Wenn ich zum Helden werde, können wir für immer in Walhall zusammenleben, nicht wahr?«
Beim Klang von Eriks Stimme zuckte Kára zusammen. Sie hatte sich in ihrer eigenen Gedankenwelt verloren und nicht mehr damit gerechnet, dass er in dieser Nacht noch sprechen würde.
»Ja«, antwortete sie und schluckte. Ihre Kehle war rau, und ihr wurde warm ums Herz.
Hat mein Plan funktioniert?
»Aber ich müsste Irik zurücklassen«, fuhr Erik fort. Sein Blick war nach wie vor auf den Mond gerichtet, das blasse Licht spiegelte sich in seinen Augen wider. Im Dorf war mittlerweile alles ruhig, die Nachtluft war merklich kühler geworden. Lediglich die leisen Stimmen der Wachen drangen aus der Ferne an Káras Ohren. Hin und wieder huschten Eulen und Fledermäuse über ihnen durch die Dunkelheit.
Kára spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Sie überlegte, ob sie ihm von seinem Vater erzählen sollte, doch gerade als sie den Mund öffnete, erklangen aufgeregte Rufe. Die Wachen schlugen Alarm.
Erik sprang auf, seine Hand schnellte zu der Axt, die er an seinem Gürtel trug. Kára griff nach ihrem Schwert. Ihre Blicke trafen sich, dann stürmten sie zurück ins Dorf. Erste Fackeln wurden entzündet, ihre lodernden Flammen trieben die Finsternis zurück in den Wald.
Gegen die dunklen Umrisse, die sich den Hütten näherten, konnten sie nichts ausrichten. Ihre gelben Augen reflektierten die Flammen.
Kára erkannte sie sofort.
»Werwölfe!«, rief sie. Die Menschen, die Fackeln in den Händen hielten, starrten Kára ebenso angstvoll an wie die Wesen, die immer näher kamen.
»Zu den Waffen!«, befahl Erik und schwang seine Axt. Das Metall schnitt durch die Luft, Schweißperlen traten auf Eriks Stirn. Kára sah zwischen ihm, den Werwölfen und den Menschen hin und her.
Schließlich erkannte sie Asta, die sich mit bleichem Gesicht und erhobener Fackel an eine Hauswand drückte. Ihre blonde Mähne wirkte in der Nacht fast weiß. Kára nickte ihr zu, Asta erwiderte die Geste und straffte ihre Schultern. Sie hob die Fackel ein Stück nach oben und trat von der Hauswand weg. Kára sah, dass ihre Hände zitterten.
»Kára.« Die Stimme, die hinter ihr erklang, ließ sie herumwirbeln. Vor ihr stand Tyr, er trug eine unauffällige Rüstung und stand mit erhobenem Schwert vor ihr. Den Werwölfen hatte er selbstsicher den Rücken zugewandt.
Wie naiv.
»Was machst du hier?« Arns Worte waren schärfer als die Zähne der Werwölfe, die hin und wieder aufblitzten. Kára lief ein Schauer über den Rücken.
Wir haben keine Zeit für so etwas.
»Du tauchst auf und schon haben wir ein Rudel Werwölfe vor unserem Dorf?« Arn trat näher und spuckte Tyr vor die Füße. »Wenn das kein Beweis dafür ist, dass du und diese Hexe mit Loki im Bunde seid …«
Kára kniff die Augen zusammen und hob ihr Schwert. Arn hatte eine Axt über seine Schulter geschwungen und seine frettchenhafte Nase gerümpft. Seine schmalen Lippen kräuselten sich verächtlich.
Das erste Knurren erklang. Tief wie ein Donner. Eine Frau schrie auf. Arn wurde aschfahl, was in Kára eine seltsame Genugtuung auslöste.
»Bringt die Kinder in eine Hütte«, befahl Erik in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Nicht einmal Arn diskutierte mit ihm, sondern leistete sofort Folge. Er begann, die Kinder in Eriks Hütte zu treiben, und positionierte mehrere Männer davor.
»Wo ist Irik?«, flüsterte Erik. Er stand Schulter an Schulter zu Kára und vermied es, Tyr anzusehen. Kára konnte hingegen nicht den Blick von ihrem Bruder abwenden. Sie fragte sich, warum er ausgerechnet jetzt aufgetaucht war und ob er wusste, dass er damit die Zweifel der Dorfbewohner endgültig begründet hatte. Doch wenn alles so lief, wie Kára hoffte, würde das Misstrauen bei Tagesanbruch keinen Unterschied mehr machen.
