15

Paul spürte Kassandras Griff schwächer werden.

»Halt durch!«, rief er, ohne jede Gewissheit, ob sie ihn überhaupt verstand. Es kostete ihn alle Kraft, ruhig den Fuß auf die nächste Sprosse zu setzen.

»Du bist fast unten!«

Haralds Stimme hörte er wie durch einen Nebel, weil er entsetzt merkte, dass Kassandra endgültig von seinem Rücken glitt.

»Ich hab sie!«, versicherte ihm Harald.

Die Last war von Pauls Körper verschwunden, nicht jedoch von seinem Herzen. Die Angst bohrte sich noch tiefer in seine Brust, als er sich umdrehte und Kassandra auf dem nassen Rasen vor der Stinne liegen sah, ihren Kopf gebettet in Haralds Schoß. Er kniete neben den beiden nieder, nahm Kassandras eiskalte Hand und strich über ihre Wange.

»Hast du den Rettungswagen gerufen?«, fragte er Harald.

»Ja, die konnten mir aber nicht sagen, wie lange sie brauchen. Ist viel los bei dem Wetter.«

Von Anfang an hatte Paul mit erschreckender Klarheit gewusst, dass sie sich darauf nicht verlassen konnten. Er erhob sich. »Ich bring sie selbst in die Klinik.«

»Paul?«

Er fuhr herum. Kassandras Augen waren geöffnet, sie starrte ihn an, doch er konnte nicht sagen, ob sie ihn wirklich sah. »Es kommt alles in Ordnung, Liebes, keine Sorge.«

Kaum je war ihm etwas so schwergefallen, wie sich jetzt umzudrehen und Kassandra bei Harald zurückzulassen, selbst wenn es nur wenige Augenblicke waren. Er rannte zum Kuhleger, wo Pechsteins Auto stand. Noch im Laufen zog er den Schlüssel aus seiner Hosentasche und drückte darauf. Entfernt hörte er ein Piepen und sah ein kurzes Aufblinken am Straßenrand, wo eigentlich niemand parken durfte.

Er saß noch nicht ganz hinterm Steuer, als er den Motor schon anließ, ein Stück anfuhr, dann zurück zur Stinne bretterte und einen Meter vor Harald und Kassandra mit rutschenden Reifen hielt. Inzwischen hockten Jonas und Marlene neben ihnen, Jonas redete offenbar mit Kassandra, ein gutes Zeichen, denn das hieß, dass sie ansprechbar war.

Paul hob Kassandra auf seine Arme. »Ich bring dich nach Ribnitz, die Ärzte …«

»Heinz«, unterbrach Kassandra schwach. »Du musst Heinz finden.«

»Das mache ich anschließend, versprochen.«

»Nein, jetzt, bitte!«

Paul wusste nicht, ob er wütend oder erleichtert sein sollte, dass Kassandra genug Kraft für eine Diskussion hatte. Vorsichtig verfrachtete er sie auf den Beifahrersitz und schnallte sie an.

»Bis ich wieder hier bin, kümmern sich dein Vater, Bruno und Kay darum, Heinz zu finden.«

»Hm«, machte sie. »Aber … keine … Polizei.«

Harald steckte den Kopf in den Wagen. »Herr Dietrich hat so weit alles geregelt«, sagte er. »Ich habe seine Instruktionen weitergegeben an jemanden namens Rieka.«

»Hm«, machte Kassandra wieder. Diesmal klang sie erleichtert. Sie schloss die Augen. Ihr Kopf rutschte zur Seite.

Paul war nicht sicher, ob sie ohnmächtig geworden oder vor Erschöpfung eingenickt war. »Harald, sollte es für dich hier nichts zu tun geben, würdest du mitkommen? Mir wäre wohler, wenn ich wüsste, dass jemand bei Kassandra ist, wenn ich zurück nach Wustrow fahre.« Falls ich zurückfahre, dachte er bei sich.

