20

Paul fiel der ganze Bakelberg vorm Herzen, als er zu erkennen glaubte, wer vom Jordan-Hof auf ihn zukam. Die Stimmen konnte er nicht auseinanderhalten, obwohl der Wind kaum noch der Rede wert war, und bald schwiegen sie. Doch war ihm die Art, wie einer der Männer sich bewegte, so vertraut, dass er sich langsam aufrichtete, als die vier auf der Straße standen, nah genug, um auch Tobias Harms und Arnold Kesting zu identifizieren. Bei der Frau musste er genauer hinsehen. Er war Karola von Bennigsen bisher nur zweimal kurz begegnet.

»Paul!«, sagte Kay. »Alles in Ordnung bei euch, habt ihr Heinz Jung gefunden?«

Paul wollte antworten, doch anscheinend hatte sein Ausdruck bereits genug verraten. Kays Züge wurden ernst.

»Also nicht. Weil Kassandra nicht bei dir ist, dachte ich, sie kümmert sich um ihren Onkel.«

»Ich wollte, es wäre so.« Grob erklärte Paul die Lage, wobei sein Blick abwechselnd auf Kay, Harms, Karola von Bennigsen und Arnold Kesting fiel. Es war ein seltsames Gefühl, Kesting wieder gegenüberzustehen. Er verdrängte es und ließ sich nichts anmerken. »Das heißt, Heinz ist weder auf dem Jordan-Hof noch bei Andreas Körber«, schloss er.

»Nach dem zu urteilen, was Sie und Kay berichten, können wir beides nicht endgültig ausschließen«, warf Karola von Bennigsen ein.

Anschließend setzte Kay seinerseits Paul knapp ins Bild. Als Paul nicht sofort darauf reagierte, sagte er:

»Du weißt was, das wir nicht wissen. Was?«

Paul zog den kleinen Diamanten aus der Hosentasche. »Den habe ich bei Körber im Keller gefunden. Das spricht dafür, dass die Vorkommnisse bei Andreas Körber und Soraya Schmidt zusammenhängen, was wiederum bedeutet, dass sich keiner von beiden auch noch Heinz’ Entführung ans Bein gebunden hätte. Die haben genug mit ihrem eigenen Kram zu tun.«

»Was die Angelegenheit umso schwieriger macht«, meinte Arnold Kesting, »weil wir nun erst recht nicht wissen, wo wir Herrn Jung suchen sollen.«

»Möglicherweise doch«, sagte Kay. »Soraya Schmidt hat Nicola Hülskamp vor ein paar Stunden am Hafen gesehen. Welchen Grund kann sie gehabt haben, dort hinzugehen, wenn es nichts mit ihrem Plan zu tun hat?«

»Was hat sie gemacht?«, wollte Paul wissen.

»Das Zeesboot angestarrt.«

Ein Ruck ging durch Paul. Seine Überlegung zu den Schauplätzen des damaligen Falles fiel ihm wieder ein.

»Welches Boot?«, fragte er angespannt. »War es die Tante Mine?«

»Keine Ahnung, sie sprach allgemein von einem Zeesboot.«

Arnold Kesting räusperte sich. »Sie sagte wörtlich, Nicola Hülskamp ›starrte ewig auf das vertäute Zeesboot, als gäbe es da nur für sie etwas zu sehen‹. Für mich klingt das, als hätte überhaupt bloß eines im Hafen gelegen. Sonst hätte sie sich anders ausgedrückt.«

Das sah Paul genauso. Ein ungutes Gefühl machte sich in seinem Magen breit. Normalerweise lagen zwei Zeesboote am Kai. Welches lag da jetzt? Und wo war das andere?

»Das Boot, auf dem Jonas mich damals festsetzte«, fuhr Kesting fort, »damit Sie und Kassandra freie Bahn nach Rostock hatten – war das die Tante Mine? Ich habe nie auf den Namen geachtet.«

»Ja. Meinen Sie, Ihre Schwester könnte so ticken? Die Orte wählen, an denen Ihnen unrecht getan wurde?«

»Margots Meinung nach unrecht getan wurde«, ergänzte Kesting. »Durchaus vorstellbar.«

»Wir müssen sofort zum Hafen!« Paul machte schon auf dem Absatz kehrt.