Sie war erleichtert, dass sie Erik bereits die Wahrheit gesagt und ihn somit auf den richtigen Weg gebracht hatte.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie und behielt dabei Tyr im Auge. Er sah sie mit einem ihr unbekannten Gesichtsausdruck an. Etwas an der Art, wie er seine Augenbrauen zusammenkniff, ließ ein ungutes Gefühl in ihr entstehen. Ihr Magen rebellierte. »Er wird bei den anderen Kindern sein.«
»Ich hoffe es.« Erik wandte den Kopf zu der dunklen Hütte. Ein leises Wimmern drang zu ihnen herüber. Um sie herum hatten sich die Frauen und Männer aufgestellt. Sie hielten Äxte, Stöcke, Fackeln, Schwerter und wenige Schilde in den Händen.
Die meisten von ihnen zitterten im Angesicht der übernatürlichen Gefahr. Kára spürte hingegen, wie die Vorfreude und Hoffnung in ihr stetig wuchs. Der Werwolf-Angriff war die perfekte Gelegenheit, um Erik zum Helden zu machen. Er wusste nun, dass ihn ein unsterbliches Leben an ihrer Seite in Walhall erwartete. Sicher würde ihm der Abschied von seinem Bruder schwerfallen, aber es hatten sich schon viele Helden von ihren Familien getrennt. Sie würde Erik heute Nacht zur Seite stehen und ihm helfen. Gemeinsam mit Tyr konnte ihr Vorhaben nicht mehr scheitern.
Mit einem verheißungsvollen Lächeln hielt sie ihr Schwert noch höher und fixierte die dunklen Gestalten, die ihren Kreis immer enger zogen.
Werwölfe bauten ihre Angriffe langsam auf, das wusste Kára. Sie prüften eine Situation zunächst ganz genau, bevor sie den ersten Sprung wagten. Sicherlich hatten sie das Dorf schon lange beobachtet, aber dass die Menschen nun alle Waffen trugen, brachte sie dazu, sich eine neue Strategie zu überlegen.
Sie würden nicht ewig dafür brauchen.
Tyr trat neben Kára, das Schwert kampfbereit erhoben. Seine Nähe und die glänzende Waffe fühlten sich vertraut an. Sie hatten schon oft so auf dem Schlachtfeld nebeneinandergestanden. Doch dieses Mal fühlte es sich anders an.
»Was machst du hier?«, fragte sie unverwandt.
»Ich habe dich den ganzen Tag gesucht«, antwortete er. »Da ist etwas, was ich dringend mit dir besprechen muss.«
»Das muss warten.« Sie knirschte mit den Zähnen. »Wir werden Erik heute Nacht zum Helden machen.«
Tyr drehte den Kopf zu ihr und wollte etwas erwidern.
In diesem Moment griff der erste Werwolf an.
Das gigantische Tier hatte zum Sprint angesetzt. Kára konnte die Anspannung jedes einzelnen Muskels sehen, als es mit einem lautlosen Sprung von der Dunkelheit in den Schein der Fackeln glitt. Das flackernde Licht traf auf gelbe Augen und weißglänzende Zähne. Der Werwolf hatte die Lefzen zurückgezogen und seine Klauen nach vorne ausgestreckt. Wie Messer schnitten sie durch die Luft und richteten sich direkt auf Erik. Die Werwölfe hatten offensichtlich das Alpha-Tier ausgemacht und beschlossen, es als Erstes zu töten.
Kára wollte nach vorne springen, aber Tyr kam ihr zuvor. Mit erhobenem Schwert warf er sich zwischen Erik und die Bestie. Tyr wurde nach unten gedrückt und unter dem gigantischen Berg aus Fell und Muskeln begraben. Das Tier jaulte und flog durch die Luft. Schimmernde Blutstropfen benetzten das Gras. Tyrs Klinge leuchtete nicht mehr silbern, sondern rostrot.
Er wischte sich den Speichel des Werwolfes von der Wange und verzog angewidert das Gesicht.
Der erste Werwolf war tot. Einige Frauen tuschelten aufgeregt. Kára spürte, wie sich die Stimmung veränderte. Euphorie schwappte von den Menschen auf sie über, als diese mutig nach vorne traten.
Bei Tyr hatte die Abwehr so leicht ausgesehen, doch bis auf Erik und Kára wusste niemand, dass Tyr ein Gott und übermenschlich stark war.
