13
Bruno stand vor dem Grundstück an der Hafenstraße. Das ebenso breite wie hohe schmiedeeiserne Tor vor der großzügigen Einfahrt war geschlossen. Im Sonnenschein konnte man tagsüber durch die Streben hindurch das hübsch bepflanzte Blumenbeet in der Mitte sehen und die zahlreichen blühenden Büsche, die das Grundstück linker Hand säumten. Doch jetzt sah Bruno nur düstere Schatten, und ihm war weit mulmiger zumute, als er es wahrhaben wollte. Auf dem Weg hierher hatte er überlegt, was er sagen sollte und wie er Körber dazu bringen konnte, ihn einen Blick in den Keller werfen zu lassen. Ihm war nichts Überzeugendes eingefallen. Dann würde er eben improvisieren müssen.
Tief Luft holend drückte Bruno das Tor auf, das im Gegensatz zu seinem eigenen ständig quietschenden keinen Ton von sich gab. Kieselsteine knirschten unter seinen Schuhen, während er auf die Villa – Haus war ein zu gewöhnlicher Ausdruck für dieses Anwesen – zuging. Nirgends brannte Licht, dafür schlug der Bewegungsmelder an und ließ die Regentropfen auf dem Hortensienbusch neben dem großspurigen Säulenportal glitzern. Ein Spinnennetz hatte sich zwischen Busch und Säule gebildet, das trotz des Windes hielt. Auch darin hingen glitzernde Tropfen, ein zauberhafter Anblick. Kassandra hätte bereits ihre Kamera gezückt. Ein Ruck ging durch Bruno. Er erklomm die vier Stufen und drückte entschlossen auf den silbernen Klingelknopf. Drinnen ertönte ein viel zu langes Glockengeläut. Nachdem es verklungen war, blieb jedoch alles still.
Bruno ging die Stufen wieder hinunter, schaute an der Fassade hinauf, ob Licht angegangen war. Nicht hier vorn, aber vielleicht anderswo in der Villa? Als er um die nächste Ecke bog, war auch dort fast alles dunkel. Nur ganz hinten lugte ein Lichtschein durch halb zugezogene Gardinen hinter einer großflügeligen Terrassentür.
Andreas Körber war also zu Hause. Selbst falls er bereits geschlafen haben sollte, hätte er von der Glocke geweckt werden müssen. Das hieß, dass er sich nicht von einem späten Besucher stören lassen wollte.
Hinter dem Haus lag bis zu einem schmalen Terrassenstreifen Rasen, sodass Bruno kein Geräusch verursachte, als er sich näher an die Glastür schlich und hoffte, dass hier kein Bewegungsmelder angebracht war. Leider vergeblich. Urplötzlich blendete ihn das gleißende Licht einer Fußballstadionbeleuchtung. Für zwei Sekunden stand er stocksteif. Gerade wollte er davonhasten, da hörte er, wie in seinem Rücken die Terrassentür geöffnet wurde. Selbst wenn er so schnell gewesen wäre wie Paul bei seinen Laufrunden auf dem Hohen Ufer, hätte er nicht mehr ungesehen verschwinden können. Er drehte sich wieder um.
»Guten Abend, Herr Körber«, sagte er zu der schwarzen Gestalt, die sich vor ihm aufbaute. Er hatte den Mann weder so groß noch so massig in Erinnerung, aber das wirkte wohl nur so, weil Bruno gerade das Herz in die Hose gerutscht war. »Bitte entschuldigen Sie die Störung, noch dazu um diese Uhrzeit. Ich habe geklingelt – tolles Geläut übrigens –, und als niemand öffnete, dachte ich, ich schaue nach, ob Sie vielleicht trotzdem da sind.« Gott, ich rede mich um Kopf und Kragen, dachte Bruno.
»Dat is de Aveglocke«, sagte Körber, der sich keinen Millimeter bewegt hatte.
»Äh … was?«, fragte Bruno.
»Aveglocke«, wiederholte Körber. »Se …« Er räusperte sich und fiel ins Hochdeutsche. »Sie hängt im Südwestturm des Kölner Doms. Und in meinem Hausflur.« Er lachte.
Bruno war sich nicht sicher, ob es ein freundliches Lachen war.
»Oh. Wie gesagt, sehr hübsch.«
»Ja. Was kann ich denn für Sie tun? Muss ja wichtig sein, wenn Sie nachts bei diesem Wetter in meinem Garten auftauchen.« Er runzelte die Stirn. »Angeln Sie nicht sonst immer an der Seebrücke, Herr …?«
»Ewald. Bruno Ewald. Ja, Sie haben richtig beobachtet. Nachts und bei diesem Wetter allerdings für gewöhnlich nicht«, rutschte es ihm heraus. Dann ging ihm auf, dass Körber ihm gerade eine Steilvorlage geliefert hatte. »Verzeihung«, schob er hinterher.
