11
Kassandra ließ sich von Paul in den Arm nehmen und barg ihr Gesicht an seiner Schulter. Sie fühlte sich wie betäubt. Was hatte sie sich bei diesem sinnlosen Ausbruch gedacht, die Tür mit dem Stuhl zu attackieren? Der Spiegel daran war zerbrochen, doch die Tür selbst hatte – natürlich! – ihrem hitzigen Angriff standgehalten. Hatte sie ernsthaft geglaubt, dass sie Nicola mit purer Wut beikommen und Heinz helfen konnte? So schnell, wie der Zorn in ihr emporgekocht war, so schnell verrauchte er und machte Verzweiflung Platz.
»Das gibt’s doch nicht!«, hörte sie Jonas sagen. Es folgte ein Geräusch, dass sie nicht deuten konnte, und es war ihr auch herzlich egal, sie wollte nichts mehr sehen und nichts mehr hören. Dann erklang ein Aufschrei und ein »Kassandra, du bist großartig!«.
Endlich drehte sie sich um und sah, wie Jonas seine Hand von einem Hebel nahm, der zuvor vom Spiegel verdeckt gewesen sein musste. Er schob die schon einen Spalt geöffnete Tür ganz nach rechts in die Wand zurück. Dahinter lag der Treppenaufgang.
Paul schloss wieder die Arme um sie und küsste sie auf die Stirn. »Du hast es geschafft, Liebes.«
Jonas machte den Anfang und stieg langsam die Treppe hoch, die zum Gang mit den Kabinen führte, der Rest beobachtete das Ganze zunächst nur. Überschwängliche Erleichterung und Euphorie waren Vorsicht gewichen. Wer konnte wissen, welche Fallen selbst in den Stufen lauerten? Erst als Jonas sicher oben angekommen war, folgten die anderen.
Kassandra warf einen Blick zurück zum Speisesaal, bevor sie einen Schritt auf die Treppe setzte. Von hier aus konnte sie die beiden Toten nicht sehen, aber das Bild, das Raimund und Magnus Brentano boten – auf dem Boden, wie aufgebahrt –, hatte sie dennoch lebhaft vor Augen.
»Was wird uns oben erwarten?«, fragte sie Paul.
»Die nächsten Geheimnisse der Stinne. Brentano muss sie wenigstens zum Teil gekannt haben, sonst hätte er wegen der Kabinen nicht so seltsam reagiert«, gab er zurück. »Leider kann er uns nichts mehr verraten.«
Mit einem Mal staute es sich auf der Treppe, Gemurmel wurde laut.
»Was ist?«, rief Mike nach vorn. »Doch nicht noch eine Tür?«
»Wie man’s nimmt«, rief Jonas zurück. »Keine, die uns den Gang zu Kabinen, Kapitänskajüte und zum Eingang der Stinne versperrt.«
»Das ist doch super, worauf wartest du noch, Jonas? Mach auf, ich bin sicher, wir alle wollen nur noch raus hier«, sagte Violetta, die hinter Mike stand.
»Würde ich gerne.«
»Warum …?«
»Weil«, ließ sich Gerlinde vernehmen, »die Tatsache, dass wir nass vom Regen und durchgepustet vom Sturm werden, dann unser geringstes Problem ist.«
Erst jetzt nahm Kassandra wahr, dass wieder Geräusche von draußen zu hören waren. Sehr gedämpft, aber recht eindeutig. Wind pfiff um die Stinne, das kaum wahrnehmbare Trommeln über ihnen musste der Regen sein, der aufs Deck prasselte.
Mike drängelte sich vorbei nach vorn.
»Oh, fuck«, hörte Kassandra ihn fluchen. »Hey, Pechstein«, rief er dann, »sehen Sie sich das mal an. Sie sind doch Experte.«
»Sprengstoff?«, wisperte Kassandra. Seltsamerweise verspürte sie weder Überraschung noch Schock. »Echt dieses Mal?«
»Ziemlich sicher echt, fürchte ich«, sagte Paul. »Sonst wären wir im Nullkommanichts draußen, und das ist meilenweit entfernt von Nicolas Absicht.« Er schob sich mit Kassandra nach oben durch, vorbei an Anni, Liza und Jens, die offensichtlich keinen Wert darauf legten, sich die nächste Katastrophe anzusehen, und freiwillig zurückblieben. Anni hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, und Kassandra sah noch, wie sie wieder nach unten taumelte, auf die letzte Treppenstufe plumpste und sich gegen die Wand sinken ließ, als hätte sie alle Hoffnung verloren.
Der Eingang war mit einem Sicherheitsschloss versehen, das die gesamte Breite der Tür einnahm. Über der Tür, nun wie alles andere befreit von goldenem Samt, saß ein kleiner grauer Kasten ähnlich dem unten im Speisesaal. Von der Oberseite des Kastens lief ein Kabel an der Kante zwischen Decke und Wand bis zum Gang und dort weiter ins hintere Drittel, jenseits der Treppe, wo es in einen weiteren Kasten neben einer Luke mündete. Diese Luke führte höchstwahrscheinlich aufs Deck der Stinne, doch allein der Anblick der Verkabelung verbot es, das nachzuprüfen – selbst wenn die Luke nicht noch zusätzlich von einem schweren Metallriegel gesichert gewesen wäre, der ebenfalls mit dem Kasten verbunden war.
Von der Unterseite des Kastens am Eingang liefen rechts zwei Drähte entlang der Scharniere und links zwei über die Klinke zum Boden, von dort weiter auf beiden Seiten des Ganges, wo sie zu Beginn des Abends noch von Fußleisten verborgen gewesen waren. Je einer der vier Drähte führte zu einer der Kabinen und verschwand in der kleinen Ritze zwischen Tür, Zarge und Boden.
Pechstein wandte sich an Paul. »Haben Sie noch den Schlüssel zu dem Kasten unten? Das Schloss an diesem sieht identisch aus, ich würde mir das Innenleben von dem Ding gerne näher ansehen.«
»Hab ich leider stecken lassen.« Paul wollte losziehen, doch Kassandra hielt ihn zurück.
»Ich mach das«, sagte sie schon im Gehen. »Bei der Gelegenheit schau ich nach Anni, sie war eben völlig fertig.«
»Verplempern Sie keine Zeit mit der Hysterikerin«, rief Pechstein ihr nach. »Der Schlüssel ist wichtiger als Befindlichkeiten.«
In der Sache mochte Pechstein recht haben, seine Wortwahl und sein Tonfall aber waren unangemessen. Das zu sagen, hätte jedoch ebenfalls Zeit verplempert, also sparte sich Kassandra jeden Kommentar.
