12

Dietrich wandte sich vom Bullauge ab und fragte schon im Umdrehen: »Hängt mein Telefon am Ladekabel im Wagen?«

Es war das verdammte erste Mal gewesen, dass sein Akku zur Unzeit den Geist aufgegeben hatte, weshalb er auf Papier und Stift zurückgreifen musste. Das allerdings war das geringste Problem – er brauchte das Telefon, um mit Bengt, Tobias und Rieka in Verbindung zu bleiben.

»Ja, sicher«, antwortete Bruno, der hinter Barthel und Kesting auf der Treppe gewartet und das erledigt hatte.

»Danke.«

Dietrich hastete die Stufen hinunter. Es hatte bereits zwei Tote gegeben, er musste Tobias informieren. Diesen Fall konnte er nicht länger so gut wie im Alleingang erledigen, auch wenn die Kollegen bisher nicht ganz so außen vor waren, wie Nicola Hülskamp hoffentlich glaubte. Anschließend würde er die Namen, die Kassandra ihm genannt hatte, an Rieka weitergeben. Hinter sich hörte er Barthels beunruhigte Stimme.

»Was ist los dadrin?«

Schon wollte Dietrich unwirsch Geduld anmahnen, doch dann ging ihm auf, dass es tatsächlich sinnvoller war, zuerst Barthels Frage zu beantworten. Wenn sich die Hülskamp an ihren Plan hielt, und das hatte sie offenbar bisher getan, blieb noch eine knappe Stunde. Je mehr Informationen er zum Weitergeben sammelte, umso besser, und wer wusste schließlich, was Barthel, Ewald und sogar Kesting dazu beisteuern konnten? Nach einer Kurzfassung der Vorgänge auf der Stinne wandte er sich direkt an Kesting und zählte die Namen derjenigen Gäste auf, die er nicht selbst kannte. »Sagt Ihnen jemand von denen was?«

Kesting legte die Stirn in Falten. »Margot erwähnte mal eine Annegret.«

»Was wissen Sie über sie? Ist sie in Margots Alter?«

»Nichts. Keine Ahnung, wie alt sie ist.«

»Keine Ahnung hilft nicht! Versuchen Sie sich zu erinnern, was Ihre Schwester über die Frau erzählt hat!«, herrschte Dietrich Kesting an.

»Nichts weiter!«, gab Kesting im selben Tonfall zurück. »Der Name fiel, das war’s!«

»In welchem Zusammenhang?«

Kesting dachte eine Weile nach. »Es hatte mit ihrer Mutter zu tun, glaube ich. Eine Freundin ihrer Mutter? Oder die Tochter der Freundin ihrer Mutter.« Er seufzte. »Ich weiß es wirklich nicht genauer.«

»Bedauerlich. Wäre es die Tochter, käme sie zumindest in Frage«, stellte Dietrich fest. »Die restlichen Namen sagen Ihnen nichts?«

Kesting zögerte merklich.

»Egal, was es ist, raus damit.«

»Etwas klingelt bei Pechstein. Hat aber nichts mit Margot zu tun.«

»Womit dann?«, mischte Barthel sich ein, ebenso ungeduldig wie Dietrich.

»Mit … dem Gefängnis. Glaube ich wenigstens. Muss lange her sein, sonst würde ich mich besser erinnern.«

»War der Vorname ebenfalls Gunnar?«

Kesting hob die Schultern. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich den je kannte. Tut mir leid.«

»Verbinden Sie mit dem Namen was Unangenehmes oder was Positives?«, fragte Bruno.

Brillante Frage, dachte Dietrich. Das bewies auch Kestings wie aus der Pistole geschossene Antwort.

»Unangenehm. Hundertprozentig.«

»Ein Mithäftling?«

»Das hätte sich mir eingeprägt. Ich glaube nicht, dass ich je einen der wirklich miesen Typen vergesse, denen ich drinnen begegnet bin.«

Dietrich schaute zu Barthel und Ewald. »Was ist mit Ihnen? Irgendeine Assoziation bei den Namen?«

Beide verneinten.

»Werden Sie die alle überprüfen lassen?«, fügte Barthel hinzu.