Kára bedeutete den Menschen mit einer Handbewegung zurückzubleiben, aber sie ignorierten die Geste. Ihr Blick wanderte zu Erik, der wie in Trance auf Tyrs Rücken starrte.
Die Werwölfe liefen hin und her, ihre Augen leuchteten wie Irrlichter.
»Kommt her!«, rief einer der Männer, die immer an Arns Seite waren. Er war groß, sein halbes Gesicht verschwand unter einem mächtigen Bart. Die breiten Schultern und großen Hände hätten auf jeden menschlichen Feind einschüchternd gewirkt. Er trat nach vorne und schwang seine stumpfe Axt mit dem krummen Holzgriff. Die Werwölfe waren nicht im Geringsten beeindruckt.
Als der Mann Tyrs Reichweite verließ, sprang der nächste Wolf nach vorne. Mit einer kräftigen Bewegung schlug die Bestie die Waffe aus der Hand des Menschen. Der Mann schrie, dann versenkte das Tier seine Zähne in dessen Kehle. Erstickte Gurgelgeräusche durchdrangen die Nacht, gefolgt vom bedrohlichen Knurren der Tiere.
Kára stieß einen leisen Fluch aus. Die Dorfbewohner wichen zurück. Das Rudel erkannte seine Chance. Ein markerschütterndes Heulen stellte die feinen Haare in Káras Nacken auf. Ihre Hände schlossen sich fester um den Schwertgriff.
Dann folgte der wirkliche Angriff. Kára blieb kaum Zeit, sich auf den Aufprall vorzubereiten, nachdem ein Werwolf sie nach hinten schleuderte. Speichel tropfte ihr ins Gesicht, während Kára unbarmherzig ihre Klinge tiefer in die Brust des Monsters trieb. Der Gestank von Gedärmen stieg ihr in die Nase. Kára wurde übel, ihr Blut rauschte laut in ihren Ohren. Das Tier zuckte, aber sein Kiefer schnappte immer wieder nach Káras Kehle. Sie wand sich unter dem Ungetüm, fluchte, dann lehnte sie sich mit voller Wucht nach oben und durchbohrte sein Herz.
Der Werwolf erschlaffte, und Kára rollte sich unter dem Berg aus Fleisch und Fell hervor, ehe sie an Eriks Seite eilte. Er stand einem besonders großen Exemplar gegenüber. Es hatte die fast menschlich wirkenden Ohren angelegt, die langen Zähne waren blutverschmiert. Kára erkannte auf den ersten Blick, dass Erik unschlüssig war. Neben ihm fiel ein Tier nach dem anderen, aufgeschlitzt von Tyrs Schwert. Wie ein Rachegott wütete er durch das Rudel und verhinderte so, dass sie sich dem Dorf näherten.
Einige Werwölfe erkannten, dass sie an Tyr nicht vorbeikamen, und änderten ihre Strategie. Sie ließen von dem Gott ab und wollten an ihm vorbeirasen, doch Tyr sprang leichtfüßig dazwischen und schnitt ihnen den Weg ab. Dann stürmten mehrere Werwölfe auf einmal los. Drei wurden von Tyrs Schwert durchbohrt, doch zwei durchbrachen seine Verteidigung und hielten auf die schreienden Menschen zu. Sie alle blieben stehen und hoben ihre Waffen, aber ihr Mut allein reichte nicht, um die Biester zu töten.
Kára spürte, wie sich eine eiserne Faust um ihr Herz schloss. Sie überlegte nur kurz, dann verließ sie Eriks Seite und verteidigte die Dorfbewohner. Immer mehr Werwölfe fanden den Weg an Tyr vorbei, doch Kára war ebenso erfahren wie ihr Bruder, und ihr Schwert schnitt zuverlässig durch Muskeln und Sehnen.
Sie war im Kampfrausch und nahm kaum noch wahr, was um sie herum geschah. Es wurden immer weniger Menschen, die sich gegen die Werwölfe behaupteten. Kára sprang über einige Leichen, doch die meisten Dorfbewohner hatten sich in die Hütte zu den Kindern zurückgezogen. Vor dem Eingang stand Kára und verteidigte ihn unnachgiebig. Während einer kurzen Atempause blickte sie hinüber zu Erik und Tyr, die Rücken an Rücken kämpften. Das Rudel hatte sie eingeschlossen. Sie sah, wie Tyr etwas sagte und Erik daraufhin nickte.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Kára, wie der nächste Werwolf auf sie zulief. Sie schwang ihr Schwert, aber das Tier wich aus, sprang über sie hinweg, wirbelte herum und griff sie von der anderen Seite an. Kára kam ihm zuvor. Metall schnitt durch grauschwarzes Fell, das Tier jaulte und landete vor Káras Füßen. Sie holte tief Luft. Es dauerte einige Momente, bis sie bemerkte, dass sie nicht mehr angegriffen wurde.