Liza und Jens kamen ihr auf der Treppe entgegen. Anscheinend ließ ihnen doch keine Ruhe, was oben geschah. Sonst war niemand da.
»Wo ist Anni?«, fragte Kassandra.
Jens zuckte mit den Schultern, Liza deutete mit dem Daumen über ihre Schulter zurück. »Im Speisesaal. Ziemlich gruselig. Was will sie da mit den beiden Toten?«
Gute Frage. Bisher hatte Kassandra bei Anni keinen Hang zum Makabren bemerkt. Aber vielleicht war ihr ja etwas eingefallen, das sie überprüfen wollte?
Als Kassandra den Gastraum betrat, stand Anni vor Raimund und Brentano und starrte auf sie hinab. Sie wirkte weder schockiert noch ängstlich, bloß grüblerisch. Dann neigte sie ganz leicht den Kopf, ein Schatten fiel auf ihr Gesicht. Unwillkürlich entwich Kassandra ein verblüffter Laut, der Anni veranlasste, sich zu ihr umzudrehen.
Kassandra blinzelte. Es musste der Schatten gewesen sein, durch den Annis Züge kurz einen erschreckend boshaften Ausdruck angenommen hatten. Als sie Kassandra jetzt ansah, war sie verhuscht wie immer. »Oh, Kassandra. Du findest es bestimmt furchtbar, dass ich hier … Aber … Es ist so … schrecklich, das alles, und gleichzeitig so unwirklich. Ich musste mich mit eigenen Augen noch mal überzeugen, dass ich nicht in einem Alptraum stecke.«
»Ich wollte auch, es wäre einer«, erwiderte Kassandra.
»Wer nicht?«, sagte Anni. »Du kanntest diesen … Raimund, oder? Ich meine, ihr alle … ihr Fischländer … ihr kanntet ihn.« Vage deutete sie auf seine Leiche. »Hat er etwas getan, weshalb er den Tod verdient hätte?«
»Wie kommst du darauf?«
»Ich hab mitbekommen, wie er sich mit Herrn Pechstein unterhielt. Demnach war er im Gefängnis.«
»Er hat selbst jemanden getötet.«
Annis Gesicht verhärtete sich, und diesmal war kein Schatten daran schuld. »Dann …«
»Nichts dann«, unterbrach Kassandra sie. »Ganz davon abgesehen, dass es in diesem Land glücklicherweise weder Todesstrafe noch Selbstjustiz gibt, wurde Raimund rechtskräftig wegen Totschlags verurteilt und hat seine Strafe abgesessen.« Während sie sprach, ging sie hinüber zu dem Holzbalken, in dem sich der Kasten verbarg, und zog den kleinen Schlüssel ab. Sie spürte Annis prüfenden Blick in ihrem Rücken.
»Er hätte also eine zweite Chance statt den Tod verdient?«
Den Schlüssel in der Hand wandte Kassandra sich wieder um. »Kanntest du Josef Kind?«, fragte sie, einer Eingebung folgend.
Anni war zur Treppe zurückgetreten, ihr Ausdruck lag im Dunkeln. »Wen?«
»Den Kunstgutachter, den Raimund getötet hat«, erklärte Kassandra, mit einem Mal unsicher, ob diese Erklärung nötig war.
»Nein«, sagte Anni. »Ich hatte nie genug Geld, mir Kunst an die Wand zu hängen.«
»Er hat auch an der Schleswig-Holsteinischen Akademie für Bildende Kunst in Kiel gelehrt«, ergänzte Kassandra. Auf den Gedanken, dass jemand Josef Kinds Tod rächen können wollte, war sie bisher nicht gekommen. Soweit sie gewusst hatten, war dessen uneheliche Tochter Tina Bodenstedt seine einzige lebende Verwandte gewesen.
»Ich hab nie studiert und war nie in Kiel«, sagte Anni. »Warum fragst du mich nach dem Mann?« Da riss sie verstehend ihre Augen auf. »Du glaubst, dass ich …?« Ihr fehlten sichtlich die Worte.
Wahrscheinlich ist sie sogar zu Recht sprachlos, dachte Kassandra. Wenn es nämlich um Josef Kind ginge, warum wurden dann die bestraft, die dazu beigetragen hatten, dass die Täter hinter Gitter kamen? Allen voran Heinz, der gerade am schlimmsten in der Bredouille steckte. Ungewollt stieg wieder das Bild des wehrlosen, gefesselten, zusammengeschlagenen Heinz vor ihrem inneren Auge auf. Sie zwang sich, es wegzublinzeln. Sie musste endlich den Schlüssel nach oben bringen!
»Kassandra?«, rief Paul da auch schon in einer Mischung aus Sorge und Ärger. »Wo bleibst du denn?« Sie hörte ihn auf der Treppe.
»Komme!«
»Denkst du das wirklich?«, fragte Anni leise. Ihre Stimme zitterte. Vor Wut, weil Kassandra sie durchschaut hatte? Oder aus Entsetzen ob des bloßen Gedankens, jemand könne ihr so etwas zutrauen?
»Nein, natürlich nicht«, sagte Kassandra.
Sie schob sich an Anni vorbei und reichte Paul, der am Fuß der Treppe angekommen war, den Schlüssel. Er schaute sie fragend an, doch ihr Blick sagte ihm deutlich: später.
»Kommst du mit hoch?«, fragte Paul an Anni gewandt. »In Gesellschaft lässt sich das besser ertragen.«
Anni sah zwischen ihm und Kassandra hin und her, richtete ihre Worte dann an Kassandra. Da war kein Zittern mehr in ihrer Stimme, sie klang bestimmt. »Ich mochte Magnus.« Ohne eine Antwort abzuwarten, erklomm sie vor Paul und Kassandra die Treppe.
Paul fragte nicht weiter nach, sondern beeilte sich, nach oben zu kommen. Kassandra folgte langsamer. Falls Anni Nicolas Komplizin war, wäre sie auch an Brentanos Tod beteiligt, und sie hatte eben sehr überzeugend geklungen. Entsprechend ergab das wenig Sinn. Genau genommen ließ sich Magnus Brentanos Tod überhaupt schwer einordnen, wo doch seit dem Video von Heinz wieder alles darauf hindeutete, dass es um das damalige Verbrechen auf dem Fischland ging.
