumtreibt. Außerdem habe ich ihm gesagt, dass du mehr oder weniger privat da bist, um ihn nicht unnötig zu alarmieren. Ich …« Er hielt inne.

»Was?«, fragte Dietrich beunruhigt, während der Wind immer heftiger an ihm zerrte, sodass er sich an der Reling festhalten musste, und der Regen wieder einsetzte.

»Gerade kam eine Nachricht von Rieka, die du auch bekommen haben solltest. Sie schreibt, Kesting oder zumindest sein Handy war in Düsseldorf, als die Artikel seiner Schwester von ihrem PC aus verschickt wurden.«

Natürlich war es möglich, dass beide den Aufwand betrieben und ihre Handys gezielt falsch platziert hatten. Aber war Kesting wirklich der Komplize seiner Schwester? Es wäre in dem Fall sinnvoller gewesen, gar nicht in Erscheinung zu treten. Oder die Stinne zu beobachten und Margot Kleve über die Vorgänge zu unterrichten. Stattdessen hatte er die letzten Stunden auf der Autobahn zugebracht. Oder jemand anders mit seinem Handy, warnte Dietrichs innere Stimme. Er fuhr sich übers feuchte Gesicht.

»Wie sehen deine nächsten Schritte aus?«, fragte Bengt.

»Hören, was Kesting zu sagen hat. Er muss einiges über die Pläne seiner Schwester wissen, sonst hätte er Barthel eben nicht so vehement davon abgehalten, die Stinne in Stücke zu schlagen. Ich melde mich.«

Er ging zur Luke zurück, wo sich eine Diskussion zwischen Barthel und Kesting entsponnen hatte, der Bruno Ewald mit gerunzelter Stirn folgte und die Dietrich kurzerhand unterbrach.

»Es hat keinen Sinn, uns hier oben weiter dem Unwetter auszusetzen. Setzen wir uns in den Wagen, und da werden Sie, Herr Kesting, mir ein paar Fragen beantworten.« Er sah ihm an, dass er ungehalten etwas erwidern wollte, schnitt ihm aber mit einer entschiedenen Geste das Wort ab.

Kurze Zeit später saßen alle vier in Dietrichs Lexus, er hinter dem Steuer, Kesting auf dem Beifahrersitz, Barthel und Ewald hinten.

Kesting schien inzwischen weniger aufgebracht. Ruhig sagte er: »Fragen Sie.«

»Warum haben Sie Herrn Barthel gewarnt? Was wissen Sie über die Stinne?«

»Nichts Konkretes. Allerdings kenne ich meine Schwester. Margot ist eine sehr gute Journalistin, sie recherchiert überaus gründlich und verbeißt sich geradezu in ihre Themen. Zufällig habe ich mitbekommen, worüber sie in der letzten Zeit verschärft recherchiert hat – Sprengtechnik in allen möglichen Bereichen. Als ich sie danach fragte, sagte sie, das sei altes Material für einen Artikel, den sie vor Jahren geschrieben hätte. Dabei hat sie übersehen, dass eins der Bücher erst dieses Jahr erschienen ist. Ich fand das merkwürdig, habe aber nicht weiter nachgehakt. Diskussionen mit Margot führen in der Regel zu nichts, weil sie eine einmal gefasste Meinung oder eine einmal getätigte Aussage niemals ändert. Als Herr Johannsen sagte, dass dieses Schiff in Ihren Fokus geraten ist«, er deutete vage nach draußen, »habe ich versucht, Margots Mail, ihr Recherchethema und die Stinne auf einen Nenner zu bringen. Das ist natürlich rein spekulativ und möglicherweise sehr weit hergeholt …« Er ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen.

