Als Kára Yggdrasils Wurzeln hinabstieg, fröstelte sie. Es roch nach feuchtem Stein. Der Boden war glatt, und ihre Lederschuhe fanden nur schwer Halt. Sie stützte sich an einer Wand ab, ihre Finger glitten über das glitschige Holz. Es fühlte sich an, als würde sie eine Wasserschlange streicheln.
Es wunderte sie nicht, dass die Nornen ihre Heimat so selten verließen. Während des Abstiegs verdrängte sie sämtliche Gedanken an Erik. Sie traute sich nicht, daran zu denken, wie die Gestirne in Midgard weiterwanderten und sein Lebensende damit unaufhaltsam näher rückte. Es war nicht der richtige Moment, um die Nerven zu verlieren. So lange sie noch kämpfen konnte, würde sie sich darauf konzentrieren.
Ein Schritt nach dem anderen.
Kára setzte ihren Fuß auf eine falsche Stelle und rutschte. Instinktiv griff sie nach einem Halt, aber sie fand keinen und landete schmerzhaft auf dem Boden. Sie schlitterte ein Stück, unterdrückte einen Fluch und rappelte sich wieder auf. Ihre Hose war durchnässt. Ihr Zittern verstärkte sich. Diese Unachtsamkeit zeigte ihr, wie schlimm es um ihre innere Ruhe stand.
Ein Schritt nach dem anderen.
Je tiefer sie vordrang, desto dunkler wurde es. Kára hörte nichts als ihren eigenen Atem und ein entferntes Plätschern. Schließlich erkannte sie ein Schimmern, das die Dunkelheit blau färbte. Erleichterung durchflutete Kára, und sie ging schneller.
Vor ihr öffnete sich eine gigantische Höhle. Das seichte Ufer fiel zu einem See ab, der sich bis an die hintere Wand erstreckte. Das Leuchten stammte von einem riesigen Licht, das am anderen Ende der Höhle unter der Wasseroberfläche schimmerte. Angeblich lag hinter diesem Leuchten die Unendlichkeit.
Im flachen Wasser stand ein gigantischer Webstuhl, über den sich drei schwarzgewandete Gestalten beugten. Das Gerät war aus purem Gold und glänzte im blaugrünen Licht des Sees wie ein kalter Stern. Der Teppich, der von einer unsichtbaren Hand gewoben wurde, schimmerte wie ein Regenbogen.
Die Nornen regten sich nicht, als Kára näher trat, aber eine von ihnen erhob die Stimme.
»Walküre«, grüßte sie. »Was können wir für dich tun?«
Kára schluckte. Auf einmal erschien ihr Plan löchrig und unsicher, aber sie war zu weit gegangen, um jetzt umzukehren.
»Ich habe eine Frage«, sagte sie und sank auf die Knie, den Blick demütig nach unten gerichtet. »Es wäre mir eine Ehre, wenn ihr sie mir beantwortet.«
»Wir können euer Schicksal nicht sehen«, erklang die Antwort. Kára war sich nicht sicher, ob es dieselbe Norne war, die gesprochen hatte. »Eure Fäden sind durchsichtig wie Wasser. Das Schicksal weigert sich schon lange, die Zukunft der Götter zu offenbaren. Alles, was wir über euer Ende wissen, haben wir euch mitgeteilt. Wir wissen nicht, ob Ragnarök abgewendet werden kann.«
Diese Antwort überraschte Kára nicht. Sicherlich kamen viele Asen hierher, um von den Nornen Gewissheit über ihre Zukunft zu erhalten. Und das, obwohl der Webstuhl seit den ersten Weissagungen zum Anbeginn der Zeit jede weitere Vorhersage verweigerte. Als wäre ihr Schicksal unabwendbar.
»Deswegen bin ich nicht hier.« Kára hob den Kopf. Ein Plätschern erklang, als die Nornen sich im Gleichtakt zu ihr umwandten. Das Wasser warf verzogene Lichtreflexe auf ihre Körper, aber ihre Gesichter konnte Kára nicht erkennen.