Ratlos wischte sich Kassandra über die Stirn und beobachtete, wie Gunnar Pechstein von Paul den Schlüssel entgegennahm. Er schien zu passen, doch dann ließ er sich nicht drehen.
»Wäre auch zu einfach gewesen«, meinte Pechstein. »Der Vollständigkeit halber sollten wir probieren, ob man damit den Kasten an der Luke aufbekommt.« Er holte einen Stuhl, der ganz hinten im Gang stand, und stieg hinauf. »Fürs Protokoll: Dieser Kasten ist mit vier Schlössern gesichert«, sagte er. Nacheinander probierte er jedes Schlüsselloch, doch nirgends ließ sich der Schlüssel drehen. Er sprang vom Stuhl. »Kann ja sein, dass wir es wieder mit einem Fake zu tun haben wie bei der Granate. Kann aber auch nicht sein, daher rate ich dringend davon ab, an Kabeln oder Kästen rumzuexperimentieren.«
»Sehe ich auch so«, stimmte Paul zu. »Ist übrigens schon jemandem aufgefallen, dass die Kapitänskajüte als einziger Raum nicht verdrahtet ist?« Er griff nach der Klinke.
»Halt!«, schrie Gerlinde auf. »Bist du verrückt? Wenn das eine Falle ist?«
»Du meinst, wir könnten alle verkabelten Türen gefahrlos öffnen, aber die eine, die ungefährlich aussieht, geht in die Luft?«, fragte Paul.
»Könnte rein theoretisch sein«, sagte Jens und legte beruhigend seinen Arm um Gerlinde.
»Wir müssen irgendwo beginnen«, sagte Kassandra. Zwar war ihr ebenso unwohl bei dem Gedanken, aber sie konnten nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten. Dann war es zu spät. Für jemanden aus ihren Reihen und für Heinz.
»Nicht mit so was Offensichtlichem«, widersprach Gerlinde erneut.
»Was schlägst du stattdessen vor?«, wollte Liza wissen.
Ratlos zuckte Gerlinde die Schultern.
»Paul und Kassandra haben recht«, sagte Jonas. »Riskieren wir’s.«
»Nein!«, kam es entschieden von Mike. »Ich finde, Gerlinde liegt richtig.«
Seufzend schüttelte Jonas den Kopf. »Und jetzt? Sollen wir abstimmen? Ernsthaft?«
»Wieso nicht? Wer für Pauls Vorschlag ist, hebt die Hand.« Herausfordernd schaute er in die Runde.
Pauls und Kassandras Hände waren schnell oben, ebenso Jonas’ Hand. Zögernder folgten Violetta und Marlene.
»Wer stimmt Gerlinde zu?«, fragte Mike grinsend und bereits triumphierend. Seine Hand fuhr in die Höhe, die von Jens und Gerlinde folgten, Letztere mit einem entschuldigenden Blick in Richtung Paul. Dann hoben auch Anni und schließlich Liza die Hand.
Patt.
Ärgerlich fuhr Mike Gunnar Pechstein an. »Enthaltungen ergeben in dieser Situation keinen Sinn. Also?«
Pechstein warf einen erneuten Blick auf die Kabelage und stellte sich auf Mikes Seite. »Ich habe zwar vorerst keinen anderen Plan, aber das sieht mir zu professionell aus, und Frau Hülskamp ist entschieden zu durchgeknallt, als dass ich das Risiko für kalkulierbar halte.«
Zufrieden nickte Mike. »Sechs zu fünf. Wir rühren die Kapitänskajüte nicht an.«
Liza räusperte sich. »Doch. Tut mir leid. Ich hab’s mir anders überlegt.« Entschlossen verließ sie ihre Gruppe und kam rüber zu Pauls.
»Du kannst nicht einfach …«, fing Mike entrüstet an.
»Sie kann«, unterbrach Paul ihn und wandte sich an alle. »Falls jemand einen brauchbaren Gegenvorschlag hat – jederzeit. Aber wie Herr Pechstein bereits betonte, ist Nicola durchgeknallt. Ausreichend, um uns in absehbarer Zeit mit dem nächsten Mord zu konfrontieren, und dem sollten wir entgegenwirken.« Er klopfte auf seine Armbanduhr.
In Mikes Gruppe wurde Gemurmel laut, aber niemand kam mit etwas Konstruktivem.
»Na schön, vielleicht haben Sie recht«, sagte Pechstein schließlich. Er deutete zur Kajüte. »Gerne nach Ihnen.«
Kassandras Herz raste wie wild, als Paul erneut nach der Klinke griff. Sie spürte Violetta dicht neben sich, deren Finger sich mit ihren verkeilten. Kassandra musste sich nicht nach ihrer Freundin umsehen, um zu wissen, dass auch sie wie hypnotisiert Pauls Bewegungen folgte.
Ganz langsam drückte Paul die Klinke nach unten. Nichts geschah. Sein Adamsapfel hüpfte, er holte tief Luft, schloss kurz die Augen und drückte schließlich ebenso langsam die Tür auf, Millimeter um Millimeter. In dem kleinen Flur hätte man eine Stecknadel fallen hören können, wäre draußen nicht der Sturm um die Stinne gefegt. Die unheimlichen Geräusche des Windes bildeten die perfekte Kulisse für den spannungsgeladenen Moment. Allein diese Szene, dachte Kassandra, wäre bei einem echten Krimi-Dinner kaum zu toppen gewesen.
Die Tür war jetzt eine Handbreit offen. Man konnte erkennen, dass es in der Kapitänskajüte dunkel war. Ein zweites Mal holte Paul tief Luft, dann stieß er die Tür mit dem Fuß vorsichtig weiter auf. Nichts passierte. Noch ein Stück, weit genug, dass jemand die Kajüte betreten konnte. Ein Lichtschein vom Flur erhellte den Fußboden, der Rest blieb im Dunkeln. Pauls Hand tastete an der Wand entlang.
»Hier ist ein Lichtschalter«, sagte er.
»Verkabelt?«, fragte Pechstein schnell, bevor Paul den Schalter betätigen konnte.
»Fühlt sich nicht so an.«
»Lassen Sie mich mal«, forderte Pechstein.
Paul trat zurück und machte eine einladende Bewegung. »Nur zu.«
Pechstein tastete die Stelle gründlich ab. Zumindest, dachte Kassandra plötzlich, wirkt es so. Niemand konnte sehen, was er wirklich tat. Wenn nun Pechstein Nicolas Komplize war und nur zur Tarnung so getan hatte, als hätte er Bedenken? Und ebenfalls vorgetäuscht hätte, der Schlüssel würde die Stromkästen nicht öffnen?