»Stopp«, hielt Tobias Harms ihn auf. »Das ist keine Sache für Zivilisten mehr. Ich benachrichtige die Kollegen, dann werden mein Team und ich …«

»Nein!«, protestierte Paul. »Wir wissen nicht, wo Nicola ist und ob sie den Hafen beobachtet, und sei es durch eine Webcam. Keine Polizei, kein Risiko. Ich gehe allein.«

»Nehmen Sie mich mit«, sagte Arnold Kesting. »Wenn es hart auf hart kommt, kann ich vielleicht vermitteln.«

Paul wusste nicht, ob das ein guter oder schlechter Vorschlag war, er wusste nur, dass er sich beeilen musste. »Von mir aus.«

Doch Kay entschied anders. »Nein, Herr Kesting, Sie halten sich ab jetzt raus.«

Verärgert runzelte Kesting die Stirn. »Sie trauen mir immer noch nicht.«

Pauls Geduld war am Ende. »Heinz bleibt nur noch eine Viertelstunde, macht, was ihr wollt, ich bin weg.« Die anderen redeten weiter, aber er achtete nicht mehr darauf, was gesagt wurde. Hauptsache, niemand hielt ihn auf. Er saß schon im SUV und hatte den Motor gestartet, da öffnete sich die Beifahrertür. Kay stieg ein.

»Worauf wartest du? Fahr los!«, sagte er.

Mit quietschenden Reifen schoss Paul vorwärts. »Ich sagte doch: keine Polizei.«

»Ich bin keine Polizei, ich bin Sven Larsen«, stellte Kay fest.

»Leider nicht für Nicola Hülskamp. Die weiß genau, wer du bist.« Paul bretterte auf die Strandstraße und ließ sich nicht von den Schwellen aufhalten. Sie machten Pechsteins Wagen nichts aus.

»Das spricht dafür, dass die Hülskamp tatsächlich Margot Kleve ist.«

»Sie könnte von Kestings Schwester auch nur gut instruiert worden sein«, gab Paul zu bedenken.

»Auf jeden Fall hat sie nicht eingegriffen, als ich auf der Bildfläche erschien.«

Mittlerweile hatte Paul die Thälmann-Straße hinter sich gelassen und kurvte in die Hafenstraße. »Zuerst war sie nicht begeistert, dann schien sie zu finden, dass es ihrem Spiel einen spannenden Kick verleiht. Wer weiß also, was sie jetzt tut?«

»Ganz richtig, das wissen wir nicht. Daher ist es besser, zu zweit zu sein«, stellte Kay fest. »Und bewaffnet.«

Dem konnte Paul nicht widersprechen. Punktgenau hielt er in der Hafeneinfahrt. Schon im Aussteigen sah er, dass am Kai wirklich nur ein Zeesboot lag, und es war nicht die Tante Mine. Paul rannte an der Fischland-Königin vorbei, am Hafenbecken und den Stegen weiter hinten entlang. Mit den Augen angestrengt ins Dunkle schauend suchte er auch den gegenüberliegenden Teil des Hafens ab in der Hoffnung, Jonas’ Zeesboot doch noch zu entdecken. Weit weg vom üblichen Platz, um sie in die Irre zu führen und glauben zu machen, dass Heinz nicht hier war. Die Hoffnung trog. Die Fischland-Königin war und blieb das einzige Zeesboot weit und breit.