»Das ist eine Überraschung«, murmelte eine der Nornen. »Wenn du nicht gekommen bist, um deine eigene Zukunft zu erfahren, so sprich, was wir für dich tun können.«
»Wieso hat der Webstuhl Erik gezeigt?« Káras Knie zitterten, und sie erhob sich langsam. Ihr war eiskalt, und sie fürchtete die Antwort. Die Nornen bewegten sich nicht. »Ihr habt Tyr zu euch gerufen, um ihm zu sagen, dass Erik der Held ist. Jetzt wird Erik als Mörder hingerichtet, ohne sein Schicksal erfüllt zu haben.«
»Wir erinnern uns.« Als wären sie eins, wandten sie sich wieder dem Webstuhl zu und beugten sich über das Geflecht aus Lebensfäden. »Deine Sorge ist unbegründet, Walküre. Der Held ist ein Held geworden.«
Kára öffnete leicht den Mund, um zu widersprechen, besann sich dann aber eines Besseren. Das Schicksal als Lügner zu bezeichnen, war keine gute Idee. Sie musste es anders versuchen.
»Es ist nur …«
»Wir haben deine Frage beantwortet«, unterbrach eine Norne sie kühl. »Der Faden ist golden.« Ihr schlanker Finger deutete in das Gewebe. Kára blinzelte ungläubig. Tatsächlich wand sich dort ein glänzender Faden durch das komplizierte Muster. Er leuchtete so golden wie der Webstuhl selbst. Ihr Herz machte einen Sprung. Sie verstand nicht, wie Erik es geschafft hatte, aber der Grund war ihr letztendlich egal. Alles, was zählte, war, dass er ein Held geworden war.
»Danke«, flüsterte sie. Ihre Unterlippe bebte, sie spürte Tränen der Freude auf ihrem Gesicht. Schnell wandte sie sich um und stürmte die Wurzeln nach oben. Sie musste Erik in Walhall empfangen.
Betont gelangweilt schritt Loki durch Walhall. Die Helden würdigten ihn keines Blickes. Selbst im Tod trauten sie dem Gott der Listigkeit nicht über den Weg.
Schließlich fand er den Mann, den er gesucht hatte. Die hellblonden, von silbernen Strähnen durchzogenen Haare leuchteten im Licht der Fackeln. Sein markantes Kinn war stolz in die Höhe gereckt, während er einen Trinkspruch ausbrachte. Loki grinste und lehnte sich lässig an eine Säule, um darauf zu warten, dass der Mensch ihn wahrnahm.
Als ihre Blicke sich begegneten, ließ Njal den Krug sinken. Er stand auf und kam zu Loki.
»Ist es erledigt?«, raunte er und sah sich um, ob sie jemand belauschte. Amüsiert zog Loki die Augenbrauen nach oben. In Walhall interessierte sich niemand für die Belange der anderen.
»Morgen wird dein Sohn hingerichtet«, antwortete er und klopfte Njal auf die Schulter. »Er wird kein Held. So, wie du es von mir verlangt hast. Damit bin ich meiner Schuld entbunden. Leb wohl.«
»Warte!« Die Hand, die sich um Lokis Arm schloss, war unerwartet kräftig. »Ich habe das Richtige getan, oder?«
Sanft, beinahe zärtlich, löste Loki Finger für Finger, um sich aus Njals Griff zu befreien.
»Du hast das getan«, sagte er, »was dir in Anbetracht der Situation am besten erschien. Vielleicht hättest du mit dem Wissen von heute anders gehandelt, aber das ändert nichts daran, dass deine Entscheidung zu dem Zeitpunkt, als du sie getroffen hast, in deinen Augen die beste war. Also bereue nicht, sondern lerne.«
Er wandte sich zum Gehen.