»Sie haben recht. Wenn da was ist, verläuft der Draht unter Putz«, sagte Pechstein.
»Sie machen einem ja Mut«, sagte Gerlinde zynisch.
»Wir müssen das Licht nicht zwingend einschalten«, sagte Paul. »Vielleicht reicht es, wenn wir die Tür ganz öffnen.« Bevor jemand etwas dagegen einwenden konnte, ließ er seinen Worten Taten folgen.
Die Tür schwang knarrend auf, auch dies unter anderen Umständen ein wunderbarer Spezialeffekt. So allerdings lagen bei dem Geräusch sämtliche Nerven blank. Die Helligkeit aus dem Gang tauchte die vordere Hälfte des Raumes in schummriges Licht. Vor den Fenstern hingen dicke Vorhänge, so straff, dass sie höchstwahrscheinlich bombenfest an der Wand befestigt waren. Kein noch so diffuser Schimmer drang von außen herein, aber …
Die Fenster!, durchzuckte es Kassandra.
»Wir müssen die Fenster einschlagen!«, rief Mike gleichzeitig. Ohne nachzudenken, stürmte er in die Kajüte, vor der er gerade eben noch ausdrücklich gewarnt hatte.
»Stopp!« Pauls scharfe Stimme peitschte durch die Stinne.
Abrupt blieb Mike stehen und wagte nicht, sich zu rühren. »W… was?«
»Ein Schritt weiter, und du wärst in eine Stolperfalle geraten«, antwortete Paul.
Mike schaute zu Boden, auf dem in zehn Zentimeter Höhe ein Draht von einer Seite der Kajüte zur anderen gespannt war.
»Scheiße«, sagte er heiser, und dann: »Danke.«
»Keine Ursache.«
»Du hast scharfe Augen«, stellte Liza mit zittriger Stimme fest.
»In die Ferne geht’s, zum Lesen brauch ich eine Brille«, sagte Paul. »Die steckt in meinem Jackett unten, und das bedeutet, dass den Liebesbrief da am besten jemand anders vorliest.«
Er zeigte in Richtung eines verschnörkelten goldenen Tischchens, an dem Mike achtlos vorbeigelaufen war. Auf dem Tisch stand eine Vase mit denselben Pfingstrosen, die den Gastraum schmückten, und an der Vase lehnte ein Briefumschlag.
Mike trat ein paar Schritte zurück, nahm nach einem misstrauischen Blick auf Tisch und Vase den Umschlag in die Hand. »Ist offen.« Er klappte die Lasche hoch, zögerte aber, den Inhalt hervorzuziehen.
Kassandra drängte sich zwischen Pechstein und Paul hindurch, die die Tür flankierten, und nahm Mike den Umschlag ab. Zum Vorschein kam ein hellblaues Blatt Papier, mit dem sie zurück auf den Gang trat. Sie faltete das Blatt auseinander.
Gratulation, meine Lieben,
ihr habt den richtigen Raum zuerst geöffnet. Hoffe ich wenigstens für euch. Kann natürlich sein, dass das hier euer zweiter, dritter … Versuch war. Wie auch immer, so geht es weiter: In jeder der übrigen vier Kabinen verbirgt sich eine Aufgabe, die ihr finden und lösen müsst. Seid ihr erfolgreich, erhaltet ihr vier Gegenstände, die euch helfen, die Stinne zu verlassen. Die Türen der Kabinen könnt ihr jetzt gefahrlos öffnen – vorausgesetzt, ihr entscheidet euch wieder für die richtige Reihenfolge.
Viel Glück!
PS: Solltet ihr auf die Idee kommen, euch an den Fenstern der Stinne zu vergreifen – es ist Panzerglas. Falls ihr mir nicht glaubt, probiert es gerne aus und vergeudet eure Zeit. Die Uhr läuft.
»Woher sollen wir die richtige Reihenfolge kennen?«, fragte Anni leise. Dann starrte sie Paul an. »Oder weißt du sie? Mit der Kapitänskajüte warst du dir ja sehr sicher.« Sie legte den Kopf schief. »Zu sicher?«
»Du verdächtigst Paul, mit Nicola unter einer Decke zu stecken, ist ja wohl nicht dein Ernst, Mike wäre eben fast hochgegangen, wenn Paul ihn nicht gewarnt hätte, da kannst du doch nicht …«
»Moment mal«, fiel Mike der empörten Violetta ins Wort. »Anni hat gar nicht so unrecht. Es ist wirklich ziemlich dunkel dadrin. Wie kommt es, dass du den Draht gesehen hast, Paul? Woher wissen wir außerdem, dass tatsächlich was passiert wäre, wenn ich dagegengetreten hätte?«
»Wegen der Vorrichtungen auf der Stinne habe ich gezielt auf den Boden gesehen, und der Spiegel an der Wand hat das Licht vom Flur reflektiert«, erklärte Paul. Er trat einen Schritt zurück, sodass seine Gestalt keinen Schatten mehr in die Kajüte warf und jeder sehen konnte, was Paul aufgefallen war. Nicht mal Kassandra hatte den Spiegel vorher bemerkt. »Was der Draht ausgelöst hätte, weiß ich nicht«, fuhr er fort. »Wäre ich Nicola, würde ich sagen: Probier es gerne aus. Ich persönlich würde darauf verzichten.«
In aggressiver Haltung lief Mike zurück in die Kajüte auf den Draht zu und hob den Fuß.
»Hör auf, bitte!«, rief Anni. »Ich hab das nicht ernst gemeint. Ich … wollte … Also, Kassandra hat mich vorhin verdächtigt, Nicolas Komplizin zu sein. Ich wollte nur … ich wollte, dass sie sieht, wie das ist, wenn man verdächtigt wird oder jemand, der einem nahesteht.« Sie hob in einer entschuldigenden Geste die Arme. »Tut mir leid. Das war dumm von mir.«
»Das war es allerdings«, gab Paul zurück.