Während Harald hinten einstieg, wandte Paul sich an Jonas. »Behalt die anderen im Auge. Ich weiß, du kannst sie nicht dran hindern, ihrer Wege zu gehen, trotzdem …«

»Ich tu, was ich kann.«

Unter Umgehung jeglicher Geschwindigkeitsbegrenzung brauste Paul dem Sturm entgegen auf der L21 Richtung Ribnitz, während Harald zuerst den RTW abbestellte und anschließend berichtete, was sich außerhalb der Stinne getan hatte.

»Und du hast inzwischen weder was von Bruno noch von Kay gehört?«, fragte Paul beunruhigt.

»Nichts. Auch von dieser Rieka nicht. Sie klang allerdings sehr effizient, ich nehme daher an, sie meldet sich nur, wenn es was Bahnbrechendes mitzuteilen gibt. Ich selbst hab noch mal versucht, Hellwerth zu erreichen, den Boss der Hülskamp – vergeblich.«

»War zu erwarten. Selbst wenn er nicht mit drinstecken sollte, hat er gute Gründe, sich tot zu stellen.«

Gerade kam die Kreuzung in Dierhagen in Sicht, die Ampel war ausgeschaltet, Paul schaute nach links und rechts, ohne groß die Geschwindigkeit zu reduzieren. Nichts. Wer war bei diesem Wetter auch freiwillig unterwegs? Er brauste durch. Eine Weile blieb es still, von draußen drang nicht mal das Heulen des Windes herein. Paul war froh, dass Pechstein einen SUV fuhr, der ruhig und sicher auf der Straße lag. Immerhin ein Vorteil dieser Dinger. Einen kurzen Moment dachte er an den undurchschaubaren, extrem schlecht einzuschätzenden Mann, dann galten seine Gedanken wieder Kassandra.

Als hätte sie das gespürt, kam ein schwaches »Paul?« von ihr.

Er warf ihr einen Seitenblick zu. Sie hatte die Augen geöffnet und sah ihn an.

»Wir sind bald da, halt durch.«

»Ich hab Durst.«

Paul hatte keine Ahnung, ob im Auto eine Wasserflasche lag, hätte ihr aber ohnehin nicht beim Trinken helfen können oder auch nur gewusst, ob sie in ihrem Zustand überhaupt etwas trinken durfte.

»Ich drücke auf die Tube«, sagte er. »Im Krankenhaus bekommst du was.«

Kassandra murmelte etwas. Hatte sie »Ich liebe dich« gesagt?

»Ich liebe dich auch«, antwortete er. »Würde ich sonst den Blitzer in Körkwitz riskieren?«

Kassandra gab ein Geräusch von sich, das vage an ein Lachen erinnerte. »Seit wann … steht da … einer?«

Gut, dachte er, sie kriegt alles mit. Dann hörte er sie laut aufstöhnen.

»Hast du Schmerzen?«

»Mhm«, brachte sie heraus. Sie atmete schwer.

Paul fluchte innerlich und gab noch mehr Gas, obwohl er gerade das Ortsschild von Ribnitz passiert hatte. Das Stöhnen brach ab. Erneut warf er einen Blick auf sie, weil er befürchtete, sie wäre wieder ohnmächtig geworden. Doch ihre Augen waren geöffnet.

»Besser?«

Sie nickte.

»Hattest du schon mal Krämpfe?«

»Hm.«

Offenbar kamen die Schmerzen in Wellen. Paul hoffte, dass die Pausen dazwischen lang waren und blieben.

Die Bodden-Kliniken kamen in Sicht, im selben Augenblick raste ein Rettungswagen mit Blaulicht in entgegengesetzter Richtung an ihnen vorbei. Wer weiß, wie lange sie in Wustrow auf einen RTW hätten warten müssen? Paul war doppelt froh, Kassandra selbst hergebracht zu haben. Er hielt vor der Notaufnahme.

»Warte hier bei ihr«, bat er Harald. »Ich alarmiere die Ärzte.«

Beinahe hätte er im Eingang jemanden umgerannt, er nahm sich nicht mal die Zeit, sich zu entschuldigen, stand schließlich vorm Empfang, unterbrach rüde ein Gespräch zwischen einer Ärztin und einer Schwester und schilderte Kassandras Fall. Die Ärztin, im ersten Moment ärgerlich über die Störung, reagierte sofort, rief jemanden mit einer Trage, gab weitere Anweisungen und kam dann mit raus.