»Ich fürchte, das ist es nicht«, sagte Dietrich. »Zumindest in einem Teil der Stinne dürfte ziemlich sicher Sprengstoff verborgen sein. Wir wissen nicht, wo überall.« Er runzelte die Stirn. »Lassen die Recherchen Ihrer Schwester darauf schließen, ob sie selbst, vielleicht mit ein wenig Hilfe, fähig wäre, die Stinne sprengstoffmäßig zu verkabeln?«

Kesting hob die Schultern. »Margot ist Perfektionistin. Ich halte es nicht für ausgeschlossen. Aber so was geht ja nicht von heute auf morgen, insbesondere wenn das Schiff als Eventlocation umgebaut wurde. Sie kann sich schlecht hier hereingeschmuggelt haben, während die Arbeiten im Gange waren.«

»Hm«, machte Dietrich. Er holte sein Telefon hervor und das Foto von Margot Kleve aufs Display. »Ist das Ihre Schwester?«

Kesting warf nur einen kurzen Blick darauf und nickte.

»Und das hier?« Wieder hielt Dietrich ihm das Display hin, diesmal mit dem einzigen Foto von Nicola Hülskamp, das Rieka gefunden hatte.

Verwundert schüttelte Kesting den Kopf. »Nein. Ich habe nur die eine Schwester, und das ist die Frau auf dem ersten Bild. Wer soll das hier sein?«

Dietrich erklärte es ihm und die mögliche Schlussfolgerung dazu. »Sehen Sie bitte noch mal genauer hin.«

»Also, Margot ist zwar stur und eigenwillig, und – leider – befürchte ich, dass sie auch gefährlich sein kann, wenn ihr was im Weg steht, aber zwei Identitäten? Dazu muss man Leute kennen, die einen mit den nötigen Papieren, Bankkonten und was weiß ich versorgen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Margot über solche Beziehungen verfügt.«

So etwas hatte Dietrich bei seinen Nachforschungen über Margot Kleve ebenfalls nicht gefunden. Andererseits hatte er sie nicht so gründlich durchleuchtet, weil er dazu ursprünglich keine Notwendigkeit gesehen hatte.

»Vielleicht irre ich mich ja«, gab Dietrich zu. »Vielleicht kennen Sie Ihre Schwester aber auch nicht so gut, wie Sie denken. Zumindest ja noch nicht allzu lange, und die Hülskamp-Identität existiert bereits eine ganze Ecke länger. Bitte sehen Sie sich also das Foto noch mal an«, wiederholte er.

Mit einem Ausdruck von Wenn-Sie-unbedingt-meinen nahm Kesting das Telefon erneut zur Hand und vertiefte sich in das Bild. Als er aufschaute, sah er nachdenklich aus. »Ich bin immer noch nicht überzeugt. Aber ich würde es auch nicht mehr kategorisch ausschließen.« Er gab Dietrich das Handy zurück. »Welchen Unterschied macht es für die augenblickliche Situation, ob Margot diese Nicola engagiert hat oder es selbst ist?«

»Wenn Margot und Nicola ein und dieselbe Person sind und Ihre Schwester Sie hier sieht, könnte es eine Rolle spielen.« Die Frage ist nur, dachte Dietrich, ohne es auszusprechen, ob es sich positiv oder negativ auswirkt.

»Ist Nicola Hülskamp auf dem Schiff?«

»Das wissen wir nicht.«

Vom Rücksitz räusperte sich Harald Barthel. »Sie wird nicht riskieren, selbst in die Luft zu gehen, wenn auf der Stinne was Unplanmäßiges passiert.«

»Ha! Die is doch nich bi Trost!«, rief Bruno Ewald aufgebracht. »Möglich, dass sie leibhaftig sehen will, wie alle in Panik geraten. Da hat sie allerdings nicht mit Paul und Kassandra gerechnet. Ich wette, die tun alles, um ihr einen Strich durch die Rechnung zu machen.«

Kesting verzog spöttisch die Mundwinkel. »Da bin ich ganz bei Ihnen.«

Ewald gnickerte, während Barthel die Bemerkung offenbar weniger komisch fand. »Natürlich, Sie sprechen ja aus eigener Erfahrung«, sagte er bissig. »Ich verstehe bis heute nicht, wieso Kassandra …« Er stockte und schwieg.

»Wieso Kassandra was?«, fragte Kesting.

