Epilog
»Ja, natürlich hätte ich das schon viel früher tun sollen.« Paul telefonierte mit seiner Mutter und hatte ihr gerade von der anstehenden Hochzeit mit Kassandra erzählt. Ihr liebevoller Rüffel ließ ihn schmunzeln, ebenso wie die ganze Latte an Fragen, die jetzt auf ihn niederprasselten. Gleichzeitig hörte er die Türklingel. Normalerweise hätte er die ignoriert, doch er erwartete eine wichtige Postsendung, also ging er mit dem Telefon am Ohr öffnen. Draußen stand nicht der Briefträger Felix Krull, sondern zu seiner Überraschung Liza Wagner.
Seine Mutter redete immer noch, und er wollte sie nicht unterbrechen, also winkte er Liza herein und deutete auf die Sitzecke vor der geöffneten Terrassentür.
»Und das Wichtigste«, sagte seine Mutter jetzt, »wo wollt ihr denn feiern?«
»Die Fischland-Halle werden wir sicher nicht anmieten«, sagte er lachend. »Aber im Ernst, wir haben uns doch gerade erst zur Heirat entschlossen, lass uns mit den Planungen noch etwas Zeit, ja?«
»Natürlich. Ach, ich freu mich so für euch! Ich rufe gleich mal Kassandra an.«
»Das ist eine gute Idee! Grüß sie von mir.«
»Paul, du bist albern.«
»Ich weiß. Bis dann, Mama.« In sich hineinlächelnd beendete er das Gespräch und legte das Telefon weg.
Liza stand staunend neben seinem Schreibtisch mit dem aufgeklappten Laptop und den vielen Notizen drum herum und war so vertieft in den Anblick seiner Bücherregale, dass sie vermutlich kein Wort mitgehört hatte – was Paul ebenso recht war.
»Das ist ja eine Überraschung, Liza!«, sagte er. »Setz dich! Möchtest du einen Kaffee oder Wasser?«
Nur mit Mühe löste sie sich vom Anblick der Bücher.
»Ja, gern, Wasser bitte.«
Etwas befangen ließ sie sich auf dem Sofa nieder.
»Wie geht’s euch?«, fragte Paul und stellte Glas und Wasserflasche vor sie hin. »Habt ihr euch von den Strapazen auf der Stinne erholt?«
»Wir sind ja mit dem Schrecken davongekommen. Die wichtigere Frage ist: Was machen Kassandra und ihr Onkel?«
»Kassandra hat alles gut überstanden.« Noch immer wagte Paul sich nicht vorzustellen, dass es anders hätte kommen können. »Heinz hat hauptsächlich mit zwei gebrochenen Rippen und einer Gehirnerschütterung zu kämpfen, aber er kriegt das hin.«
»Das freut mich.«
Ein kurzes Schweigen entstand. Liza schien nicht recht zu wissen, wie sie beginnen sollte, also machte Paul es ihr leichter.
»Du bist nicht hier, um dich nach Kassandra und Heinz zu erkundigen. Was kann ich für dich tun? Geht es um deine Ahnenforschung? Wenn ich mich richtig erinnere, wolltest du mir auf der Stinne gerade erzählen, wie deine verschollenen Verwandten heißen, als wir von unserer Gastgeberin unterbrochen wurden.«
»Stimmt. Da Kassandra sagte, dass niemand das Fischland so gut kennt wie du, hoffe ich, dass du Näheres weißt. Meine Familie ist, zumindest in der in Frage kommenden Generation, auseinandergerissen worden und etwas kompliziert.«
Paul lachte. »Mit reichlich Verwicklungen, freiwilligen und unfreiwilligen, kann ich in meiner Familie auch dienen.« Was untertrieben ist, fügte er in Gedanken hinzu.
»Dann weißt du ja, wie spannend Genealogie sein kann. Oder überhaupt das Forschen nach Personen. Es gibt so viele Rätsel um Verschwundene, um Menschen, die absichtlich abtauchen, Menschen, die einem Verbrechen zum Opfer fielen – und ihre nächsten Angehörigen haben keine Ahnung. Ich bin überhaupt erst auf das Thema gestoßen, weil eine Freundin einen ehemaligen Freund ihrer Mutter suchte. Das ist so ein weites Feld!«
»Absolut«, stimmte Paul ihr zu. »Es gibt Personensucher, die sich professionell damit beschäftigen, das muss auf der einen Seite eine ungeheuer akribische und mühsame Arbeit sein, auf der anderen sehr faszinierend.«
»Das ist es! Diesen Freund zu finden, war großartig! Dabei ist der bloß zigmal umgezogen, nichts Spektakuläres hatte sich hinter seinem Verschwinden verborgen. Trotzdem, da war so viel Glück auf beiden Seiten!« Es war nicht zu übersehen, dass Liza vor Begeisterung geradezu sprühte. Ebenso enthusiastisch fuhr sie fort. »Ich habe schon daran gedacht, das zu meinem Beruf zu machen. Na ja, Nebenberuf, soweit es die Arbeit im Bestattungsinstitut erlaubt. Ich könnte …« Plötzlich schlug sie die Hand vor den Mund. »Entschuldige. Ich sitze hier und quatsche dir ein Loch in den Bauch und halte dich von deiner eigenen Arbeit ab, dabei sollte ich endlich zum Thema kommen. Falls du noch so viel Geduld mit mir hast.«
»Na klar. Fischländisches ist für mich immer interessant, und bei solcherlei Recherchen stoße ich oft selbst auf Neues.« Er war wirklich gespannt. »Schieß los. Wie hießen deine Leute, die verschollen sind?«
Liza nahm einen Schluck Wasser. »Also, meine Urururgroßmutter hieß Ida Agrell und wurde 1830 in Wustrow geboren.«
Paul nickte. Zwar sagte ihm Ida nichts, aber der Name Agrell an sich war durchaus bekannt auf dem Fischland.