Paul beobachtete, wie Kassandra auf die Trage gehoben und in einen Behandlungsraum gerollt wurde. Er wollte folgen, doch die Ärztin schob ihn zurück. »Warten Sie bitte draußen. Wir kümmern uns um Ihre Frau.«

Paul ließ sich auf einen Stuhl fallen und stützte den Kopf in die Hände. Wir kümmern uns um Ihre Frau, hallte es dabei in ihm nach. Er hatte das so angegeben. Es ging schneller, schien einfacher, logischer – und völlig selbstverständlich. Warum hatten sie eigentlich nie geheiratet?

Er spürte, dass jemand neben ihm Platz nahm, eine Hand auf seine Schulter legte. »Sie wird das schaffen, Paul«, sagte Harald. »Sie hat schon so viel überstanden, das steckt sie auch noch weg. Sie wird der Hülskamp keinen Triumph gönnen.«

Paul schaute auf. Haralds Gesicht war grau, unter seinen Augen lagen Schatten. Er machte sich bestimmt große Sorgen um seine Tochter. Trotzdem versuchte er, ihn aufzubauen. Paul rang sich ein Lächeln ab.

Dann warteten sie schweigend. Die Sekunden verstrichen quälend langsam. Paul dachte an Kassandra, an die zurückliegenden Jahre, an so viele kostbare Momente mit ihr. Es machte ihn schier wahnsinnig, hilflos hier zu sitzen. Bewusst lenkte er seine Gedanken zu Heinz, Bruno und Kay und den unbekannten Gefahren, in denen sie schwebten, doch nach kurzer Zeit war er wieder bei Kassandra, die schließlich sein ganzes Denken beherrschte.

Die Tür zum Schockraum glitt auf. Paul war so schnell auf den Beinen, dass der Stuhl umkippte. Der Arzt, der herauskam, guckte irritiert und trat dann auf eine fremde Frau zu, die ihm ängstlich entgegensah. Erst da begriff Paul, dass sich der falsche Raum geöffnet hatte. Der verzagte Blick der Frau verwandelte sich in Erleichterung, und Paul wünschte, sie selbst bekämen ebenfalls bald eine gute Nachricht. Inzwischen hatte Harald den Stuhl aufgehoben, Paul setzte sich wieder.

»Wieso dauert das so lange?«, flüsterte er.

»Kassandra ist noch nicht mal eine Viertelstunde dadrin«, sagte Harald. »Die müssen erst mal rausfinden, was sie eigentlich geschluckt hat, damit sie entsprechende Maßnahmen einleiten und das richtige Medikament verabreichen können.«

Eine Viertelstunde? Paul hatte das Gefühl, schon ewig zu warten. Doch ein Blick auf die Uhr gab Harald recht und Paul Gelegenheit, sich auszurechnen, wie viel Zeit noch blieb, um Heinz aus der Bredouille zu helfen. Wo mochte er stecken? Wirklich auf dem Norderfeld oder in der Hafenstraße? Beides interessanterweise Schauplätze früherer Fälle, die Nicola leicht recherchiert haben konnte. Er stutzte. War das ein Hinweis? Welche anderen Orte hatten bei ihren Fällen eine Rolle gespielt, speziell dem ersten?

»Habt ihr in Kassandras Pension nach Heinz gesehen?«, fragte Paul.

Harald war tief in Grübeleien versunken gewesen, er brauchte etwas Zeit, bis er antworten konnte. »Noch bevor wir wussten, dass Heinz entführt wurde, habe ich ihr Haus auf den Kopf gestellt, sogar im Anbau, und Bruno deins auf der Suche nach euch. Da war niemand. Außerdem gibt’s da keine Holzwand.«

»Pechstein behauptet nur, eine erkannt zu haben. Das muss nicht unbedingt zuverlässig sein«, erwiderte Paul und zermarterte sich weiter das Hirn. Wo könnte Heinz noch hingebracht worden sein? In die Seefahrtschule? Damals eine Ruine, heute voller Urlauber und daher kein ideales Versteck. Paul richtete sich auf. Eine abgelegene Ferienunterkunft dagegen eignete sich durchaus: das Haus in Ribnitz, in dem Tina Bodenstedt untergekommen war, und dort hatte es einen Fahrradschuppen gegeben!