»Nichts. Vergessen Sie’s.«

»Es mag Ihnen schwerfallen zu glauben, aber ich mochte Ihre Tochter. Sie war alles andere als fair zu mir, jedenfalls habe ich das damals – ungerechtfertigterweise – so empfunden, und trotzdem mochte ich sie.« Er drehte sich zum Rücksitz um. »Geht es ihr gut in ihrem Leben?«

»Momentan eher nicht«, verschoss Barthel einen giftigen Pfeil. »Dank Ihnen. Mal wieder.«

»Ich bin nicht verantwortlich für das, was Margot tut, Herr Barthel. Ich hab sie nicht dazu angestiftet. Das wäre das Letzte, was ich getan hätte.«

»Weil Sie Kassandra ja so mögen«, murmelte Barthel unwirsch.

»Keine Ahnung, ob ich sie immer noch mögen würde«, gab Kesting gereizt zurück. »Ist ein paar Jahre her, dass wir uns gesehen haben. Ich hab mich verändert, und ich vermute, sie sich auch.«

Barthel wich seinem Blick nicht aus. »Und Ihre letzte Begegnung verlief für Sie ja auch alles andere als glücklich.« Dann schaute er zu Dietrich. »Wer sagt uns eigentlich, dass Herr Kesting nicht mit drinhängt und mich bloß deshalb davon abhalten wollte, die Luke einzuschlagen, um seine Schwester zu schützen? Entweder vor der Explosion oder vor der Polizei?«

Bruno Ewald kam Dietrich zuvor. »Niemand. Wir sind alle keine Hellseher oder Gedankenleser. Da es also erstens keiner wissen kann, wir zweitens Herrn Kesting nicht wegen eines bloßen Verdachts festnehmen können, drittens daher mit weiteren Diskussionen nur unsere Zeit vergeuden, die wir viertens besser investieren können, indem wir nach einer Lösung suchen, sollten wir uns fünftens dafür zusammentun. Was meinen Sie, Herr Dietrich?«

Dietrich hatte dem Schlagabtausch nur halb zugehört und die Minuten genutzt zu überlegen, ob und, wenn ja, wie Kestings Anwesenheit ihnen nützlich sein konnte.

Da meldete sich sein Telefon. Die Kollegen waren bei Heinz Jungs Haus eingetroffen, wie abgesprochen mit einem kleinen Team, und suchten akribisch nach den winzigsten Hinweisen. Im Wohnzimmer hatten sie bereits Reste von Paketklebeband gefunden und in einer Ecke einen silbernen Anhänger mit einer kaputten Öse. Der konnte da schon länger liegen oder auch im Verlauf des Kampfes abgerissen worden sein. Jost Pfennig von der Spurensicherung fragte, ob jemand das Schmuckstück auf die Schnelle identifizieren könne. Die Vorstellung von Heinz Jung mit einer Halskette war absurd, aber es war natürlich denkbar, dass der Anhänger von Kassandra stammte, die Silberschmuck trug. Falls ja, sparte das der Kriminaltechnik Arbeit, falls nicht, hätten sie möglicherweise Fingerabdrücke und DNS vom Täter. Jost schickte Dietrich das Foto eines silbernen Achtecks mit dunklem Inlay aufs Handy, das er Barthel und Ewald zeigte.

Ewald hob gleich die Schultern. »Ich achte nie auf Schmuck, auch nicht bei Kassandra, außer bei ihren Bernsteinstücken.«

»Herr Barthel?«

Harald Barthel nahm das Telefon und starrte auf das Bild. Es war ihm anzusehen, wie dringend er sich wünschte, in die eine oder andere Richtung Auskunft geben zu können, doch am Ende schüttelte er bedauernd den Kopf. »Kassandra hat etwas, das so oder ähnlich aussieht, aber ich kann nicht beschwören, dass es sich um dasselbe Stück handelt.«

»Würde ein Blick in ihre Schmuckschatulle helfen? Wenn das, woran Sie sich erinnern, dort liegt, können wir davon ausgehen, dass dies hier nicht ihr gehört.«

Barthel guckte zweifelnd. »Schon, aber kostet uns das nicht zu viel Zeit?«

»Solange wir nicht wissen, wie es in der Stinne aussieht – und wir haben ja nicht mal die alten Konstruktionspläne, die wenigstens ein bisschen helfen könnten –, sind uns hier ohnehin die Hände gebunden.«