»Doch wohl nicht!«, sagte Kesting, bevor Dietrich antworten konnte. »Die Hülskamp – oder Margot – will keine Polizei! Deren Anwesenheit in Heinz Jungs Haus und Ihre hier birgt schon genug Risiken. Wenn Sie noch auffälliger vorgehen, möchte ich lieber nicht wissen, wie sie reagiert.«

Dietrich musterte Kesting. Er wirkte besorgt. Um die Hülskamp und/oder seine Schwester oder die Leute auf der Stinne?

»Habe ich nicht vor«, sagte er schließlich ohne weitere Erklärung.

Kesting entspannte sich. Barthel lächelte in sich hinein. Kassandras Vater hatte mit seiner Frage bestimmt keine offiziellen Stellen gemeint und ahnte, was Dietrich stattdessen zu tun gedachte. Ewald dagegen war sichtlich unzufrieden.

»Was dann?«, fragte er. »Wenn wir mit den Leuten dadrin und der Hülskamp nicht weiterkommen, sollten wir uns um Heinz kümmern! Was Sie von dem Video erzählt haben, selbst wenn es kaum ein Satz war, klang, als bräuchte er dringend Hilfe.«

»Leider haben wir zu seinem Aufenthaltsort fast so wenig Angaben wie zu dem von Frau Hülskamp«, sagte Dietrich. »Pechstein mutmaßt wegen einer Holzwand, die er im Hintergrund zu erkennen geglaubt hat, dass Herr Jung in einem Schuppen gefangen gehalten wird. Gibt es in der Gegend so was, weitab vom Schuss und verlassen?«

Ewald überlegte kurz. »Mir fällt nichts ein. Heinz’ Gefängnis müsste aber nicht unbedingt diesen Kriterien entsprechen, falls die Hülskamp im Ort Leute hat, mit denen sie zusammenarbeitet.«

»Kein Fischländer bei Verstand würde ihr bei so was helfen!«, wandte Barthel ein.

»Es gibt genügend Fremde hier. Ganz davon abgesehen, war Heinz in der Vergangenheit wahrlich nicht überall beliebt. Vielleicht nutzt der eine oder andere die Gelegenheit, ihm was heimzuzahlen.«

»Nach Kassandras Schilderung wurde Herr Jung übelst zugerichtet und war bewusstlos«, sagte Dietrich. »Ich kann mir zwar denken, dass er sich zu seiner Zeit als Abschnittsbevollmächtigter und später Polizeihauptmeister ein paar Feinde gemacht hat, aber dass jemand nach so vielen Jahren jedes Maß verliert, ist schwer vorstellbar. Oder gibt es da eine spezielle Person?«

»Nein«, musste Ewald zugeben. Er schluckte, bevor er weitersprach. »Wenn es so schlimm ist, spricht deutlich mehr für einen Fremden.«

Dietrich sah es hinter Ewalds Stirn arbeiten. »Sie haben jemanden im Sinn?«

Ewald nickte langsam. »Zwei, genau genommen. Auf Niklas Thiels ehemaligem Grund und Boden steht seit diesem Jahr endlich wieder ein Haus.«

Dietrich hatte bereits zu anderer Gelegenheit einen Blick auf das letzte Grundstück der Hafenstraße geworfen, auf dem schon so einiges passiert war. Das für die Umgebung viel zu imposante Gebäude stand an exakt derselben Stelle wie das einst abgebrannte Haus. Daher begriff er sofort, was Ewald meinte.

»Existiert der Keller noch?«

»Da der tipptopp erhalten war, hätte es keinen Grund gegeben, ihn zuzuschütten. Der neue Eigentümer ist ein Mann namens Andreas Körber.« Bedeutungsvoll fügte er hinzu: »Aus Köln.«

»Köln«, wiederholte Dietrich. Sein Blick richtete sich auf Kesting. »Ihre Schwester lebt in Bonn.« Er verzichtete darauf hinzuzufügen, dass das auf Kesting selbst auch zutraf und die beiden Städte bloß eine halbe Stunde Autofahrt trennte.