»Kann ich mal dein Telefon haben?«, fragte er Harald.

Der hob die Brauen, während er es ihm reichte. »Wen willst du anrufen? Doch nicht Kay Dietrich?«

Paul schüttelte den Kopf. »Rieka. War das die letzte Nummer, die du gewählt hast? Ich weiß sie nicht auswendig.«

»Du kennst die Frau?« Dann runzelte Harald plötzlich die Stirn. »Moment mal. Ist das die, die ihr bei dem Brandstiftungsfall kennengelernt habt?«

Abwesend, weil er gerade das Haus und die genaue Adresse recherchierte, nickte Paul. Aus unerfindlichem Grund hatte es sich nie ergeben, Harald mehr von ihr zu erzählen.

Da, er hatte es! Man konnte das Haus immer noch mieten. Er tippte Riekas Nummer an.

»Herr Barthel«, meldete sie sich, »was ist …«

»Hier ist Paul«, unterbrach er sie. »Es geht um Heinz und einen möglichen Schlupfwinkel.« Er gab ihr die Informationen durch. »Kannst du in Erfahrung bringen, wer das gerade gemietet hat oder wessen Telefon sich da befindet? Ich kann selbst nicht hinfahren, sitze bei Kassandra in der Notaufnahme. Sie wurde vergiftet.«

Das musste Rieka erst verdauen. »Scheiße«, sagte sie dann. »Wie …«

»Stehen die Chancen? Ich weiß es nicht. Könntest du wegen des Hauses …«

»Ja, natürlich, ich melde mich, sobald ich was habe«, sagte Rieka und verabschiedete sich.

»Was ist das für …«, begann Harald, als sich wieder eine Tür zu einem Schockraum öffnete, ein Pfleger davoneilte und die Ärztin von vorhin auf Paul zukam.

Diesmal stand er langsamer auf, wobei er versuchte, aus dem ernsten Gesichtsausdruck der Ärztin schlau zu werden.

»Oleander«, sagte sie.

Paul glaubte, sich verhört zu haben. »Wie bitte?«

»Ihre Frau leidet höchstwahrscheinlich an einer Vergiftung durch das Glycosid Oleandrin. Das passt sowohl zu den meisten Symptomen, die Sie schilderten, als auch zu dem hohen Kaliumspiegel in ihrem Blut.«

Die Art des Giftes interessierte Paul im Augenblick am wenigsten. »Wird sie wieder gesund?«

»Wir tun unser Möglichstes. Oleander enthält eine Substanz, die Digoxin ähnelt, einem Herzmedikament. Ihre Frau bekommt ein Mittel, das normalerweise zur Behandlung einer Digoxin-Überdosis verwendet wird.«

»Was heißt das, Sie tun Ihr Möglichstes?«, schaltete Harald sich ein, sein Tonfall ungeduldig. Nur Paul hörte die Angst heraus. »Wird sie durchkommen?«

»Und wer sind Sie?«, fragte sie ruppig.

»Ihr Vater.«

»Oh.« Ihr Blick wurde sanfter. »Sie ist gerade noch rechtzeitig eingeliefert worden, etwas später, und ich hätte diese Frage lieber nicht beantwortet. Allerdings …« Sie wandte sich wieder an Paul. »Ihre Frau meint, jemand hat sie absichtlich vergiftet. Da sie ebenfalls über kurze Verwirrtheitszustände berichtete, üblicherweise eher die Folge einer Opiatvergiftung, frage ich mich, wie ich diese Aussage zu bewerten habe.«

Paul blinzelte. »Ich fürchte, sie hat recht, Frau Doktor …«, er versuchte, das Schildchen an ihrem Kittel zu lesen, »Grigoleit.«

»Dann werde ich umgehend die Polizei verständigen.«

»Die ist bereits verständigt und wird Kassandra befragen, sobald sie dazu in der Lage ist«, sagte Paul und wechselte schnell das Thema. »Wenn diese Verwirrungszustände nicht passen – sind Sie sicher, dass Sie die richtige Art von Vergiftung behandeln?«