Barthel nickte und wollte aussteigen. »Dann mache ich mich auf den Weg.«

Bruno Ewald gab ein Geräusch von sich, und Barthel hielt in der Bewegung inne. »Ist dir doch noch was zu dem Anhänger eingefallen?«

»Nein, aber zu den Konstruktionsplänen der Stinne.« Er schlug sich vor die Stirn. »Dass ich daran nicht eher gedacht habe! Durchaus denkbar, dass Paul so was in seinem Fischland-Archiv hat. Wir müssen nachsehen!«

Dietrich konnte Ewalds Ärger auf sich selbst nachvollziehen. Ihm ging es ähnlich, es hätte ihm ebenso einfallen müssen. Er ließ den Motor an.

»Ich liefere Sie, Herr Barthel, bei Kassandras Haus ab, anschließend fahre ich mit Herrn Ewald zu Paul, und wir suchen gemeinsam nach den Plänen. Zu zweit geht das schneller.«

»Jemand sollte bei der Stinne bleiben«, schaltete sich Arnold Kesting ein. »Das kann ich übernehmen, und sobald sich hier was tut, benachrichtige ich Sie.«

Prinzipiell war das ein guter Vorschlag. Dietrichs Misstrauen Kesting gegenüber hatte sich zwar etwas gelegt, aber nicht genug, um ihn aus den Augen zu lassen.

»Sie kommen mit Herrn Ewald und mir«, sagte er. Ein ungutes Gefühl im Magen blieb, als er wendete und die Stinne im Rückspiegel immer kleiner wurde.

Er setzte Barthel in der Lindenstraße ab und registrierte die erfreulich unauffälligen zwei Wagen der Spurensicherung, die ebenso gut Urlaubern gehören konnten.

»Sobald ich den Schmuck durchgesehen und Ihren Kollegen Bescheid gegeben habe, laufe ich zur Stinne zurück«, sagte Barthel, dem es offenbar genauso ging wie Dietrich, dann schlug er die Tür zu und hechtete durch den Regen zu Kassandras Tür.

Dietrich wartete nicht, bis er im Haus verschwunden war, sondern fuhr sofort weiter Richtung Strandstraße. Das unangenehme Schweigen im Wagen wurde schließlich von Bruno Ewald gebrochen.

»Kassandra und Paul haben mir die Geschichte damals so oft erzählt, dass ich fast glaube, selbst dabei gewesen zu sein, Herr Kesting.«

»Tja, ich war dabei und kann nicht behaupten, dass es sich gelohnt hätte.«

Aus den Augenwinkeln sah Dietrich, dass Kesting spöttisch den Mund verzog.

»Ich erinnere mich übrigens an Sie«, fuhr Kesting fort. »Sie standen auf der Seebrücke, angelten und machten eine kryptische Bemerkung.«

»Tat ich das? Kann ich mir gar nicht denken. Was sagte ich denn?«

»Kassandra wünschte Ihnen einen guten Fang, darauf wünschten Sie ihr dasselbe – ›in den richtigen Gewässern‹. Ich fand das sehr zweideutig und fragte mich kurz, ob das auf mich gemünzt war.«

Bruno Ewald lachte. »Jein. Ich wusste von Paul, auch wenn Kassandra davon keine Ahnung hatte, dass sie dabei war, diesen Mord aufzuklären. Entsprechend wünschte ich ihr, den Täter zu fangen. Und …«

»Was?«, hakte Kesting nach, als Bruno zögerte, und Dietrich ertappte sich dabei, dass er ebenso neugierig auf die Antwort war.

»Kassandra stand damals zwischen zwei Männern – Sie nicht mitgerechnet.« Dietrich hörte Ewalds Schmunzeln bei diesen Worten. »Ich hoffte, sie würde sich für den richtigen entscheiden.«

»Paul Freese. Was ich zugegebenermaßen damals überhaupt nicht kapiert habe.«

»Hat sie ja selbst eine ganze Weile nicht kapiert«, sagte Ewald amüsiert, um gleich darauf ernst zu werden, als sie vor Pauls Haus hielten. »Hoffen wir, dass wir in seinem Archiv fündig werden.«

Ewald führte sie hinab in den Keller, wo unzählige Kisten und Kartons lagerten und in Regalen Akten- und Zeitschriftenordner, Bücher, Broschüren und Fotoalben untergebracht waren. Zielstrebig trat Ewald zu einem Regal an der linken Wand und ließ seinen Blick über beschriftete Aufbewahrungsboxen und Ordner wandern.