Mike beschäftigte etwas anderes. Er fuhr Kassandra an. »Du hast Anni verdächtigt? Wie bescheuert ist das denn? Tickst du jetzt aus wegen deines Onkels?«
»Durchaus nicht.« Kassandra war baff, dass Anni ihre Verdächtigung offen ausgesprochen hatte. Wäre sie tatsächlich Nicolas Komplizin, hätte sie das kaum getan. Oder gerade dann? Dieses Spiel und ihr Misstrauen nahmen immer bizarrere Formen an. »Wir sind alle nervös und haben alle schon so ziemlich jeden verdächtigt. Leider mache ich keine Ausnahme.« Sie sah Anni an. »Tut mir auch leid.« Egal, ob das stimmte oder nicht, sie musste für Frieden und Zusammenhalt sorgen, sonst kamen sie überhaupt nicht weiter.
Anni nickte stumm.
»Schön so weit, das ändert aber nichts an der Tatsache, dass wir die Reihenfolge der dämlichen Kabinen nicht kennen«, sagte Gerlinde.
»Kann es sein«, meldete sich Jonas zu Wort, »dass Nicola uns in ihrem Brief einen Hinweis gegeben hat? Ihr letzter Satz lautete: ›Die Uhr läuft.‹ Vielleicht müssen wir die Türen nach dem Uhrzeigersinn öffnen.«
»Klingt vernünftig«, sagte Pechstein, und nach und nach kam in Ermangelung besserer Geistesblitze die allgemeine Zustimmung. »Wer möchte anfangen?«, fragte er. »Sie, Herr Zepplin? War schließlich Ihr Vorschlag.«
Zögernd trat Jonas vor. Im selben Moment ertönte scheinbar von ihm ausgehend ein mehrfaches durchdringendes Piepen. Erschrockene Rufe wurden laut, Liza, Mike und Anni gingen sofort in Deckung.
»Keine Panik, Leute!«, rief Jonas dazwischen und hielt ein kleines Gerät hoch.
»Dein Feuerwehralarm!«, begriff Kassandra, die sich im ersten Moment genauso erschreckt hatte, obwohl ihr das Signal nicht fremd war.
Inzwischen hatte Jonas nach einem Blick aufs Display den Pieper ausgestellt. Es war ihm anzusehen, dass er jederzeit lieber diesem Ruf gefolgt wäre, als auf der Stinne gefangen zu sein. »Die Jungs und Mädels müssen heute ohne mich auskommen, wie’s aussieht.« Frustriert verstaute er den Pieper und wandte sich endlich der Kabinentür zu.
Er hatte die Hand noch nicht auf die Klinke gelegt, da drang erneut ein Geräusch zu ihnen durch, von der Welt jenseits der Stinne. Ein Klopfen? Eine Stimme? Es kam von der Tür. Stand jemand auf der Außentreppe und rief nach ihnen?
»Unmöglich«, wisperte Kassandra, doch sie sah an den Mienen der anderen, dass sie sich das nicht einbildete.
Stocksteif standen sie da, ohne zu wagen, sich zum Bullauge umzudrehen, und lauschten den gedämpften, kaum auseinanderzuhaltenden Worten. Eins davon lautete möglicherweise »Hallo«.
Dann, als hätte jemand auf einen Knopf gedrückt, fuhren sie endlich synchron herum. Da war ein Gesicht, ganz dicht am Bullauge, diffus erleuchtet vom Licht im Inneren der Stinne. Der Mund formte ein Wort, zu leise, als dass sie es verstehen konnten, dann schlossen sich die Lippen abrupt, und ein Augenpaar starrte sie alle an.
Nein, dachte Kassandra, nicht uns alle. Mich.
Ein Schauer lief über ihren Rücken. Der Mann hatte lange Haare, die durchnässt sein Gesicht umrahmten, und einen grauen Vollbart. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Warum …
Marlene stürzte nach vorn und hämmerte an die Tür. »Wir brauchen Hilfe!«, brüllte sie. »Holen Sie uns hier raus! Bitte!«
Der Mann ignorierte Marlene, sein Blick heftete sich unverändert an Kassandra, und plötzlich verstand sie, ihre Knie wurden weich.
»Oh, mein Gott, das ist Arnold«, sagte sie schwach, um gleich darauf warnend ihre Stimme zu heben. »Marlene, weg von der Tür!«
Anscheinend hatte Jonas ihn im selben Moment erkannt, er sprintete zu seiner Frau und riss sie zurück.
Gleichzeitig verschwand Arnolds Gesicht im Dunkel der Nacht.
»Wer ist dieser Typ? Ist der gefährlich?«, fragte Mike.
»Ja«, sagte Jonas.
»Vielleicht«, sagte Paul.
»Vielleicht?«, wiederholte Kassandra verwundert. »Wenn es hier um Damals geht, wäre er der Erste, der uns nicht wohlgesonnen wäre. Nach Raimund jedenfalls.«
»Hätte er auf sich aufmerksam gemacht, wenn er uns an den Kragen wollte?«
»Nicola bereitet das ja auch ein perverses Vergnügen«, sagte Jonas, bevor Kassandra antworten konnte.
»Könnte uns jetzt mal bitte jemand darüber aufklären, wer der Mann ist?«, wiederholte Mike und fuhr sarkastisch fort: »Wir verlieren nämlich kostbare Zeit – ist ja sonst dein Spruch, Paul, sorry, hoffe, ich durfte mir das ausleihen.«
»Arnold Kesting war Raimunds …«, begann Paul.
Den Rest seiner Erklärung hörte Kassandra nicht mehr, stattdessen starrte sie auf das Bullauge, vor dem mittlerweile ein anderes Gesicht erschienen war. Kay!
Sie konnte sich gerade noch zurückhalten, auf die Tür zuzustürzen wie Marlene vorhin und seinen Namen zu rufen. Der durfte unter gar keinen Umständen fallen, denn bestimmt waren hier ebenfalls Mikrofone und Kameras installiert, und falls es um die Geschichte von damals ging, kannte Nicola mit Sicherheit Kays Namen – ebenso wie ihr Komplize. Somit konnte sein Auftauchen fatale Folgen für sie alle und für Heinz haben. Keine Polizei, hatte Nicola ihnen schließlich eingeschärft.
Kay hatte bemerkt, dass sie ihn gesehen hatte, er rief etwas Unverständliches, und zweifellos fragte er sich, weshalb sie nicht reagierte. Fieberhaft überlegte Kassandra, wie sie ohne Gefahr antworten konnte. Ihr fiel nur etwas völlig Verrücktes ein, und sie hoffte, dass alle Fischländer auf der Stinne kapierten, was sie tat und warum.
»Sven!«, schrie sie überlaut und lief endlich zur Tür.