Kesting nickte düster. »Das muss natürlich nichts heißen, Köln ist schließlich kein Dorf. Aber ja, es könnte durchaus bedeuten, dass Margot und Andreas Körber sich kennen und sie dort ist. Oder die Hülskamp. Oder Heinz Jung.« Er blinzelte. »Bevor Sie fragen: Ich selbst kenne den Mann nicht.«

Würde ich auch an deiner Stelle behaupten, dachte Dietrich, äußerte es aber nicht laut, sondern fragte stattdessen: »Wer ist die zweite Person, die Ihnen einfällt, Herr Ewald?«

»Soraya Schmidt.« Trotz der angespannten Lage lachte er kurz auf, als er Dietrichs ungläubigen Ausdruck sah. »Die Dame ist Künstlerin, modelliert abstrakte Gebilde aus Ton und gibt nebenbei Tai-Chi-Kurse oder Yoga oder beides. Ich kann das nicht unterscheiden. Sie kam ein paar Wochen, nachdem die Hülskamp mit den Arbeiten an der Stinne begonnen hatte, nach Wustrow und wohnt auf Heiko Jordans Hof auf dem Norderfeld.«

»Jordan hat sein Land schließlich doch verkauft?«, unterbrach Dietrich verwundert.

»Nein, aber das Glück traf endlich mal den Richtigen: Anfang des Jahres hat er den Jackpot geknackt und macht jetzt mit seiner Freundin eine kleine Weltreise. Er hat sein Haus untervermietet und zusätzliche Leute für die Hofarbeit angestellt.«

»Dann ist diese Frau Schmidt nicht allein auf weiter Flur. Ungünstig für das Vorhaben, jemanden unbemerkt gefangen zu halten«, stellte Kesting fest.

»Der Hof ist groß«, sagte Dietrich aus eigener schmerzhafter Erfahrung. »Wenn man es geschickt anstellt, könnte Soraya Schmidt – genauso wie die Landarbeiter, nebenbei bemerkt – jemanden unterbringen, ohne dass andere es mitbekommen.« Zwei weitere Namen für Rieka, dachte er dabei, Körber und Schmidt. »Ist die Soraya echt?«

»Sie sieht definitiv mehr nach Schmidt als nach Soraya aus, Mitte fünfzig, blass, blaue Augen, graue Haare, Pferdeschwanz, kaum größer als Kassandra, läuft meist in weiten, bunten Ökoklamotten rum. Als sie herkam, hat Heiko sie Paul und Kassandra vorgestellt. Die beiden mögen ihre Sachen, Paul hat sich ein bisschen über sie schlaugemacht, und ja, sie heißt tatsächlich Soraya.«

»Die kennen sich gut? Das heißt, die Hülskamp könnte durch sie an Informationen über Kassandra und Paul gekommen sein?«

»Gut ist mächtig übertrieben. Aber besser als Andreas Körber, der schottet sich ab. Hab den selbst bisher nur zwei- oder dreimal überhaupt gesehen, dabei wohne ich quasi um die Ecke.«

Barthel trat von einem Bein aufs andere. Dietrich hatte schon bemerkt, dass Kassandras Vater unruhig wurde.

»Ich würde auch lieber sofort loslegen, Herr Barthel«, sagte er. »Aber ohne genau solche Informationen wüssten wir nicht mal, wo wir anfangen sollen.«

Barthel brummte eine Zustimmung. »Wir müssen uns aufteilen«, sagte er dann. »Einer stattet Körber einen Besuch ab, einer der Schmidt.«

»Ich übernehme Körber«, bot Ewald an. »Da ich so was wie ein Nachbar bin, finde ich schon einen Grund, um diese Zeit bei ihm anzuklopfen.«

»Gut, dann fahren wir«, er sah Kesting an, »zum Jordan-Hof.«

»Immer noch argwöhnisch?«, spöttelte Kesting. »Was muss ich tun, damit Sie mir vertrauen?«

»Mir Ihre Schwester ausliefern«, sagte Dietrich gänzlich ohne Ironie und sah Kesting zusammenzucken. »Ist nicht persönlich gemeint«, entschärfte er die Situation. »Ich kann mir Vertrauen im Allgemeinen in meinem Job und gerade jetzt im Besonderen nicht leisten. Ganz davon abgesehen: Der Hof ist groß, wir sparen Zeit, wenn wir uns zu zweit umsehen.«

»Hm«, machte Kesting.