Paul zückte sein Telefon. »Jonas«, sagte er ohne Vorrede, als sein Freund sich meldete. »Weißt du noch, wo du damals mit deinem angeblichen Motorschaden auf dem Bodden liegen geblieben bist, damit Kesting uns nicht dazwischenfunkte? So exakt es geht, am besten mit Koordinaten.«

»Du vermutest, Heinz Jung ist auf der Tante Mine? Ist die weg?« Ein Anflug von Panik schlich sich in Jonas’ Stimme. Er liebte sein Boot nicht nur, es war Teil seines Lebensunterhalts. Dennoch bemühte er sich um Ruhe und Sachlichkeit. »Bei dem Sturm, den wir vorhin hatten, hätte die Hülskamp einen extrem erfahrenen Skipper gebraucht.«

»Den zu entlohnen, wird sie nicht abgeschreckt haben. Den Standort, Jonas!«

»In der Nähe der Borner Bülten, genauer geht nicht, tut mir leid.«

Ohne sich zu bedanken, beendete Paul das Gespräch, rief die Seenotrettung und gab die nötigen Angaben durch. Mitten in der Nacht war so ein Unternehmen eine besondere Herausforderung, auch wenn der Sturm sich gelegt hatte – was immerhin günstig für den Einsatz von Drohnen mit Wärmekameras war.

»Jetzt«, sagte Paul resigniert, »können wir nur noch warten.« Ein erneuter Blick auf die Uhr sagte ihm, dass Heinz’ Zeit in drei Minuten ablief. »Aber egal, wie schnell die Jungs sind, jede Hilfe kommt zu spät, wenn Nicola ihren Plan einhält.«

»Die Hülskamp hat aus ihrer Sicht ein faires Spiel gespielt«, stellte Kay fest, »das heißt, ihr hattet eine knappe, aber reelle Chance, alle Rätsel zu lösen und von der Stinne zu entkommen. Zuerst zu eruieren, dass Heinz Jung auf der Tante Mine ist, das Boot dann um diese Uhrzeit mitten auf dem Bodden zu finden und Jung zu befreien, ist deutlich weniger machbar. Außerdem braucht es nicht nur einen erfahrenen Skipper, sondern einen, der zusätzlich bereit ist, bei Sturm auf dem Boot zu bleiben – schließlich konnte niemand wissen, wie sich das Wetter entwickelt – und die Geisel zu töten. Es dürfte sehr schwer sein, so eine Person zu finden, und wir können davon ausgehen, dass die Hülskamp selbst auch nicht an Bord ist, um Heinz Jung umzubringen.«

»Wieso nicht? Das ist eine Psychopathin, der traue ich alles zu.«

»Aber lebensmüde ist sie nicht, dann entgingen ihr ja außerdem die Auswirkungen ihrer Racheaktion. Es muss eine andere Lösung geben.« Nachdenklich blickte Kay über das Hafenbecken. »Wenn Kesting Soraya Schmidts Worte richtig interpretiert, lag vor Stunden schon nur noch ein Boot hier. Ich vermute: dieses.« Er deutete auf die Fischland-Königin.

»Und die Tante Mine ist ein Ablenkungsmanöver!«

Paul hechtete an Bord des Zeesbootes, dicht gefolgt von Kay. Die kleine Kajüte am Bug war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Verzweifelt rüttelte Paul daran. »Heinz? Bist du dadrin? Nicola? Hör auf mit dem Wahnsinn, lass ihn frei!«

Keine Antwort.

Unsanft wurde Paul zur Seite geschoben. Kay hatte seine Pistole gezogen, der Schuss krachte durch die Nacht. Paul riss die Kajütentüren auf. Drinnen herrschte stockfinstere Schwärze.

»Heinz?« Paul schaltete die Taschenlampe an Haralds Telefon ein. Die winzige Kajüte war leer.

»Was ist das?«, fragte Kay, dessen Lampenstrahl ebenfalls durch die Kajüte wanderte und an einer Bank hängen blieb. »Kann man den Sitz hochklappen?«

»Normalerweise werden dadrin Schwimmwesten aufbewahrt«, sagte Paul heiser. Mit zittrigen Fingern hob er die Sitzfläche an.

Kay stand neben ihm und leuchtete ins Innere – auf die zusammengeschnürte Gestalt eines Mannes, der in Fötusstellung im Inneren der Bank lag.

Paul starrte auf Heinz hinab, unfähig, sich zu bewegen. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, tatsächlich aber nach kaum einer Sekunde, berührte er sein Gesicht, suchte den Puls. Nichts. Doch. Da. Ganz schwach. Was jetzt? Konnten sie riskieren, Heinz aus der Bank zu wuchten? Sollte er schwerwiegende Knochenbrüche erlitten haben, mochten die bei der Bewegung innere Verletzungen hervorrufen.