Kay runzelte kurz die Stirn, sicher auch eingedenk der Tatsache, dass sie ihn mit dem Namen ihres Ex-Mannes ansprach. Doch dann verstand er anscheinend das Problem. Während ihr ein weiteres bewusst wurde: Was hatte Arnold da draußen bei Kay zu suchen?
Inzwischen war auch Paul herangekommen. Verwundert sah er von Kassandra zu Kay, bevor er die richtige Schlussfolgerung zog. Der Rest der Fischländer, von denen die meisten Kay erkannt haben durften, schwieg wohlweislich, wohingegen Pechstein sich erkundigte:
»Wer ist das nun wieder?«
»Ein Freund aus Rostock. Wir waren schon vor Stunden zu einem wichtigen Telefonat verabredet. Er hat sich wahrscheinlich Sorgen gemacht, weil wir nicht erreichbar waren«, sagte Paul und rief dann laut durchs Bullauge: »Sven, kannst du mich hören?«
Kay zog die Augenbrauen zusammen und guckte fragend.
»Kannst du mich hören?«, versuchte es Paul mit noch lauterer Stimme.
Die Antwort war, bis auf ein paar abgehackte Silben, immer noch weitgehend unverständlich, obwohl Kay sich offensichtlich die Seele aus dem Leib schrie. Seine Sätze ergaben nur in Zusammenhang mit seinen Lippenbewegungen einen Sinn. »Sehr schlecht. Was ist dadrin los?«
Wie sollen wir das knapp und trotzdem umfassend erklären und außerdem nach Arnold fragen?, dachte Kassandra.
»Wir sitzen in der Klemme«, rief Paul derweil laut und übertrieben deutlich wie bei einem Gespräch mit einem Schwerhörigen. »Wir sind in der Stinne eingesperrt, und hier steckt überall Sprengstoff, den wir wahrscheinlich nur von innen entschärfen können. Versuch nicht, hereinzukommen, und vor allen Dingen: Benachrichtige nicht die Polizei!«
Kays Blick wurde bei jedem Satz ratloser, vermutlich verstand er kaum die Hälfte. Mit einer Geste bedeutete er ihnen, lieber aufzuschreiben, was sie zu sagen hatten.
Paul nickte und wandte sich um. »Ich geh Zettel und Stift holen.« Damit verschwand er nach unten.
»Wozu diese langwierige Kommunikation?«, schaltete Pechstein sich ein. »Wie Herr Freese sagte, müssen wir sowieso von hier drinnen die Lösung finden.« Er starrte Kassandra an. »Wer ist dieser Freund genau? Was hat er mit Arnold Kesting zu schaffen, und woher wissen wir, dass nicht beide mit Frau Hülskamp unter einer Decke stecken oder mit ihrem Komplizen oder mit Ihnen als Gruppe, also den Fischländern?«
»Herr Pechstein, wir Fischländer sind nicht der Feind!«, gab Kassandra entnervt zurück. »Das sind Nicola und … was weiß ich wer.«
»Dieser Arnold zum Beispiel.«
»Ja«, gab Kassandra zu. »Möglich. Aber er gehört keinesfalls zu Sven, auch wenn beide zufällig zur selben Zeit hier aufgetaucht sind. Sven kennen wir seit einer Ewigkeit, bloß kann er höchstwahrscheinlich gerade kein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen.«
Jemand gab ein Glucksen von sich. Jonas, wenn Kassandra die Richtung, aus der es kam, nicht völlig falsch deutete.
»Selbst wenn euer Freund vertrauenswürdig sein sollte«, schaltete Mike sich ein, »hat Herr Pechstein recht. Hilfe von außen ist so gut wie unmöglich. Wir sollten lieber mit den Kabinen weitermachen.«
»Wie wär’s«, sagte Paul, der eben mit einem Bleistift und mit mehreren Menükarten, deren Rückseiten leer waren, wiederkam, »wenn wir parallel arbeiten? Kassandra kommuniziert mit Sven, wir anderen sehen zu, dass wir die Kabinenrätsel lösen.«
»Frau Voß allein?«, fragte Pechstein misstrauisch. »Eher nicht. Wir teilen uns auf, eine Hälfte bleibt bei ihr, die andere kümmert sich um die Kabinen.«
»Das ist Verschwendung von Potenzial«, mischte sich Liza ein. »Je mehr Leute bei den Kabinenrätseln ihren Input geben, desto schneller werden wir sie lösen, während es ausreichend wäre, wenn eine Person bei Kassandra bleibt.«
»Wer soll diese Person auswählen? Frau Voß vielleicht?«, giftete Pechstein.
»Mannomann«, sagte Jens gereizt. »Wie lange wollen Sie denn noch diskutieren? Wählen Sie jemanden aus, und gut ist!«
Das war nicht unbedingt das, was Kassandra vorschwebte, aber sie mussten zu Potte kommen. Kay klopfte bereits ungeduldig ans Bullauge.
Pechstein schien von Jens’ offensivem Vorschlag überrumpelt, er ließ seinen Blick über Liza, Mike und Anni schweifen, und Kassandra hatte eine Eingebung.
»Warum überwachen Sie mich nicht selbst?«, fragte sie.
Verblüfft sah er sie an, zum ersten Mal, seit das Chaos begonnen hatte, ohne auch nur einen Hauch von Feindseligkeit. »Wie komm ich denn zu der Ehre?«
»Da Sie überlegen müssen, wem von den Nicht-Fischländern Sie am wenigsten zutrauen, Nicolas Komplize zu sein, sind Sie es vermutlich nicht selbst. Falls also alle einverstanden sind?«
Bei dem allseitigen zustimmenden Nicken war Kassandra sich plötzlich nicht mehr sicher, ob ihre Eingebung wirklich so genial gewesen war, sodass sie aus gleich zwei Gründen mit mulmigem Gefühl beobachtete, wie der Rest der Gruppe den Kabinengang betrat. Plötzlich wünschte sie, sie wäre bei ihnen. Bei Paul. Falls die Kabinen explodierten … Nein! Das würden sie nicht. Zumindest hörte sie statt eines Lautes des Erschreckens nur einen der Verblüffung, als die erste geöffnet wurde, sonst blieb alles ruhig.
»Jetzt machen Sie schon!«, erinnerte Pechstein sie.
Mit fliegenden Fingern kritzelte Kassandra ihre Botschaft auf die Rückseite der ersten Menükarte, im Wesentlichen eine Wiederholung von Pauls Worten, »Keine Polizei«, in Großbuchstaben. Dabei war sie sich ständig bewusst, dass Pechstein ihr über die Schulter guckte.