»Das ist alles Material übers Fischland?«, fragte Kesting. Er klang beeindruckt.

»Hm«, machte Ewald. »Es gibt nichts, das Paul nicht im Laufe von Jahrzehnten zusammengetragen hat. Wenn er eines noch sehr fernen Tages sterben sollte, hoffe ich, dass die Gemeinde diesen einmaligen Schatz bewahrt.«

»Das sollte doch selbstverständlich sein«, sagte Kesting.

Ewalds Gesichtsausdruck war schwer zu deuten, doch dann leuchteten seine Augen plötzlich auf. Er zog einen Karton heraus, auf dem »Seenotrettung, 1965 bis 1970« stand.

»Die Stinne ist im Februar 1965 in Wustrow gestrandet. Fangen Sie beide schon mal hiermit an«, sagte er. »Ich suche inzwischen das Material zur Stinne, das Paul gesondert archiviert hat.«

Dietrich wäre gern sorgsamer mit dem Inhalt des Kartons umgegangen – vergilbter Briefverkehr auf brüchigem Papier, Informationsmaterial der damaligen Seenotrettung, Zeitungsartikel, Postkarten und Fotos. Glücklicherweise hatte Paul alles in Klarsichthüllen verstaut, dennoch tat das eilige Durchsehen und Auf-dem-Kellerboden-Stapeln den Dokumenten sicher nicht gut. Leider heiligte der Zweck nicht mal die Mittel, denn sie fanden nichts, das Konstruktionsplänen auch nur nahekam.

»Wahrscheinlicher ist ja auch, dass Herr Freese die Konstruktionspläne beim Material über die Stinne selbst aufbewahrt«, sagte Kesting. »Falls er überhaupt so was hat. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist das doch ein dänischer Schoner gewesen. Etwaige Pläne müssten bei einer Werft in Dänemark lagern.«

»Stimmt«, sagte Bruno Ewald, der eben einen weiteren Karton zu ihnen hinüberschob. »Paul ist allerdings ein sehr akribischer Sammler und gibt selten Ruhe, bevor er nicht alles hat, was mit einem Objekt der Fischländer Geschichte zu tun hat, auch wenn dieses Objekt anderen Ursprungs ist.« Er öffnete den Karton, der kleiner und weniger voll war, aber immer noch reichlich Material enthielt, diesmal ausschließlich über die Stinne, wie die Beschriftung an der Seite verriet.

Ganz oben lag ein ebenfalls in Klarsichthülle gestecktes Blatt mit den Eckdaten des Schiffes:

»Ehemals: Alma, Carolus, Duvan, Pepita; Reg.-Nummer: 6829; Erkennungszeichen: NWKH; Brt: 131,05, Netto: 110,72; Baujahr: 1919; Bauort: Svendborg/Dänemark; Baumaterial: Eiche, Buche.«

Darunter eine Aufzählung der Eigentümer von 1919 bis heute, die letzte Eintragung lautete: »Dieter Hellwerth, Holz-Steine-Stahl GmbH, Ulm«.

»Das ist ja topaktuell«, stellte Dietrich fest.

»Natürlich«, murmelte Ewald, der sich daranmachte, den Inhalt des Kartons zu leeren.

Leider wurden sie auch hier nicht fündig. Es gab zwar aus den 1990er Jahren einige Korrespondenz, die Paul mit diversen dänischen Reedereien geführt hatte, doch war alles im Sande verlaufen, zumindest, was seine Anfrage nach Konstruktionsplänen betraf.