Es widerstrebte Paul zutiefst, ihn so liegen zu lassen, doch alles andere hätte möglicherweise fatale Folgen. Also beschränkte er sich darauf, vorsichtig Augenbinde, Knebel und Fesseln zu lösen, während er mit halbem Ohr hörte, wie Kay unter Schilderung der Situation einen Rettungswagen anforderte und danach durchgab, dass die Seenotrettung nicht mehr gebraucht wurde.

»Wegen des Sturms hat es ein paar Unfälle gegeben, alle Rettungskräfte sind im Einsatz«, sagte Kay schließlich. »Die schicken einen RTW, so schnell es geht.«

Das hatte Paul heute schon mal gehört. »Hoffentlich ist das schnell genug«, murmelte er.

»Heinz Jung ist zäh. Der schafft das.« Von irgendwoher hatte Kay eine Decke aufgetrieben, die er über Heinz breitete.

Paul antwortete nicht darauf. Allein schon Heinz’ Verletzungen im Gesicht wirkten im Licht der Taschenlampe weit heftiger als auf dem Video, sein linkes Auge war zugeschwollen, getrocknetes Blut klebte an Stirn, Lippe und Kinn, Hand- und Fußfesseln hatten Abschürfungen hinterlassen, von bisher unsichtbaren Verletzungen gar nicht zu reden. Für gewöhnlich war Paul ein friedfertiger Mensch, doch das hier gehörte zu einem der seltenen Momente, in denen pure Mordlust in ihm aufstieg.

»Er schafft das!«, wiederholte Kay, als hätte er seine Gedanken gelesen.

Nur für einen Augenblick sah Paul hoch. »Wenn nicht, lass mich bloß nie in Nicolas Nähe.«

»Das sollte ich besser in keinem Fall. Mir geht’s ähnlich, allerdings werde ich keine andere Wahl haben und mich am Riemen reißen müssen, wenn ich ihr gegenüberstehe.«

»Falls sie überhaupt gefunden wird.«

»Tobias arbeitet dran.« Kay stand auf. »Ich rufe ihn an und melde, dass wir Heinz Jung gefunden haben. Damit stehen uns jetzt alle Wege offen.«

Paul nickte, sein Blick folgte Kay, der zum Telefonieren zurücktrat. Er selbst sollte versuchen, Kassandra und Harald in der Klinik in Ribnitz zu erreichen. Er griff gerade zu Haralds Handy, als Heinz plötzlich leise stöhnte. Sein rechtes, brauchbares Auge blinzelte.

»Heinz? Heinz, kannst du mich verstehen?«

Wieder ein Stöhnen, es blieb unklar, ob das eine Art Antwort war oder unbewusst geschah. Dann bewegte er sein linkes Bein, versuchte offenbar, es auszustrecken, was in der engen Bank misslang.

»Bleib still liegen«, redete Paul auf ihn ein.

Ein neuerliches Stöhnen wurde von etwas begleitet, das wie der Versuch zu sprechen klang.

Sanft umschloss Paul Heinz’ Hand mit seiner. »Wir sind hier, Kay Dietrich und ich, wir kümmern uns um dich, bis der Rettungswagen da ist. Dauert nicht mehr lange. Du kommst wieder in Ordnung.«

Heinz bewegte die Lippen, krächzte etwas Unverständliches, sodass Paul sich näher zu ihm beugte, sein Ohr fast an seinem Mund. Er war sich nicht sicher, ob Heinz reden sollte, aber etwas schien ihm auf der Seele zu liegen. Dass er überhaupt so weit war, reden zu wollen, schien ein gutes Zeichen.

»Nacht«, sagte Heinz – oder zumindest glaubte Paul, das zu verstehen.

»Das ist letzte Nacht passiert?«, fragte er. »Jemand hat dich in deinem Haus überfallen.«

»Hm«, machte Heinz. »Kass…an…dra?«

»Ihr geht’s gut«, beruhigte Paul ihn und hoffte, dass das nach wie vor den Tatsachen entsprach.