Dr. Grigoleit nickte. »Möglicherweise war ein Opiat beigemischt, oder die Verwirrung wurde durch die Kopfschmerzen und die Übelkeit hervorgerufen. Ich kann Sie aber beruhigen, Ihre Frau hat schon auf das Medikament angesprochen, sonst hätte sie meine Fragen nicht hinreichend beantworten können.«

»Danke.« Endlich erlaubte sich Paul, Erleichterung zuzulassen. »Kann ich zu ihr?«

»Natürlich.« Sie deutete auf die fast geschlossene Schiebetür. »Wir nehmen Frau Voß stationär auf, sie kann aufmunternde Gesellschaft brauchen, bis sie auf ihr Zimmer gebracht wird. Bitte entschuldigen Sie mich jetzt.« Damit lief sie dem nächsten, gerade eingelieferten Notfall entgegen.

Paul schob die Tür ganz auf. Mit geschlossenen Augen lag Kassandra auf einer Behandlungsliege, auf ihrem Handrücken eine Portkanüle, durch die eine Infusion in ihren Körper tropfte. Vorsichtig berührte er ihre Wange. Langsam, wie in Trance, schlug sie die Augen auf.

»Paul?« Sie wollte sich aufrichten, doch Paul drückte sie sachte zurück auf die Liege.

»Wie geht es dir?«

»Besser. Du musst … Heinz finden!«

Paul zog sich einen Hocker heran. »Ich muss mich um dich kümmern, Liebes. Aber mir ist eingefallen, wo Heinz sein könnte. Weißt du noch, das Künstlerhaus von Emil Herdes in Ribnitz, in dem Tina …«

»Ja! Ja, das … könnte sein. Gib Kay … Bescheid.«

»Das habe ich schon.«

Indirekt wenigstens, dachte Paul. Keinesfalls würde er Kassandra jetzt beunruhigen, indem er ihr erzählte, dass sowohl Kays als auch Brunos Verbleib fraglich war.

»Gut«, sagte sie erleichtert, doch gleich darauf zeigte sich eine tiefe Sorgenfalte über ihrer Nasenwurzel. »Vielleicht ist Heinz aber … auch woanders. Du musst zurück … und auch nach ihm … suchen. Je mehr Leute, desto … besser. Bitte! Mir … geht’s gut, wirklich.«

Paul war hin- und hergerissen. Er wollte Kassandra um nichts in der Welt allein lassen. Aber er wusste auch, dass er ihr wahrscheinlich am besten half und sie am ehesten Ruhe fand, wenn er tat, was sie wollte.

»Geh ruhig und nimm mein Telefon mit«, sagte Harald. »Ich bleibe hier und passe auf.«

Noch immer schwankte Paul.

»Bitte!«, wiederholte Kassandra.

Sie wirkte besser bei Kräften, ihr Blick war klarer als vorhin.

Paul seufzte.

»Na schön.«

Er nahm Haralds Telefon und sah ihm direkt in die Augen. Ohne es auszusprechen, bat er darum, ihn sofort zu verständigen, wenn sich an Kassandras Zustand etwas änderte.

Harald nickte kaum merklich, dann wandte er sich Kassandra zu. »Wir zwei Hübschen warten jetzt auf dein Luxuszimmer inklusive Frühstück und überlassen die Arbeit den anderen.«

Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen, dann suchte ihr Blick Pauls. »Ihr findet ihn, ja?«

»Versprochen.«

Paul beugte sich hinunter und küsste sie, dann wandte er sich abrupt ab und schaute sich nicht noch einmal um, sonst hätte er es sich anders überlegt. Außerdem überkamen ihn Zweifel, ob es richtig gewesen war, ihr ein Versprechen gegeben zu haben, das er vielleicht nicht halten konnte. Selbst wenn sie Heinz fanden, mochte es für ihn zu spät sein.

Draußen stieg Paul in Pechsteins SUV und wollte gerade die Adresse des Ferienhauses ins Navi eingeben, als Haralds Telefon klingelte. Rieka.