»Wichtiger für unsere Zwecke wären ohnehin die Umbaupläne aus den Sechzigern von der Demusa.« Ewald tippte auf den Namen des Eigentümers von 1965 bis 1973. »Deren Generaldirektor hatte damals nämlich die Idee, aus der Stinne ein Ferienquartier zu machen.«

Dietrich nickte. »Es wundert mich, dass Paul zu denen nicht auch Kontakt aufgenommen hat oder zu den Folgeeigentümern, bei denen sich die Umbaupläne befunden haben.«

»Vielleicht hat er das ja, ohne dass er den ganzen Kram aufbewahrte, weil es zu nichts führte«, sagte Kesting nachdenklich. »Könnte doch sein, dass die Pläne ausschließlich von einem Eigentümer zum anderen weitergegeben wurden und Fremde nie Zugriff darauf hatten. Man müsste sich mit diesen Leuten aus«, er griff nach dem Datenblatt, »Ulm in Verbindung setzen.«

»Haben wir ergebnislos versucht«, sagte Dietrich. Ohne große Erwartung holte er sein Telefon hervor, um zu überprüfen, ob er einen Rückruf von Hellwerth verpasst hatte. Natürlich nicht.

Ewald sprach indessen schon weiter. »Mir will es trotz Ihres berechtigten Einwands, Herr Kesting, nicht in den Kopf, dass Paul so überhaupt nicht erfolgreich bei seinen Anfragen gewesen sein soll, und ich bin tatsächlich sicher, dass er gefragt hat. Die Familie, der die Stinne die letzten dreißig Jahre gehörte, war eigentlich sehr aufgeschlossen, Paul kannte sie außerdem gut.«

»Dann gab es offenbar trotzdem Grenzen, oder er hat diese sensiblen Unterlagen anderswo aufbewahrt.«

Bruno seufzte. »Paul hat keinen Safe.«

»Wir können sein Archiv aber nicht ewig von oben nach unten kehren«, sagte Dietrich. »Im Gegenteil, wir haben schon viel zu viel Zeit verschwendet.« Er sah, dass Ewald verärgert die Stirn runzelte. »Das war kein Vorwurf, Ihr Einfall war an sich großartig.«

»Hat nur leider nicht gefruchtet«, brummte Ewald. »Fahren wir zurück?«

Dietrich nickte. »So schnell wie möglich.« Sein schlechtes Gefühl, die Stinne quasi sich selbst überlassen zu haben, wuchs von Sekunde zu Sekunde. »Paul wird es verschmerzen, dass wir nicht wieder aufgeräumt haben.« Dabei konnte er nur hoffen, dass Paul später überhaupt in der Lage sein würde, etwas zu verschmerzen.

Draußen hatte der Regen nachgelassen. Die Scheibenwischer quietschten, als Dietrich endlich wieder auf die Strandstraße fuhr. Er stellte sie aus und hörte dabei das Telefon in seiner Jacketttasche dudeln. Da diesmal Bruno Ewald auf dem Beifahrersitz saß, bat er ihn, es herauszuholen und ranzugehen.

»Harald«, murmelte Ewald nach einem kurzen Blick auf das Display. »Ist was passiert? Wir sind gerade unterwegs zurück zur Stinne.«

Dietrich konnte nicht hören, was Barthel antwortete, aber je länger Ewald schwieg und nur zuhörte, desto unruhiger wurde er.

»Alles klar, warte am besten bei Kassandra, wir holen dich ab«, sagte Ewald schließlich und beendete das Gespräch. »Harald hat wie wir länger für seine Suche gebraucht, weil Kassandra ihren Schmuck an zig Orten aufbewahrt statt schön geordnet in einer Schatulle. Immerhin hat er den Anhänger gefunden, an den er sich erinnerte, und das Ihren Kollegen gerade mitgeteilt. Er steht jetzt in der Strandstraße, wir können ihn da einsammeln.«

Ein kleiner Lichtblick, dachte Dietrich, besser als nichts. Falls Fingerabdrücke und DNS auf dem Anhänger gesichert werden konnten und derjenige, der Heinz Jung verschleppt hatte, danach im Polizeilichen Informationssystem gefunden wurde, hatten sie eine erste Spur.