»Herr Barthel«, sagte Dietrich, »Sie bleiben hier. Wenn sich bei der Stinne was tut, sollte jemand vor Ort sein, der Hilfe holen und uns benachrichtigen kann.«

Er sah Barthel seine innere Zerrissenheit an und konnte sie nachvollziehen: Falls es bei Körber gefährlich würde, wäre Bruno Ewald auf sich allein gestellt. Falls es auf dem Schiff oder in unmittelbarer Umgebung brenzlig wurde, könnte er gegebenenfalls seiner Tochter helfen. Am liebsten hätte Dietrich Kollegen abgestellt, um Ewald zu begleiten und die Stinne im Auge zu behalten, aber Kesting hatte recht. Es war besser, kein Risiko einzugehen und offizielle Ermittlungen außen vor zu lassen.

»Ist schon in Ordnung, Harald«, sagte Ewald. »Ich bin ein zäher Knochen – oder wahlweise ein harmloser alter Mann, der dringend Nachbarschaftshilfe benötigt.«

»Dann machen wir das so«, bestimmte Dietrich. »Viel Glück, Herr Ewald. Herr Kesting, steigen Sie schon mal ein, ich komme gleich nach.«

Kesting legte den Kopf schief und schien protestieren zu wollen. Dann überlegte er es sich anders und ging hinüber zum Lexus. Aus den Augenwinkeln sah Dietrich, dass er draußen stehen blieb und ihn und Barthel beobachtete.

»Ich gebe Ihnen gleich eine Telefonnummer«, sagte er. Er sprach leise und sehr schnell. »Eine Frau wird sich melden, sagen Sie ›Schöne Grüße von Cy aus St. Peter Port‹, geben Sie die Namen der Leute auf der Stinne und die der beiden Neu-Wustrower durch sowie das, was auf dem Schiff geschieht und was wir vorhaben. Sie soll Tobias Harms und Bengt Johannsen über alles in Kenntnis setzen und die beiden und Sie benachrichtigen, sobald sie verwertbare Informationen hat. Keine offizielle Polizeiaktion, bevor ich es sage. Wenn es brennt, rufen Sie mich an. Und nur dann.« Er nannte Barthel Riekas Nummer, drehte sich um und ging hinüber zu Kesting, der sich jetzt endlich anschickte einzusteigen.

»Haben Sie Kassandras Vater angewiesen, die Polizei zu rufen – vorsichtshalber oder wenn Not am Mann ist?«, fragte Kesting.

»Nein.« Das war nicht mal direkt gelogen. Dietrich warf einen Blick auf sein Handy. Keine Anrufe in Abwesenheit. »Dazu steht zu viel auf dem Spiel für Menschen, die mir was bedeuten.« Er ließ den Motor an, wendete und fuhr zurück auf den Kuhleger. Vorn an der Straße überholte er Bruno Ewald, der sich eben nach rechts zur Kirche wandte. Hoffentlich ging alles gut bei diesem Körber aus Köln.

»Seltsam«, sagte Kesting in Dietrichs Gedanken hinein.

»Was finden Sie seltsam? Glauben Sie, ich lüge Sie an und Herr Barthel informiert in dieser Minute meinen Dienststellenleiter?«

»Bei genauerer Betrachtung: nein. Gerade das finde ich seltsam. Sie und Kassandra waren damals wie Feuer und Wasser, Sie konnten einander nicht ausstehen. Wie hat sich daraus eine Freundschaft entwickeln können? Ich weiß nicht, ob ich mit jemandem befreundet sein wollte, der mich des Mordes bezichtigt hat.« Er lachte kurz auf. »Aus Kassandras Perspektive betrachtet.« Dann warf er Dietrich einen Seitenblick zu und erwartete offenbar eine Erklärung.

Den Gefallen tat Dietrich ihm nicht. Stattdessen fragte er, während er an der Kreuzung in die Strandstraße bog: »Ist Ihnen inzwischen noch was zu Gunnar Pechstein eingefallen?«

»Nein.«

»Er könnte Polizist sein«, schlug Dietrich vor. »Oder Anwalt. Oder ein Besucher eines Mitgefangenen. Oder ein Justizbeamter.«

»Oder ich habe Sie mit Pechstein auf eine falsche Fährte gelockt«, sagte Kesting zynisch.