»Das Haus ist seit einer Woche an eine Erika Hellwerth vermietet. Das ist die Frau des Mannes, der …«

»Ich weiß, danke! Bin unterwegs!« Paul startete den Motor und lenkte den Wagen vom Parkplatz. »Irgendeine verwertbare Handynummer im Haus oder der nächsten Umgebung?«

»Keine, die mit den verwickelten Personen in Zusammenhang steht. Wobei ich das im Hinblick auf Gunnar Pechstein einschränken muss. Ich finde absolut keinen Hinweis auf, geschweige denn Beweis für seine bloße Existenz.«

Warum wundert mich das nicht?, fragte sich Paul, während Rieka schon weitersprach.

»Es gibt im Haus noch einen Festnetzanschluss, allerdings gingen seit Äonen weder Anrufe raus noch rein.«

»War nicht anders zu erwarten. Hast du was von Kay gehört oder Bengt Johannsen oder Tobias Harms?«

»Nichts von Kay.« Sie zögerte.

»Rieka, ich versteh deinen Zwiespalt, aber das hier ist wichtig!«

»Ich weiß. Weder erhellende Nachrichten von Bengt noch von Tobias, beide sind ebenfalls ohne Kontakt zu Kay, und ich habe Mühe, Tobias davon abzuhalten, nach ihm am Norderfeld zu suchen. Es …«

»Was?«, fragte Paul, als Rieka innehielt.

»Gesetzt den Fall, du hast recht mit dem Haus in Ribnitz, dürfte am Norderfeld alles in Butter sein. Kays Telefon ist noch da und eingeschaltet. Bestimmt gibt es einen guten Grund, weshalb er sich nicht meldet.«

»Ja, mag sein. Aber erstens wissen wir nicht sicher, ob Tina Bodenstedts Haus die richtige Spur ist. Zweitens müssen Heinz und die Hülskamp oder ihre Helfershelfer nicht zwangsweise am selben Ort sein. Was ist mit Bruno Ewalds Telefon? Ist das noch in der Hafenstraße bei diesem Körber?«

»Moment.«

Paul hörte Rieka etwas tippen, dann war sie wieder da. »Ich weiß es nicht, es ist ausgeschaltet. Vor zehn Minuten habe ich noch ein Signal empfangen.«

»Verdammt!« Paul überlegte angestrengt. »Hör zu, das ist mir alles zu gewagt. Tobias Harms muss nach Kay und Bruno sehen. Sofort.«

»Nein.« Die Antwort kam sehr schnell und sehr entschieden.

»Wie bitte?«

»Das sind Kays eindeutige Instruktionen. Keine Polizeiaktion, bevor er es sagt.«

»Rieka! Er kann es möglicherweise nicht sagen!«

Paul hörte sie schlucken.

»Ich habe Soraya Schmidt und Andreas Körber unter die Lupe genommen. An beiden ist, soweit ich es bis jetzt sehe, nichts Auffälliges, es gibt keine Verbindung zu der Hülskamp oder der Kleve oder Arnold Kesting und …«

»Wo ist der denn?«, fiel Paul ihr ins Wort. »Auch noch auf dem Norderfeld? Harald sagte, Kay wollte ihn mitnehmen.«

»Hat er getan, beide Telefone sind …« Sie verstummte, bevor sie leise fortfuhr: »Waren auf Heiko Jordans Hof. Das von Kesting ist jetzt aus.« Sie holte tief Luft und kämpfte offenbar mit sich. »Okay. Ich grabe noch tiefer bei Schmidt und Körber – und ich warte zwanzig Minuten, dann sind zwei Stunden um, seit Kay und Herr Ewald los sind. Wenn sich bis dahin nichts an der Situation ändert, rede ich mit Tobias.«

Bevor Paul etwas erwidern oder protestieren konnte, dass das zu lange dauerte, hatte sie aufgelegt. Vielleicht war es falsch, entgegen Kays Anweisungen zu handeln, aber die Gefahr wuchs mit jeder Minute. Paul fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Es gab noch eine Option, fiel ihm ein.