Die restlichen Werwölfe hatten sich um Tyr und Erik gruppiert, die sie als größte Gefahr identifiziert zu haben schienen. Sie wussten, dass sie diese starken Gegner nur gemeinsam besiegen konnten. Kára hielt sich zurück. Ihr Herz schlug heftig. Sie wischte sich die schwitzigen Hände an ihrer blutverkrusteten Kleidung ab.
Das war die Gelegenheit, in der Tyr Erik zum Helden machen konnte. Kára bereitete sich innerlich darauf vor, Erik in Empfang zu nehmen und nach Walhall zu begleiten. Sie stellte sich vor, wie sie ihn nach Asgard brachte, ihm das unendliche Sternenzelt zeigte und mit einem Humpen Met auf ihre unsterbliche Zukunft anstieß.
Natürlich würde sie hin und wieder nach Midgard reisen, um neue Helden nach Walhall zu begleiten, aber sie würde ihre Aufträge nur noch so erfüllen, wie ihre Schwestern es taten. Kein Kennenlernen der Menschen mehr. Sie würde Tyr wieder diese Aufgabe überlassen, so, wie es von Anfang an vorgesehen war. Dann hätte sie genügend Zeit, um mit Erik und seinem Vater zu lachen. Sie würden Geschichten aus ihrem sterblichen Leben erzählen. Njal kannte sicher viele Anekdoten aus Eriks Kindheit. Dinge, die Erik peinlich sein würden. Kára würde jeder einzelnen gebannt lauschen, und Njal würde sehen, wie sehr sie seinen Sohn liebte.
Die Helden durften die Halle zwar nicht verlassen, aber Kára wusste, dass er dort glücklich sein würde. Alle Helden waren glücklich.
Vorfreude prickelte durch ihren Körper. Dann spürte Kára plötzlich etwas anderes. Panik.
Erik trat vor und entfernte sich von Tyr, der einige Schritte in die andere Richtung machte.
Zu weit.
Kára sprintete los. Sie hörte nichts außer ihrem eigenen Atem und ihren schweren Schritten auf der Erde. Tyr kämpfte sich durch die Werwölfe, bis nur noch ein Tier übrig war, das Erik fixierte.
Tyr blieb regungslos stehen und starrte den Werwolf an. Sein Gesicht war eine undurchdringliche Maske. Kára fühlte, wie ihr der Schweiß den Nacken hinunterlief, und zwang ihre Beine, sich schneller zu bewegen.
Gleich da.
Der Werwolf spannte seine Muskeln an und zog die Lefzen nach oben. Tyr bewegte sich noch immer nicht. Erik warf ihm einen Blick zu. Das war der Augenblick, in dem Tyr ihm Zuversicht geben musste. Kára hatte sein grimmiges Lächeln und das angespannte Nicken schon oft gesehen. Diese kleine Geste, die Menschen dazu brachte, zu Helden zu werden. Der kurze Moment, in denen ihnen klar wurde, dass ein Gott an ihrer Seite war.
Doch Tyrs Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos. Kára stolperte vor Überraschung und Entsetzen.
Der Werwolf sprang.
Sein massiver Körper flog durch die Luft und landete direkt auf Erik. Ein Schrei erklang. Es dauerte einen Moment, bis Kára realisierte, dass er aus ihrer Kehle gekommen war. Sie rannte weiter, ihre Stimme ein einziger Kampfschrei, die Waffe erhoben. Ihr Körper wurde von einem einzigen Gedanken beherrscht: dem Drang, Erik zu retten.
Sie konnte sehen, wie er unter dem Werwolf zuckte. Tyr bewegte sich noch immer nicht, aber darauf konnte Kára sich jetzt nicht konzentrieren. Sie drückte sich vom Boden ab, schwang ihr Schwert und landete in einer fließenden Bewegung und mit der Klinge nach unten gerichtet auf dem Rücken des Werwolfes. Die Waffe durchbohrte sein Rückgrat. Kára hörte Erik ächzen, als das Ungetüm auf ihm kollabierte. Schnell sprang sie hinab, warf ihr Schwert ins Gras und drückte das Monster zur Seite. Tränen verschleierten ihr die Sicht.