»Was soll das für eine Fährte sein – ein Name, bei dem es bei Ihnen klingelt, und mehr nicht?«

»Wer weiß, was ich mir dabei gedacht habe?« Kesting hatte entspannt auf dem Beifahrersitz gesessen. Als Dietrich nun in die Norderstraße fuhr, beugte er sich vor. »Sind wir da?«

»Gleich.« Kurz darauf hielt Dietrich am Rande des großen Feldes, in dessen Mitte der Jordan-Hof lag. Dort herrschte völlige Dunkelheit. Er konnte den Schauder und die Erinnerung an seinen unfreiwilligen Aufenthalt hier vor einigen Jahren nicht unterdrücken. Beinah glaubte er, die höllischen Schmerzen zu spüren, die Wucht, mit der das Eisenrohr auf sein Bein niederfuhr, wieder und wieder. Er riss sich zusammen und öffnete die Wagentür, die der erneut aufgefrischte Sturm ihm beinah aus der Hand riss. »Kommen Sie«, sagte er zu Kesting. »Besser, wir gehen den Rest zu Fuß.«

Gebeugt und stumm arbeiteten sie sich gegen den Wind voran. Dietrich fragte sich, wen sie vorfinden würden. Eine völlig entgeisterte Tai-Chi-Lehrerin im Nachthemd? Heinz Jung? Margot Kleve oder Nicola Hülskamp?

»Da brennt Licht.« Kesting deutete nach vorn.

Dietrich sah zu dem ansonsten dunklen Gebäudekomplex hinüber. Das große Wohnhaus war hufeisenförmig gebaut, der vordere Schenkel wies zur Norderstraße und der hintere zur Urlaubersiedlung auf der anderen Seite des Feldes. Das Verbindungsstück verlief fast parallel zur weit entfernten Bäderstraße. Beinah alle von hier erkennbaren Fenster waren dunkel. Die Ausnahme bildete der Raum, der zumindest damals Heiko Jordans Arbeitszimmer gewesen war. Zwischen dem Hauptgebäude und den beiden Scheunen standen eine Limousine und ein Kleinwagen.

Ihm wäre es lieber gewesen, wenn bereits alle im Bett gelegen hätten und er sich in Ruhe hätte umsehen können. Er zog Kesting nach rechts, sodass sie so weit wie möglich aus dem Blickfeld waren, sollte jemand nach draußen schauen.

»Fangen wir mit den Scheunen an«, wisperte er. »Sie nehmen die vordere, ich die hintere. Sollten Sie was Verdächtiges sehen oder hören, sagen Sie mir Bescheid, bevor Sie was unternehmen. Klar?«

Kesting nickte und zwängte sich durch den engen Spalt des Scheunentores hindurch.

Es behagte Dietrich nicht, ihn aus den Augen zu lassen. Falls Kesting mit seiner Schwester gemeinsame Sache machte, verriet er ihm im besten Fall bloß nicht, dass Heinz Jung wehrlos in dieser Scheune hockte. Im schlimmsten Fall schwebte Jung durch ihr Auftauchen in noch größerer Gefahr. Er lauschte. Von drinnen war kein Ton zu hören, jedenfalls nicht, solange er hier im Wind stand. Er huschte näher zum Tor, spähte in die Scheune und steckte seinen Kopf durch den Spalt. Erkennen konnte er nichts, und der Wind machte es unmöglich, Schritte zu hören, sodass er nicht abschätzen konnte, wo Kesting sich gerade befand.

Dietrich musste sich entscheiden. Entweder er traute ihm für die Zeit auf dem Jordan-Hof oder nicht. In diesem Moment schepperte es laut in der Scheune, der Lärm schallte bis ins Freie. Dietrich fuhr herum, verschmolz in der Dunkelheit mit der Scheunenmauer und starrte hinüber zum Haupthaus. Dort ging ein Licht an, die Fensterflügel wurden geöffnet. Eine Frau beugte sich hinaus, lange Haare wehten ihr ins Gesicht.

»Hallo?«, rief sie. »Ist da jemand?«

Zumindest glaubte Dietrich, das zu verstehen.

Die Frau hatte das Fenster nicht ordentlich festgehalten, beide Flügel wurden ihr aus den Händen gerissen. Der rechte schlug ihr fast ins Gesicht, der linke schlug gegen die Hauswand. Sie zuckte zurück, als die Scheibe zerbarst, und verschwand im Innern des Zimmers.

Plötzlich spürte er neben sich eine Bewegung und duckte sich instinktiv weg. Dadurch entging er dem Schlag mit der Mistgabel, deren scharfe Zinken die Scheunenmauer genau an der Stelle trafen, an der sich gerade noch sein Kopf befunden hatte.