Das Navi zeigte sein Ziel, das alte Künstlerhaus, in etwa dreihundert Meter Entfernung an. Er hielt am Straßenrand, nahm das Telefon aus der Halterung und scrollte in Haralds Kontaktliste, bis er Jonas’ Nummer fand. Er tippte sie an, stieg aus und machte sich, das Handy am Ohr, zu Fuß auf den Weg, um die Person, die derzeit im Haus war, nicht frühzeitig auf sich aufmerksam zu machen. Das Tuuut-tuuut schien endlos, was eine ganze Reihe unerfreulicher Bilder vor Pauls innerem Auge hervorrief, bis Jonas sich meldete.

»Ja, Herr Barthel? Wie geht es Kassandra?«

»Ich bin’s, Paul.« Er berichtete, was sich ereignet hatte, was er von Harald wusste und wo er war. Da Jonas ihn nicht mit der freudigen Botschaft unterbrach, dass sie Heinz bereits gefunden hatten, fragte er erst gar nicht danach. »Sind Kay Dietrich oder Bruno aufgetaucht, oder habt ihr was von ihnen gehört?«

»Nichts, leider.«

Paul näherte sich dem Wäldchen, das er durchqueren musste, um zum Künstlerhaus zu kommen. Obwohl er noch zu weit entfernt war, senkte er die Stimme. »Es ist viel verlangt, aber bitte geht nachsehen. Ich weiß nicht, ob ihr etwas in Erfahrung bringen könnt, aber es wird noch dauern, bis Tobias Harms seine Leute schickt, und vielleicht geht es schneller, wenn ihr schon mal die Lage sondiert habt.«

»Wir tun unser Bestes«, versprach Jonas. »Hab ohnehin etwas gutzumachen. Ich … ähm …« Er druckste.

»Was ist?«, fragte Paul alarmiert und blieb auf dem Waldweg stehen. Ein Zweig knackte unter seinen Füßen.

»Pechstein ist mir entwischt. Ich habe nur kurz mit Marlene geredet, die vorschlug, Anni mit zu uns zu nehmen unter dem Vorwand, sie solle jetzt besser nicht allein sein. In dem unbeobachteten Moment hat Pechstein sich in Luft aufgelöst. Tut mir leid.«

»Nicht zu ändern«, sagte Paul ruhiger, als er war. Er versuchte, nicht daran zu denken, wie viel größer die Chance gewesen wäre, Nicola zu finden, falls Pechstein und sie zusammenarbeiteten. Aber schließlich hatte Jonas unmöglich seine Augen überall haben können. Paul setzte sich wieder in Bewegung. »Was ist mit den Wagners und Anni? Ist sie bei euch?«

»Ja, Marlene kümmert sich. Violetta hat sich an die Wagners gehängt, die zurück in die Seefahrtschule und nicht wieder rausgekommen sind, zumindest soweit Violetta das von ihrem Beobachtungsposten verfolgen kann. Ich hab ihr Marlenes Mini gebracht, sie steht damit am Rande der Tiefgarage und hat den Haupteingang im Blick.«

»War die Polizei noch bei Heinz’ Haus, als ihr zurückkamt?«

»Nein, alles ruhig da. Harms muss seine Leute abgezogen oder irgendwo in Wartestellung positioniert haben. Bei der Stinne sind die auch nicht aufgekreuzt.«

Früher wäre Tobias Harms weniger zurückhaltend gewesen und längst eingeschritten, dachte Paul. Immerhin lagen zwei Leichen auf der Stinne. Harms musste großes Vertrauen zu Kay haben und glücklicherweise den Lebenden, sprich Heinz, mehr Bedeutung beimessen als den Toten.

»Ich lauf jetzt zum Norderfeld«, sagte Jonas, »und bitte Jens und Gerlinde, in der Hafenstraße nach dem Rechten zu sehen.«

»Danke.«

Paul beendete das Gespräch. Mittlerweile war er am Rand des Wäldchens angekommen. Mit zusammengekniffenen Augen ließ er seinen Blick über die Lichtung schweifen, wo das Ferienhaus nur fünfzig Meter vom Bodden entfernt stand. Er wusste noch, dass es rot verputzt war, mit Rohrdach, weißer Tür und weißen Fensterläden. In der Finsternis jedoch erkannte er bloß die Umrisse. Kein Lichtschein drang heraus, ganz normal mitten in der Nacht, und er hörte nicht das Geringste außer dem Rauschen der Bäume im Wind.