Körber grinste. »Ich bin aber auch unhöflich. Kommen Sie mal besser rein, glaub nicht, dass die Wolken noch allzu lange dicht halten.« Er machte eine einladende Handbewegung zur Terrassentür. »Bitte Schuhe ausziehen.«
Zögernd streifte Bruno seine Schuhe ab, bevor er das Wohnzimmer betrat. Auf Socken kam er sich hilf- und wehrlos vor. Aber immerhin war er nun da, wo er hinwollte: im Haus. Leider konnte er zur Einleitung keinen Gemeinplatz fallen lassen wie »Gemütlich haben Sie es hier«. Im Raum stand nur ein großes dunkles kastenförmiges Ecksofa, davor ein eckiger weißer Tisch. Ein Flachbildschirm, auf dem eine Fußballübertragung mit ausgeschaltetem Ton lief, nahm die ganze linke Wand ein.
»Nehmen Sie Platz. Auch ein Kölsch?« Körber deutete auf das Sofa und auf die halb leer getrunkene Flasche Bier auf dem Tisch.
»Ähm, nein, danke, sehr freundlich. Das ist leider kein Höflichkeitsbesuch.«
Körber starrte ihn an. Er zog die dunklen Augen so weit zusammen, dass sich die buschigen Brauen über der Nasenwurzel trafen, wodurch sein Blick unheimlich wirkte.
Bruno zwang sich, nicht zurückzuweichen. »Waren Sie kürzlich mal in Ihrem Keller?«
»In meinem … Keller?« Körber trat einen Schritt auf ihn zu. »Was soll die Frage?«
»Sie … äh … Sie haben es vorhin selbst angesprochen. Das Wetter. Der Boden ist hier aufgrund der Nähe zum Bodden nässegefährdet.« Das betraf allerdings nicht dieses Grundstück, was die einige Jahre zurückliegenden Ereignisse eindrucksvoll bewiesen hatten. »Das wissen Sie ja bestimmt von Ihren Baugutachten«, fuhr Bruno dessen ungeachtet fort. »Ich bin sicher, Sie haben geeignete Schutzmaßnahmen ergriffen, dennoch wollte ich es nicht versäumen, Sie vor dem zusätzlichen großen Risiko der Überflutung durch das Unwetter und den heftigen Regen zu warnen.«
Als Körber nicht gleich reagierte, fügte er hinzu: »Ich weiß, wovon ich spreche, mein Haus steht drüben am Grünen Weg, Ecke Hafenstraße.« Tatsächlich stand in der Hafenstraße gelegentlich Wasser, aber dazu war weit mehr Wetter vonnöten als in dieser Nacht.
Körber legte den Kopf schief. »Sehr freundlich«, sagte er schließlich im selben Tonfall wie Bruno vorhin. »Darf ich fragen, warum Sie damit gerade heute zu mir kommen? Regnet ja nicht zum ersten Mal, seit ich hier wohne.«
Auf Brunos Stirn bildete sich eine kleine Schweißperle. Er brauchte dringend eine Erklärung. »Richtig. Heute gab es aber eine spezielle Warnung von der freiwilligen Feuerwehr, dass es aufgrund von Überschwemmungen zu Einsätzen kommen kann. Ich bin Ehrenmitglied, müssen Sie wissen, und erfahre solche Dinge daher ebenfalls.«
»Und da gehen Sie von Haus zu Haus und sagen allen Bescheid?«
»Die Wustrower wissen für gewöhnlich, wann sie sich auf was einzustellen haben. Sie dagegen sind neu auf dem Fischland.« Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »War nur gut gemeint. Sie müssen selbstverständlich nichts auf meinen Hinweis geben«, sagte er einen Tick schärfer und bewegte sich auf die Terrassentür und seine Schuhe zu. Falls er noch Zeit hätte, sie anzuziehen. Oder sie überhaupt zu erreichen.
Körber trat ihm nämlich in den Weg und schürzte die Lippen. »Sie wollen also, dass ich in meinen Keller sehe«, sagte er ein klein wenig zu leise. »Wie wäre es denn, wenn Sie mich begleiten?«
Das war genau das, was Bruno ursprünglich vorgeschwebt hatte. Angesichts von Körbers Tonfall und seiner drohenden Haltung konnte er sich allerdings nur zu gut vorstellen, was er im Keller vorfinden würde. Es war eindeutig ratsamer, den Rückzug anzutreten und sofort Kay Dietrich zu verständigen.
»Ich glaube nicht, dass das notwendig ist«, sagte Bruno und wollte Körber umgehen.
Der trat ihm abermals in den Weg.
»Aber ganz im Gegenteil. Sie sollten sich unbedingt selbst vom Zustand meines Kellers und der darin befindlichen Güter überzeugen.« Körber ließ eine schwere Hand auf Brunos Schulter fallen.