»Sie heiratete, zog zu ihrem Mann nach Stralsund und bekam einen Sohn und eine Tochter«, erzählte Liza weiter. »Der Sohn und seine Frau starben sehr früh bei einem Schiffsunglück und hinterließen zwei kleine Jungs, die von Idas Tochter Susanna und ihrem Mann Aaron adoptiert wurden. Aaron war Jude, und dass das gefährlich werden könnte in Deutschland, erkannte er schon, bevor die Nazis tatsächlich an die Macht kamen.«
Etwas in Paul begann zu kribbeln, obwohl das bisher keine ungewöhnliche Geschichte war. Doch als Liza fortfuhr, verstärkte sich Pauls Unruhe.
»Die Familie wanderte Anfang der dreißiger Jahre aus. Die Söhne waren inzwischen erwachsen, und nur einer, Hans, ging mit nach Amerika. Das war mein Urgroßvater.«
Paul beugte sich vor. Aus dem Kribbeln war ein dumpfes Grummeln im Magen geworden. Seine Augen bohrten sich in Lizas, was ihr nicht verborgen blieb.
»Alles klar so weit?«, fragte sie.
Paul nickte nur.
»Gut. Mein Vater hatte übrigens vor meiner Geburt schon die Nase voll vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Er wanderte mit meiner schwangeren Mutter sozusagen zurück aus. Oder ein. Keine Ahnung, wie man das nennt. Jedenfalls bin ich die Erste aus meiner Familie, die wieder in Deutschland geboren wurde.«
»Hm«, machte Paul ungeduldig. Lizas Vater interessierte ihn gerade null. Er wollte mehr über die viel weiter entfernte Vergangenheit hören.
»Ähm. Wo war ich?« Anscheinend hatte Liza durch Pauls Verhalten den Faden verloren.
»Dein Urgroßvater ging nach Amerika. Sein Bruder nicht«, soufflierte er.
»Genau. Georg blieb hier. Er war …«
Georg! Paul zuckte zusammen, er hatte es geahnt.
Liza sah ihn erneut irritiert an, unterbrach sich diesmal aber nicht. »Er war Polizist in Berlin, und das Letzte, was mein Urgroßvater von ihm hörte, war, dass er einen Fall verfolgte. Halb inoffiziell. Was genau er damit meinte, blieb unklar. Er drückte sich in dem Brief überhaupt ziemlich vage aus – außer dass ihn seine Ermittlungen ›in die alte Heimat‹ führten. Mein Urgroßvater dachte, er meinte damit Rügen, wo er und Georg aufwuchsen. Nachdem er einige Monate überhaupt nichts mehr von seinem Bruder hörte, begann er aus der Ferne, Nachforschungen anzustellen, wurde aber weder in Berlin noch auf Rügen noch in Stralsund fündig. Er hat nie ans Fischland gedacht, was vermutlich daran lag, dass Ida im Streit von ihrer Familie wegging. Ich dagegen finde, dass das durchaus eine Überlegung wert ist. Also bin ich nun hier.«
Paul hatte einerseits jedes Wort gehört, andererseits war Lizas Erklärung mehr oder weniger an ihm vorbeigerauscht. Schon bevor sie den Namen Georg ausgesprochen hatte, hatte sich in Paul dieses Gefühl breitgemacht, und mit jeder Silbe hatte sich seine Überzeugung verfestigt. Jetzt wusste er es. Er starrte an Liza vorbei auf die Wand hinter ihr, an der das Gemälde des Strandhotels hing. Zufällig hatte er es auf der letzten Ahrenshooper Kunstauktion entdeckt und ersteigert.
Er räusperte sich. »Hieß Georg mit Nachnamen Kaminski?«, fragte er nur der Vollständigkeit halber.
Überrascht riss Liza die Augen auf. »Woher weißt du das?«
Einen Moment musste Paul sich sammeln, um es auszusprechen. »Weil dein Urgroßonkel mein Großvater ist.«
»Wa…« Nun fehlten Liza die Worte, was Paul nur allzu gut nachempfinden konnte.
Er deutete auf das Gemälde. »Eine Ermittlungsspur hatte Georg zum Wustrower Strandhotel geführt. Wo er meine Großmutter kennenlernte.«
»Das … gibt’s nicht«, sagte Liza, immer noch vollkommen geplättet.
»Das dachte ich auch, als ich es erfuhr, weil es nämlich nicht die offizielle Version unserer Familiengeschichte ist.« Die zu erzählen, würde viel Zeit in Anspruch nehmen, daher stellte er vorerst nur verschmitzt fest: »Du sagtest ja vorhin selbst, deine wäre kompliziert. Du hast keine Ahnung, wie kompliziert.«
»Offenbar nicht«, sagte sie schwach.
Es war nicht zu übersehen, dass sich in ihrem Innern ein Wechselbad der Gefühle abspielte. Staunen, Freude, jede Menge Fragen, Entschlossenheit, Erkenntnis. Vermutlich war ihr gerade klar geworden, dass sie nicht nur ihren verschollenen Familienzweig gefunden hatte, sondern dass sie in ebendiesem Moment einem Teil davon gegenübersaß.
Paul grinste und streckte ihr die Hand hin.
»Willkommen in der alten Heimat auf dem Fischland, Cousinchen!«