»Bereust du es?« Njals Frage ließ Loki innehalten. Er schloss kurz die Augen. Vor sich sah er die Nacht vor vielen Jahren. Er hörte die Schreie der Menschen, roch das Blut, den Schweiß und erinnerte sich an das entschlossene Gesicht von Njal, als er in die Hütte stürmte, um seine Familie zu verteidigen. Loki atmete tief ein, dann öffnete er die Augen.
»Nein«, antwortete er und zwang einen Mundwinkel nach oben. Er hatte damals nach Odins Wunsch gehandelt. Wenn er die Wahl gehabt hätte, hätte er sich anders entschieden, aber das brauchte der Mensch nicht zu wissen.
»Warum hast du mir dann geholfen?«, bohrte Njal nach. Loki ballte die Hände zu Fäusten.
»Weil du mich darum gebeten hast«, erwiderte er süffisant und drehte sich zu ihm um. »Lass mich eine Gegenfrage stellen: Warum sollte ich in deinem Auftrag verhindern, dass dein Sohn ein Held wird?«
Er sprach nicht laut, aber zu seiner Belustigung zuckte Njal dennoch zusammen und sah sich panisch um. Niemand beachtete sie.
»Wolltest du ihn nicht bei dir haben?«, stellte Loki eine weitere Frage und trat einen Schritt auf ihn zu. »Ist er eventuell gar nicht dein leiblicher Sohn? Hasst du ihn?«
Wenn es ihm möglich gewesen wäre, wäre Njal sicher bleich geworden. Doch in Walhall gab es keinen Platz für Angst. Schlechte Gefühle waren für die Helden nur eine dumpfe Erinnerung. Also räusperte er sich.
»Ich liebe ihn«, sagte er und senkte den Kopf. »Genau deswegen möchte ich ihm das hier ersparen.« Er deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf die trinkenden Helden. Loki runzelte die Stirn, seine Fäuste entspannten sich.
»Du wolltest ihm ewiges Glück ersparen?«, hakte er nach, woraufhin Njal freudlos lachte.
»Glück? Das hier ist kein Glück, auch wenn es sich so anfühlt. Meine Frau ist in Hel, und ich kann sie nicht einmal vermissen.« Sein Gesicht blieb ausdruckslos. »Ich weiß, dass ich sie liebe. Ich weiß, dass ich mich nach ihr verzehren sollte. Nur meine Gefühle weigern sich. Ich bin glücklich, während sie einsam in Hel trauert. Deswegen wollte ich ihr nicht auch noch die Kinder nehmen. Das ist alles, was ich für sie tun kann. Erik wäre hier ebenso zerrissen wie ich. Glücklich zu sein, obwohl der Verstand weiß, dass man alles verloren hat, ist die schlimmste Folter, die ich je erlebt habe.«
»Das«, Loki rang nach Worten, »hat mich jetzt wirklich überrascht.« Er legte den Kopf schief und musterte Njal von oben bis unten. Seine tadellose Rüstung, der perfekt geschnittene Bart, die leuchtenden Augen. Dann wanderte sein Blick über die anderen Helden, die glücklich lächelten und feierten. Ob in ihnen ebenfalls solche Gedanken vor sich gingen?
Loki grinste. Offensichtlich war Odins gutgemeinte Belohnung für Njal eine Strafe. Ob der Allvater das wusste? Loki bezweifelte es. Einmal mehr bewunderte er die Menschen für ihre Sicht auf die Dinge.
»Es ist besser, wenn sie vereint sind«, flüsterte Njal. Es klang wie eine Frage. Loki zuckte mit den Schultern.
»Du wirst schon wissen, warum du mich um Hilfe gebeten hast. Du hast deine Wahl getroffen, und sie lässt sich jetzt nicht mehr rückgängig machen. Feiere weiter.«
Mit diesen Worten ließ er Njal stehen, während die anderen Helden an seinem Tisch eine neue Runde Met bestellten.