Kay las, holte sein Handy hervor, schaute zuerst irritiert, dann verärgert aufs Display, wandte sich um, sprach mit einer unsichtbaren Person und reichte ihr sein Handy.
Eilig schrieb Kassandra: »War das eben Arnold Kesting? Was macht er bei dir?«
Kay las, schüttelte den Kopf, zog ein Taschentuch hervor, mit dem er das Bullauge trocken wischte, und holte schließlich einen kleinen Notizblock und einen Stift aus der Sakkotasche. Immerhin regnete es gerade nicht, sonst wäre das Papier aufgeweicht, bevor er ein Wort hätte schreiben können. Schließlich hielt er das Blatt an die Scheibe. »Dein Vater. Kesting haben wir hier getroffen, sucht seine Schwester Margot Kleve. Ist sie bei euch?«
Kassandra musste das zweimal lesen, bevor sie es verstanden hatte. Haralds Anwesenheit überraschte beim Überdenken nicht mehr, aber Arnolds Schwester? Sie wusste nicht mal, dass er eine hatte. War das eine Art Code, oder meinte Kay, was er sagte?
»Niemand mit diesem Namen«, schrieb sie. »Nicola Hülskamp (mittlerweile nicht mehr hier, hält uns hier fest), Liza Wagner, Anni …« Sie hielt inne und schaute auf. »Kennen Sie Annis Nachnamen?«, fragte sie Pechstein.
»Nein. Dieser Kesting hätte ebenso Grund, sich zu rächen, wie Degenhard, wenn ich Herrn Freese vorhin richtig verstanden habe. Meinen Sie, die Schwester hängt mit drin? Dann müsste es sich logischerweise um die Hülskamp handeln.«
»Es geht auf der Welt nicht immer logisch zu«, sagte sie mehr zu sich selbst und vervollständigte die Botschaft an Kay mit »Anni Nachname unbekannt«.
Wieder las Kay und hielt kurz darauf die nächste Frage ans Bullauge. »Wer ist der Mann neben dir?«
»Ha!«, machte Pechstein. »Was interessiert den das?« Er riss Kassandra die Menükarte aus der Hand und schrieb: »Die Schwester ist wichtiger! Beschreibung?«
Pechsteins Frage war berechtigt, dennoch hätte Kassandra lieber zuerst Kays beantwortet.
Kay zog die Brauen zusammen und musterte Pechstein gründlich. Was den nervös machte. Schließlich schrieb Kay und hielt den Zettel deutlich näher an Kassandras Seite des Bullauges. »Ist er vertrauenswürdig?«
»Was soll die Frage?«, fuhr Pechstein auf. »Der Typ weiß mehr von dem, was hier vor sich geht, stimmt’s? Würde sonst nicht von Vertrauen reden.«
»Er weiß, dass die Stinne voller Sprengstoff steckt und wir hier eingesperrt sind«, gab Kassandra wütend zurück. »Das reicht ja wohl, um Leuten zu misstrauen, die man nicht kennt.«
Sie nahm ihm die Menükarte wieder ab und schrieb, trotz der Pfeile, die Pechstein mit seinen Blicken auf sie abschoss, stichwortartig auf, was sie Kay gleich zu Anfang hätte mitteilen sollen: was geschehen war, Namen und Informationen über Anwesende und Opfer. Sie erwähnte auch das Video von Heinz, wobei ihre Finger zu zittern begannen, und zum Schluss teilte sie ihm nach einem Blick auf die Uhr mit, wie viel Zeit ihnen noch blieb bis zum nächsten Toten.
Schließlich beobachtete sie Kay beim Lesen und bemerkte, wie sich Erstaunen, Begreifen, Zorn abwechselten, doch als er aufsah, war er ruhig wie zuvor. Er rief nach jemandem, und zwei Sekunden später stand Arnold neben ihm.
Kassandra konnte nicht hören, was die beiden sprachen. Tatsächlich versuchte sie es nicht einmal. Sie konnte Arnold bloß anstarren. Die Jahre schienen sich aufzulösen, plötzlich stand sie wieder mit ihm in der Kunstscheune, fasziniert von seinen Bildern, fand ihn verletzt im Keller der Seefahrtschule, saß wie auf heißen Kohlen mit ihm in ihrem Wohnzimmer, erschrak über sein Auftauchen, während sie gerade sein Zimmer durchsuchte – und sah, wie er zusammenbrach und gestand, gemeinsam mit Raimund Josef Kind getötet zu haben.
Es stimmte, sie hatte ihn trotz allem gemocht und damals beinah bedauert, ihn ans Messer geliefert zu haben, weil ihrer Meinung nach Tina Bodenstedt die eigentlich Schuldige gewesen war. Das gleiche Wechselbad der Gefühle überschwemmte sie jetzt bei ihrem Wiedersehen.
Draußen war es dunkel, sie konnte nur Arnolds Umrisse erkennen, weil er nicht direkt am Bullauge stand, doch seine Körperhaltung signalisierte, dass es ihm schon mal besser gegangen war. Schließlich holte er sein Handy hervor, suchte etwas, kam näher und hielt das Display ans Fenster.
Es zeigte eine Frau um die vierzig mit blonden Locken, die ernst in die Kamera schaute. Das leuchtende Grün ihrer Augen war selbst auf dem Foto gut zu erkennen und verlieh ihr eine besondere Ausstrahlung. Da es auf Arnolds Telefon war, handelte es sich sicher um seine Schwester – die garantiert nicht auf der Stinne war.
Kassandra schaute zu Pechstein und war erstaunt, ihn nachdenklich auf das Display starren zu sehen. »Kennen Sie die Frau?«
»Wer weiß?«, brummte er. »Ist Ihnen aufgefallen, dass die meisten auf der Stinne anwesenden Damen plus Nicola Hülskamp diese Frau sein könnten? Alle haben in etwa das richtige Alter, niemand hat hervorstechende Eigenschaften, die ein Gesicht unverwechselbar machen.« Er schrieb eine Nachricht, die nur aus einem Wort bestand: »Größe?«
Diesmal kritzelte Arnold die Antwort: »ca. 1,70«.