Sie zog Erik hervor, der die Augen geschlossen hatte und am ganzen Leib zitterte. Kára fuhr ihm mit den Fingern durch die Haare, über die Stirn, die Wangen. Erik rührte sich nicht. Sein Brustkorb hob sich nur zaghaft. Blut sickerte aus einer Wunde an seinem Arm.
Kára fühlte, wie das Leben aus ihm wich.
Panik verschleierte ihre Gedanken. Sie riss Stoffstreifen von ihrem Oberteil und verband damit Eriks Wunde. Leise redete sie auf ihn ein, verstand aber ihre eigenen Worte nicht. Sie wusste nicht, ob sie Sinn ergaben.
Sie spürte, wie sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Die Wärme fühlte sich unangenehm an. Ein Druck, den sie nicht ertragen konnte und sofort abschüttelte. In ihren Ohren rauschte es, langsam drangen Stimmen in ihr Bewusstsein vor.
»Kára!« Es war Tyr, der als Erstes zu ihr durchdrang. Sie wandte den Kopf zu ihm, Tränen liefen heiß über ihre Wangen. »Es ist zu spät.«
»Erik?« Die Menschenmenge, die sich um sie herum versammelt hatte, teilte sich, und Irik trat nach vorne. Das kleine Gesicht war bleich vor Entsetzen. Er starrte auf seinen Bruder, der verletzt und ohnmächtig im blutverschmierten Gras lag. Schwankend setzte er einen Fuß vor den anderen, dann sank er neben ihm auf die Knie und nahm seine Hand. »Erik!«
Kára wusste nicht, was sie sagen sollte. Leise Schluchzer entwichen ihrer Kehle, Schmerz brannte in ihrer Brust. Ein Schmerz, der so stark war, wie sie ihn noch nie zuvor gespürt hatte. Es fühlte sich an, als würde ihre ganze Existenz in Flammen stehen. Ihre Wangen waren heiß, ihr Kopf brannte, ihre Finger zitterten. Ihre Gedanken waren ein einziges Inferno. Sie verstand nicht, warum die Menschen sich bewegten, während in ihrem Herzen die Zeit still zu stehen schien.
»Grima!« Irik sah sich um. »Holt Grima.«
Die starke Frau trat vor, als ihr Name immer lauter gerufen wurde. Sie sah auf Erik nieder, die Falten in ihrem Gesicht vertieften sich.
»Ich brauche Wasser«, befahl sie. Kára merkte nicht, wer das Wasser holte, aber plötzlich hob die stämmige Frau Eriks Arm nach oben und kippte das kühle Nass über die Wunde.
Erik riss die Augen auf und schrie. Der Laut zerschmetterte etwas tief in Káras Brust. Sie fühlte sich untätig und unnütz. Sie wusste nicht, wie man Wunden behandelte. Nur selten wurde sie verletzt, und wenn sie einen Kratzer davontrug, heilte er in Asgard schmerzlos und sauber. Es gab nur wenige Dinge, die Asgard nicht heilen konnte.
Hilflos sah sie zu, wie Grima sich um Erik kümmerte. Zu ihrer Erleichterung schien ihre Behandlung Wirkung zu zeigen. Bei genauerer Betrachtung wirkte die Wunde am Arm nicht so tief, wie Kára zunächst befürchtet hatte. Auch Eriks Brustkorb hob und senkte sich schwach, aber gleichmäßig.
»Bringt ihn ins Bett.« Grima stand auf und wusch ihre blutverschmierten Hände mit dem wenigen Wasser, das noch übrig war. Sie nickte Kára und Irik zu. »Ich schaue bei Tagesanbruch erneut nach ihm.«
Einige Männer traten nach vorne und hoben Erik hoch. Sie trugen ihn in seine Hütte. Kára blieb zurück. Sie fühlte, wie der Druck in ihrer Brust wuchs. Dann übergab sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben. Der saure Geschmack traf sie vollkommen unvorbereitet. Sie würgte erneut, ihr Körper wurde von Schluchzern geschüttelt. Sie fühlte sich schmutzig und elend.
Als sie den Kopf hob und ihr Blick auf Tyr fiel, gewann ein anderes Gefühl die Kontrolle. Wut.