»Hat Ihr Entführer etwas über Kassandra gesagt?«, mischte Kay sich ein, der mittlerweile sein Gespräch beendet hatte.

»Tö…ten«, brachte Heinz unter größter Anstrengung raus. Dabei riss er sein Auge auf, als ob er erst jetzt die volle Bedeutung dessen begriff, was der Kidnapper gesagt hatte. »Al…le.« Plötzlich blinzelte er wie wild, atmete schwer und schnell, dann sackte sein angespannter Körper zusammen, er lag still.

»Heinz? Heinz!«, rief Paul. Schon wieder suchte er nach dem Puls. »Verdammt noch mal, Heinz, bleib bei uns, Kassandra killt mich, wenn ich zulasse, dass du stirbst!«

»Er atmet.« Kay zeigte auf den Brustkorb, der sich langsam hob und senkte, unregelmäßig, aber immerhin.

»Wo bleibt der RTW?«, fragte Paul, mehr, um etwas zu sagen. Es war ihm klar, dass er ihn dadurch nicht herbeizauberte. »Kay, würdest du nach draußen gehen und die Leute einweisen, wenn sie kommen?«

»Du weißt, dass das nicht nötig ist«, sagte Kay. »Es gibt hier nur einen Hafen und nur ein Zeesboot. Die finden uns schon.«

»Ja. Natürlich. Diese Nacht ist schwer zu ertragen. Erst Kassandra, dann Bruno, dann Heinz. Ich werde auch nicht jünger, um Brunos Lieblingssatz zu zitieren.«

Kay grinste. »Wer wird das schon?« Das Lächeln verflüchtigte sich. »Tobias leitet offiziell die Fahndung nach Nicola Hülskamp beziehungsweise Margot Kleve ein und weist den Kollegen bei Jonas Zepplin an, jetzt Anni zu befragen. Außerdem nimmt er Kontakt zur Verwaltung der Seefahrtschul-Ferienanlage auf, damit die Wagners ebenfalls befragt werden können. Ohne Schlüssel kommen wir nicht ins Gebäude, und wir wissen auch nicht, in welchem Apartment sie wohnen. Kurzerhand den ganzen Laden auseinanderzunehmen ist zu diesem Zeitpunkt ohne konkrete Hinweise auf akute Gefahr unverhältnismäßig und könnte außerdem Pechstein aufschrecken. Obwohl der Vogel wahrscheinlich ausgeflogen ist.«

»Dubioser Typ«, meinte Paul. »Ich habe vorhin mit Rieka telefoniert – wollte ich vor Frau von Bennigsen nicht erwähnen. Sie sagte, es gäbe nicht den geringsten Hinweis, dass der Mann überhaupt existiert.«

»Ja, seine Rolle ist die undurchsichtigste. Dass nicht mal Rieka was über ihn finden konnte, lässt tief blicken. Tobias ist diesbezüglich ebenfalls in einer Sackgasse, er kann Frank Scheller vom LKA nicht erreichen.«

»Höre ich da Skepsis?«

»Nicht an Tobias.«

»Schon klar. Hab diesen Scheller ja nur ein Mal getroffen. Das genügte allerdings, um ihn als harte Nuss einzustufen. Wenn der nicht erreichbar sein will, ist er nicht erreichbar. Möglicherweise war er es aber für Soraya, und die hat ihn vorgewarnt.«

Kay wiegte den Kopf. »In einer laufenden verdeckten Ermittlung ist so eine Kontaktaufnahme nicht empfehlenswert. Trotzdem könnte es die Sondersituation diese Nacht erfordert haben.« Er seufzte und schaute wieder zu Heinz. »Was bedeutet es, dass wir ihn lebend gefunden haben?«, wechselte er das Thema.