»Okay, Frau Voß, Sie sind raus«, sagte Pechstein grinsend. »Frau Grabe auch, die ist zu groß. Was den Rest angeht, wiederhole ich mich: Kestings Schwester könnte sich in so ziemlich jede hier verwandelt haben mit geschicktem Make-up, Perücke, farbigen Kontaktlinsen – und auffallender Brille bei Frau Hülskamp.«
Oberflächlich betrachtet hatte Pechstein recht. Tatsächlich hatte Kassandra selbst sich schon mal so schminken und mit einer langen dunklen Perücke ausstatten lassen, dass sie – abgesehen von der Größe – einigermaßen als Violetta hätte durchgehen können.
Kay klopfte an die Scheibe. »Sieht ihr jemand ähnlich?«, hatte er geschrieben.
Zweifelnd zuckte Kassandra die Schultern, dann kam sie Pechstein zuvor und schrieb auf die Rückseite der nächsten Menükarte: »evtl. Hülskamp oder Anni«.
»Weil Sie Anni schon in Verdacht hatten? Was spricht gegen die Bestattungsdame – und natürlich erwähnen Sie weder Frau Zepplin noch Frau Meerbusch«, sagte Pechstein herausfordernd.
Auf den letzten Kommentar ging sie nicht ein. »Anni ist auf seltsame Art widersprüchlich, und das würde ja passen, wenn sie gleichzeitig zwei Personen wäre. Liza Wagner …« Kassandra zögerte. »Zu normal. Ich kann’s nicht besser beschreiben, tut mir leid.« Dann fiel ihr plötzlich doch noch etwas ein. »Sie hat eine Narbe am linken Daumen, ist mir beim Essen aufgefallen.«
Eine Nachfrage bei Arnold ergab, dass seine Schwester keine hatte.
»Und nun?«, fragte Pechstein. »Letztlich hilft uns das hier drin überhaupt nicht weiter. Ihr Freund da draußen sollte nach der Hülskamp suchen, völlig egal, ob sie identisch mit Kestings Schwester ist oder nur ihre Komplizin.«
»Das wird er bestimmt tun.« Und sämtliche unbekannten Personen überprüfen, fügte sie in Gedanken hinzu, um laut fortzufahren: »Trotzdem wäre es wichtig gewesen zu erfahren, von wem auf der Stinne akute Gefahr droht, und falls Nicola und Margot identisch sein sollten, kann es immer noch jede und jeder sein. Sie inklusive.«
»Ich dachte, Sie hätten mich schon ausgeschlossen«, gab Pechstein spöttisch zurück.
»Ich schließe niemanden aus, bevor ein Verbrechen nicht vollständig aufgeklärt ist.«
Während ihrer Diskussion hatte Kay eine neue Nachricht geschrieben. »Gab es in den Videos der Hülskamp Hinweise darauf, wo sie und dein Onkel sich befinden könnten? Hintergrund, Geräusche?«
Leider musste Kassandra das verneinen. Zu ihrer Überraschung nahm Pechstein jedoch wieder den Stift zur Hand: »Video vom Onkel leicht verwackelt, kein guter Kameramann, Wand hinter ihm evtl. aus Holz. Schuppen?«
Das hatte Kassandra nicht bemerkt. Natürlich nicht, dachte sie, ich habe nur auf Heinz geachtet.
Kay las, seine Lippen formten ein Danke, seine Augen richteten sich danach auf Kassandra, und sie glaubte aus seinem Blick herauszulesen, dass er sich nicht sicher war, was er von Pechsteins Hinweis hielt. Falls er Nicolas Komplize war, könnte er sie bewusst auf eine falsche Fährte locken.
Schließlich griff er zum Stift, schrieb einige Zeit, schien schon fertig, dann setzte er noch etwas hinzu, bevor er den Zettel ans Bullauge hielt: »Wir tun alle, was in unserer Macht steht bei der Suche nach Heinz und der Hülskamp. Melde mich bei Neuigkeiten. Passt auf euch auf.«
Er nickte ihr zu, drehte sich um und verschwand aus Kassandras Blickfeld.
»Wen meint er mit alle?«, fragte Pechstein.
»Sich selbst, meinen Vater und Arnold, nehme ich an.« In Gedanken setzte sie ein paar Namen hinzu. Auch wenn Kay seine Kollegen nicht einschalten durfte, mochte er von Rieka Unterstützung bekommen, vielleicht auch von Bruno oder Greta und Matthias und … Innerlich fasste sie sich an den Kopf. Warum hatte sie Kay nicht darauf aufmerksam gemacht, dass letztere beiden etwas Hilfreiches über Nicola wissen konnten? Jetzt war es zu spät, Kay war bereits fort.
»Denken Sie nicht?«, fragte Pechstein.
Sie hatte ihm gar nicht zugehört. »Was? Worüber?«
Pechstein schüttelte ungeduldig den Kopf. »Ich sagte, dass ich an seiner Stelle wegen Kesting vorsichtig wäre. Vielleicht ist er bloß hier, um auszuspionieren, wie der Plan seiner Schwester funktioniert, und euer Sven ist dummerweise über ihn gestolpert. Wie heißt der eigentlich mit Nachnamen?«
»Larsen«, sagte Kassandra abwesend, weil sie über Pechsteins Vermutung nachdachte, die durchaus zutreffend sein mochte.
»Larsen?«, wiederholte Pechstein. »Sven Larsen?«
»Äh, ja. Wieso?« Unbewusst hatte sie den richtigen Nachnamen ihres Ex-Mannes genannt.
»Ach, nichts weiter. Ich kannte mal einen Sven Larsen. Windiger Zeitgenosse. Möchte wissen, was aus dem geworden ist.«
Kassandra erschrak. Ihr Sven war ebenfalls ein windiger Zeitgenosse gewesen, um es untertrieben auszudrücken. Den konnte Pechstein unmöglich meinen, oder? Sven war seit vielen Jahren tot.
»Wenn wir die Stinne überleben, können Sie sich ja auf die Suche begeben«, sagte sie flapsiger, als ihr zumute war, vor allem, weil sie sich fragte, was es über Pechstein aussagte, wenn er entgegen aller Erwartung doch ihren Sven gekannt hatte. Zum einen, dass er vielleicht im Knast gewesen war. Passte schließlich auch zu seiner Unterhaltung mit Raimund. Obwohl Sven weder in Waldeck noch in Bützow gesessen hatte. Was …
»Hey, hier spielt die Musik!« Pechstein stupste sie an. »Gehen wir nachsehen, wie weit die anderen mit dem ersten Rätsel gekommen sind.«
In diesem Moment drang ein sirenenartiges, ohne Zweifel von einem Menschen ausgestoßenes Heulen durch die Stinne.