Kurz darauf saß Barthel bei Kesting auf dem Rücksitz. Diesmal entbrannte keine Diskussion zwischen ihnen, es blieb still, bis sie die Lichtung am Bodden erreichten, an deren Rand Dietrich hielt.

»Da!«, rief Barthel, als sie ausgestiegen waren, und deutete aufgeregt zur Stinne. »Es bewegt sich was hinter der Tür, das Licht ist anders! Seht ihr das auch?«

Dietrich kniff die Augen zusammen. Ein geisterhafter Schatten schien am Bullauge vorbeizuhuschen.

Wie auf Kommando liefen Barthel und Ewald los, Kesting dagegen setzte nur langsam einen Schritt vor den anderen, und natürlich hatte er damit vollkommen recht.

»Stehen bleiben!«, rief Dietrich.

Ewald und Barthel hielten jäh an.

»Wir dürfen nichts überstürzen«, sagte Dietrich, als er mit Kesting herangekommen war. »Während unserer Abwesenheit kann hier sonst was geschehen sein, und dadrin«, er deutete zur Stinne und vage in Richtung des Lichts aus dem Bullauge, »müssen nicht zwingend Kassandra und Paul auf uns warten. Möglicherweise läuft auch die Hülskamp durch die Gänge oder«, er wandte sich an Kesting, »Ihre Schwester.«

Kesting nickte. »Das ging mir auch durch den Kopf, allerdings leider keine Lösung dafür, wie wir das erkennen können.«

»Sie sind die Lösung«, stellte Dietrich fest. »Wären Sie bereit, sich bis zur Tür vorzuwagen und … anzuklopfen? Sollte Ihre Schwester an Bord sein – oder die Hülskamp in deren Auftrag –, wird niemandem etwas geschehen. Ihre Schwester wird Sie nicht gefährden. Sie könnten sogar mit ihr sprechen und sie im besten Fall zum Aufgeben bewegen.« Nicht dass Dietrich sich ernsthaft der Hoffnung hingab, dass Kesting damit Erfolg hatte.

»Ich kann’s versuchen, obwohl ich nicht glaube, dass sie sich von mir was sagen lässt«, brachte Kesting Dietrichs eigene Bedenken vor. Dann schürzte er die Lippen. »Wenn Sie mich losschicken, heißt das, Sie trauen mir?«

»Sie gehen nicht allein«, gab Dietrich zurück. »Ich werde ein Stück hinter Ihnen stehen, außerhalb des Blickfelds desjenigen, der hinter dem Bullauge mit Ihnen redet, und hören, was Sie sagen.«

Kestings Blick drückte gleichzeitig Frustration und Spott aus. »Klar.« Er drehte sich um.

»Moment«, schaltete Barthel sich ein. »Was sollen wir tun?«

»Beobachten«, sagte Dietrich. »Wenn sich was Verdächtiges tut, das wir direkt bei der Stinne nicht mitbekommen, warnen Sie uns.« Er tippte Kesting auf die Schulter. »Los geht’s.«

Langsam näherte sich Kesting der Stinne, Dietrich folgte mit einigem Abstand. Dabei sah er sich um und versuchte gleichzeitig, auf verräterische Geräusche vom Schiff zu achten, doch das war bei dem stürmischen Wetter vergebliche Liebesmüh. Vor ihm erklomm Kesting die Außentreppe. Dietrich wartete einen kleinen Augenblick, bis er ihm wiederum folgte und dann unterhalb eines dunklen Fensters stehen blieb, als Kesting an seinem Ziel angekommen war. Kesting schaute durch das Bullauge, schien unsicher, was er tun sollte. Er hob zögernd die rechte Hand und klopfte zunächst zaghaft, dann kräftiger an die runde Scheibe des Bullauges.

»Hallo! Können Sie mich hören?«

Dietrich wünschte, er würde sehen, was Kesting sah.

Drinnen war dessen Klopfen anscheinend unbemerkt geblieben. Er versuchte es erneut, hämmerte nun regelrecht gegen das Bullauge.

»Hallo! Hören Sie mich?« Lauter diesmal, wiederholtes Hämmern. »Hallo, dadrin! Ich …« Abrupt brach er ab.