Sie stapfte auf ihn zu und wollte ihn zur Rede stellen, doch es war Arn, der zuerst auf Tyr zutrat. Er streckte ihm die Hand entgegen.
»Du hast uns alle gerettet, Ragnar«, sagte er mit ernster Miene. »Ohne dich und deine Schwester wären wir tot. Verzeih mein Misstrauen.«
Tyr nahm den dargebotenen Arm. Sie packten sich an den Unterarmen und schüttelten sie kurz, dann trat Arn einen Schritt zurück. Er nickte Kára zu.
»Wir sollten nun alle schlafen«, sagte er an das Dorf gewandt. »Die Werwölfe sind tot. Dennoch müssen wir weiterhin vorsichtig sein, denn wir wissen nicht, ob sich noch mehr von ihnen hier rumtreiben. Ich werde mich um die Wacheinteilung kümmern. Bei Tagesanbruch bestatten wir unsere Toten.«
Niemand widersprach ihm. Die Wut in Kára wurde stärker. Sie hörte, wie zwei Frauen leise tuschelten.
»Erik ist schwächer, als ich dachte«, sagte eine.
»Odin sei Dank ist Arn da, um uns jetzt zu beschützen.«
Kára unterdrückte den Drang, die zwei anzubrüllen. Erik war verletzt worden, weil er sich im Gegensatz zu Arn der Bedrohung gestellt hatte. Doch das war den Menschen offensichtlich egal. Sie alle sahen Arn ehrfürchtig an und leisteten ihm Folge. Arn ging auf eine Gruppe Männer zu, um sie für die erste Wache einzuteilen.
Obwohl Kára am liebsten zu Erik geeilt wäre, um an seiner Seite zu sein, musste sie zuerst mit Tyr reden. Sie ging zu ihm, packte ihn am Arm und zog ihn hinter sich her in den Wald. Niemand hielt sie auf.
Als sie in den Schutz der Bäume traten, blieb Kára abrupt stehen. Sie holte einmal tief Luft, dann wirbelte sie herum und bohrte ihren Zeigefinger gegen Tyrs Brustpanzer.
»Was sollte das?« Sie spürte erneut Tränen über ihre Wangen laufen. Mit einer schnellen Bewegung wischte sie sie weg. »Du hast ihn in Gefahr gebracht. Deinetwegen wäre er fast gestorben.«
Kára konnte Tyrs Gesicht in der Dunkelheit nicht erkennen, aber sie spürte, wie er sie musterte.
»Menschen sterben«, antwortete er schließlich kühl. »Das liegt in ihrer Natur.«
Kára blinzelte verblüfft. Er hatte recht. Jetzt wurde ihr auch klar, was der unerträgliche Schmerz in ihrer Brust bedeutete. Bisher hatte sie sich noch nie vor dem Tod fürchten müssen. Die Asen waren nahezu unsterblich. Menschen waren ihr nicht egal, aber jene, die sie gekannt hatte, waren alle zu Helden geworden und nach Walhall gebracht worden. Die Gefahr, ein geliebtes Wesen an Hel zu verlieren, war noch nie so real gewesen wie heute.
Allein der Gedanke brachte sie zum Zittern.
»Er wäre nach Hel gekommen«, sagte sie und spürte, wie ihre Unterlippe bebte. »Wir sollen ihn zum Helden machen. Du hast …«
»Ich kenne unseren Auftrag«, unterbrach er sie. Etwas an seiner Tonlage war seltsam, aber Kára war zu wütend, um darauf einzugehen. Was auch immer Tyr belastete, war ihr in diesem Moment schlichtweg egal.
»Du hast ihn absichtlich in Gefahr gebracht.« Der Vorwurf klang so scharf, wie sie es beabsichtigt hatte, dennoch tat es ihr im selben Augenblick leid. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Tyr wirklich etwas Derartiges getan hatte. Nicht schon wieder. Auch wenn sein Verhalten im Kampf darauf schließen ließ. Sicherlich hatte er eine vernünftige Erklärung.
»Ich weiß.« Seine Antwort traf Kára unvorbereitet. Sie starrte in die Finsternis und versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Durch das Blätterdach drang kein Mondlicht, die Büsche raschelten leise im sachten Sommerwind. Es roch nach Moos und Erde. Kára schmeckte Blut, und ihr wurde klar, dass sie zu fest auf ihrer Unterlippe gekaut hatte.
»Du …«, setzte sie an, doch ihre Worte verklangen ungehört. Tyr war verschwunden.