Auch beim Näherkommen wirkte alles menschenleer. Die Fensterläden waren geschlossen, es stand kein Auto auf dem Stellplatz, kein Fahrrad im Ständer vor dem Schuppen. Vorsichtig umrundete er ihn und probierte ohne große Erwartung die mit einem Vorhängeschloss gesicherte Tür. Dabei bemerkte er, dass das Schloss nur lose eingehängt war. Er entfernte es möglichst geräuschlos, doch seine Bemühungen wurden gleich darauf vom einem Quietschen beim Öffnen der Tür zunichtegemacht. Jetzt war es ohnehin zu spät. Er schaltete die Taschenlampenfunktion von Haralds Handy ein und leuchtete ins Innere. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass in letzter Zeit jemand hier gewesen war.

Paul hängte das Schloss wieder ein und wandte sich dem Haus zu, das von jeder Seite denselben verlassenen Anblick bot. Er lauschte an Tür und Fenstern, doch obwohl der Wind nachließ, konnte er aus dem Inneren nichts hören. Schließlich probierte er, die Fensterläden an der Rückseite zu öffnen. Bei den ersten beiden erfolglos, beim dritten gelang es ihm mit einiger Anstrengung, sodass er ins Innere des Zimmers spähen konnte. Unmittelbar unterhalb des Fensters stand ein Bett, mehr war nicht zu erkennen. Er rüttelte leicht am Rahmen des Fensters, das sich überraschenderweise aufdrücken ließ.

Sein erster Instinkt war, sich aufs Fensterbrett zu schwingen. Doch während der offene Schuppen gerade noch für eine Nachlässigkeit durchgehen mochte, waren zwei leicht zugängliche Räumlichkeiten ein bisschen zu viel des Zufalls. Das hier war wie eine Einladung und roch geradezu nach einer Falle. Andererseits musste er sich vergewissern, ob Heinz hier war oder nicht. Entschlossen drückte er das Fenster auf, kletterte hindurch und hockte sich aufs Bett. Ergebnislos horchte er in die Dunkelheit und zog schließlich die Schuhe aus, um auf den Flur zu schleichen. Wieder horchte er. Nichts.

Nach und nach überprüfte er die unbewohnt wirkenden Räume und kam schließlich in den Wohn-Ess-Bereich. Wenn sich hier wirklich niemand für länger aufhielt, würde er das am ehesten am Kühlschrank erkennen. Im ersten Moment blendete ihn das Licht. Als er wieder besser sehen konnte, ging ihm die befremdliche Tatsache auf, dass die Beleuchtung angegangen war, obwohl keine Lebensmittel im Kühlschrank lagerten. Er war komplett leer. Das hieß – nicht ganz. Im oberen Fach lag ein Zettel. Langsam zog Paul ihn heraus und las die Botschaft: »Nicht schlecht. Aber nicht gut genug. Mehr Glück beim nächsten Mal.«

Paul knallte die Kühlschranktür zu, zerknüllte das Blatt und pfefferte es in die nächste Ecke. Mit einem Mal fühlte er sich machtlos, voller Zorn und verspürte den Drang, etwas zu zerstören. Dann atmete er langsam durch. Mit Wut kam er nicht weiter. Er hob das Papierknäuel mit spitzen Fingern auf, für den Fall, dass verwertbare Spuren daran waren, verließ das Haus wieder durch das Fenster, lief zum Wagen, wo er das Papier auf den Beifahrersitz warf, und raste zurück Richtung Wustrow. Auf dieser Strecke stand tatsächlich ein Blitzer, aber der war ihm herzlich egal.

Er dachte an Kassandra, die sich auf ihn verließ. An Heinz, der womöglich nicht mehr lange zu leben hatte. Und schließlich an Kay und Bruno, die inzwischen Gott weiß was durchmachten.