Paul überzeugte sich einmal mehr, dass Heinz noch bei ihnen war. Sein Atem ging wieder regelmäßiger. »Du meinst, obwohl wir eigentlich zu spät waren?«

»Genau. Immerhin waren wir früh genug am Hafen. Möglich, dass die Hülskamp und/oder die Kleve in der Nähe war, uns beobachtete und beschloss, lieber nicht von uns gesehen zu werden.«

»Ich habe zwar vorhin gesagt, dass ich dieser Psychopathin alles zutraue, aber bei näherer Abwägung glaube ich nicht, dass sie selbst Hand anlegt. Sie ist eine geschickte Planerin, aber sie mordet nicht höchstpersönlich.«

»Dann wollte der Komplize oder die Komplizin das Risiko nicht eingehen.«

»Das hieße, dass derjenige Nicolas Anweisungen zuwiderhandelte.« Paul runzelte die Stirn. »Denkbar. Andererseits hat sie sich ihre Leute sicher genauestens ausgesucht.«

»Also?«

»Also hat sie entweder nicht vorgehabt, Heinz töten zu lassen, was unwahrscheinlich ist, denn sie hatte keinerlei Skrupel, Degenhard und Brentano umbringen und Kassandra vergiften zu lassen.« Nachdenklich rieb er sich über die Nase. »Ich frag mich immer noch, wie Brentano da reinpasst. Er hatte nie was mit dem Fall von damals zu tun.«

»Vielleicht hat sie ihn als Ablenkungsmanöver benutzt wie die Tante Mine. Ihr solltet zunächst über den wahren Sachverhalt, ihre Rache, hinweggetäuscht werden.« Als Paul unzufrieden guckte, fuhr er fort: »Du hast mit ›entweder‹ angefangen. Was ist dein ›oder‹?«

»Oder Anni ist ihre Komplizin. Dafür spräche, dass sie das Essen serviert hat und Kassandra jederzeit unauffällig etwas beimischen konnte. Heinz dagegen konnte sie nicht töten, weil sie immer noch bei Jonas festsitzt – ein nicht vorhersehbares Hindernis.«

»Klingt logisch«, meinte Kay. »Wenn Brentano nicht selbst Opfer geworden wäre, hätte ich als Giftmischer am ehesten auf ihn getippt.«

Mit einem Mal kam Paul ein ungeheuerlicher Gedanke. »Was, wenn das stimmt? Wenn Brentano Nicolas Komplize war, Pechstein mitbekam, was lief, und ihn aus dem Weg räumte? Nicht aus reiner Nächstenliebe, sondern aus Selbsterhaltungstrieb? Zu dem Zeitpunkt war der Zweck von Nicolas Spezial-Krimi-Dinner noch nicht eindeutig. Pechstein konnte nicht sicher sein, ob er selbst der Nächste ist.«

»Guter Punkt.« Kay fuhr sich durchs Gesicht. »Ich wünschte, wir wüssten irgendwas über ihn. Wenn er nichts mit der Hülskamp zu tun hat, sondern nur mit der Aktion auf dem Jordan-Hof: Wieso war er überhaupt auf der Stinne? Was hat ihn angetrieben, an einem unbedeutenden Krimi-Dinner teilzunehmen, wenn er wichtigere Aufgaben anderswo zu erledigen hatte?«

»Vielleicht nicht an diesem Abend? Auch Verbrecher gönnen sich gelegentlich eine unterhaltsame Pause. Oder … oder er hatte eine Aufgabe dort zu erledigen und …« Paul ließ den Satz in der Luft hängen.

»Und hat sie erledigt«, schloss Kay. »Brentano. Wir …« Er wurde vom Klang eines Martinshorns unterbrochen, der mehr und mehr anschwoll. Kay erhob sich und verließ die Kajüte.

Kurz darauf hörte Paul ihn mit jemandem sprechen und dann Schritte auf der Fischland-Königin.

»Heinz?« Paul berührte ihn an der Schulter. »Hilfe ist da. Halt durch.«

Der erste Sanitäter steckte seinen Kopf in die Kajüte und leuchtete mit einer starken Lampe. »Hier drin kann man sich ja kaum bewegen. Sie gehen jetzt bitte, wir übernehmen.«

Schweren Herzens ließ Paul Heinz in der Obhut der beiden Sanitäter und folgte Kay hinauf an Deck. Kay hatte die Fischland-Königin inzwischen verlassen, stand auf festem Boden und telefonierte schon wieder.

Das erinnerte Paul daran, endlich in Ribnitz anzurufen. Es dauerte eine kleine Weile, bis eine Schwester Harald ans Telefon geholt hatte.

»Wie geht’s Kassandra?«, fragte er.

»So weit gut. Die Ärzte sind zufrieden, abgesehen davon, dass sie eigentlich schlafen sollte, aber sie weigert sich, zur Ruhe zu kommen, bevor sie weiß, was mit Heinz ist.«

»Wir haben ihn gefunden. Er lebt.«

»Gott sei Dank!« Haralds Erleichterung war unüberhörbar.

»Er sieht schlimm aus, ich …« In diesem Moment sah er, wie die Sanitäter sich abmühten, eine Trage aus der Kajüte zu bugsieren, auf der Heinz festgeschnallt lag. »Warte kurz«, bat er Harald und trat zu den Sanitätern. »Wie geht es ihm?«

»Dehydriert, jede Menge Prellungen, ein, zwei Rippenbrüche, Verstauchung des linken Handgelenks, Schädel-Hirn-Trauma«, gab einer der Männer Auskunft, während der zweite sich im RTW weiter um Heinz kümmerte. »Letzteres ist am bedenklichsten, es hat ihn ordentlich erwischt. Immerhin war er ansprechbar, er konnte uns seinen Namen sagen. Heinz Jung, ist das richtig?«

Paul nickte.

»Das ist doch schon mal gut. Wir bringen ihn in die Bodden-Kliniken.«

»Danke.«

Der zweite Sanitäter schaltete sich aus dem RTW heraus ein. »Sind Sie Paul?«

»Ja.«

»Herr Jung will Ihnen unbedingt was sagen. Für seinen psychischen Zustand ist es besser, wenn er das loswird. Kommen Sie eben rein.«

Im Wagen sah Heinz ihm unter halb geschlossenen Lidern entgegen. Eine Infusion tropfte langsam in seine Venen. Als Paul neben ihm stand, versuchte Heinz, mit seiner linken Hand nach ihm zu fassen. Paul beugte sich zu ihm hinunter.

»Der Mann … groß, wuchtig«, begann Heinz und musste erschöpft nach Atem ringen.

»Der dich überfallen hat?«

Heinz nickte. »Kein … Profi. Roch nach Knoblauch. Ich …« Wieder musste er eine Pause machen. »Ich war … ohnmächtig. Bin aufgewacht in … einem kalten Raum … Steinboden. Einmal habe ich … Glocken gehört. Kirchenglocken. Klang aber … nicht ganz echt.«

Ein Ruck ging durch Paul. Andreas Körbers Glockengeläut!

»Dann hat … jemand gestritten. Ein Mann, eine Frau. Konnte nicht … verstehen, worum … es ging. Die Frau … kam zu mir.«

»War sie es, die gesagt hat, dass alle getötet werden?«, fragte Paul.

Heinz nickte. »Ich … habe sie nicht gesehen. Augenbinde. Später wurde ich ein zweites Mal … geschlagen, dann bekam ich was … gespritzt. Wahrscheinlich um … mich von da, wo ich war … wieder wegzubringen. Ich kam … kurz zu mir, als sie mich … in … eine … Kiste …«

»Das reicht jetzt«, griff der Sanitäter ein. »Wir müssen Sie endlich ins Krankenhaus bringen. Alles andere können Sie erzählen, wenn es Ihnen besser geht.«

»Nein! Das … ist wichtig!

»Ihr Leben ist wichtiger.« Er wandte sich an Paul. »Bitte gehen Sie jetzt.«

Paul nickte. Zu Heinz sagte er: »Gib auf dich acht. Wir reden später weiter.«

Er war schon aus dem Wagen gesprungen, da hörte er Heinz noch leise ein einziges Wort rufen:

»Seefahrt…schule.«

Der zweite Sanitäter schloss die Türen des RTW, stieg vorn ein, setzte zurück, wendete in der Einfahrt zur Hafenmeisterei und fuhr mit Blaulicht los.