Erleichterung breitete sich in Kára aus, als Irik ihnen zuwinkte.
»Ihm ist nichts geschehen«, sagte sie, und Erik atmete sichtbar auf.
Als sie den Platz betraten, hatten sich die Frauen und Kinder bereits um Arn geschart. Er wartete nicht, bis Erik etwas sagen konnte.
»Unsere Männer sind tot.« Einige der Frauen schrien entsetzt auf, andere begannen zu weinen. Die Kinder klammerten sich an die Beine ihrer Mütter. »Sie starben im Kampf gegen die Plünderer, die uns angekündigt wurden.«
»Alle?«, fragte eine Frau zaghaft nach. Ihre Stimme zitterte ebenso wie ihre Unterlippe.
»Niemand hat überlebt«, sagte Arn ohne emotionale Regung. »Leifs Siedlung ist ausgelöscht. Frauen, Kinder und unsere tapferen Männer, die sie verteidigen wollten. Wir haben die Leichen nicht untersucht, aber wir haben keine Überlebenden gefunden.«
»Ihr seid gegangen, ohne nachzusehen, ob dort Verletzte sind?«
Káras Kehle war wie zugeschnürt. Sie hatte schon oft Helden nach Walhall geführt – aber sie hatte nie ihre zurückgelassenen Familien besucht. Jetzt wünschte sie sich, sie hätte es getan, denn dann wäre sie auf diesen Anblick besser vorbereitet gewesen.
Arn erwiderte die fassungslosen Blicke mit eiserner Miene.
»Wir mussten hierher zurück, um euch zu warnen und zu schützen.«
»Ich werde nachsehen!«, rief eine der Frauen und lief los. Arn machte eine Kopfbewegung, und einer seiner Männer eilte ihr hinterher. Gewaltsam zerrte er sie zurück. Sie stemmte die Füße in den Boden, schlug um sich und versuchte, in die Hände des Kriegers zu beißen. Er ließ sich davon nicht beeindrucken.
»Seid vernünftig«, sagte Arn und sprach lauter, um die wüsten Beschimpfungen zu übertönen.
»Du hast kein Recht, uns hier festzuhalten!«, rief eine blonde Frau in einem dunkelbraunen Stoffkleid, und zustimmendes Gemurmel setzte ein.
»Wenn ihr jetzt geht und euch die Plünderer erwischen, war der Tod eurer Männer umsonst«, erwiderte Arn kalt. »Ich möchte euch beschützen, nicht als Gefangene nehmen.«
»Wo ist denn der Unterschied?«, fragte sie. Arn schwieg.
»Erik, ist es wahr?« Eine Frau trat auf sie zu. Sie trug ihre dunkelblonden Haare kurz, Sommersprossen sprenkelten ihre helle Haut. In ihren Augen glitzerten Tränen. »Ist er wirklich tot?«
Ihre Hände zitterten.
»Asa.« Erik legte eine Hand auf ihre Schulter. »Dein Mann starb ehrenvoll. Er hat sicher tapfer gekämpft und …«
Sie entzog sich seiner Berührung und wandte sich Kára zu. Ihre Miene war wie versteinert, die Hände hatte sie zu Fäusten geballt. Sie öffnete den Mund, wollte etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders und ging. Kára begann zu zittern. Asa musste ihre Gedanken nicht aussprechen, damit Kára verstand. Die Menschen hielten sie für die Schuldige.
Kára streckte die Schultern zurück und hob das Kinn. So leicht ließ sie sich nicht einschüchtern. Sie sah, wie die Kinder in die Hütten getrieben wurden und Arn von drei Männern flankiert auf sie zukam. Sein Gesichtsausdruck glich einer Kampfesansage.
»Du bist eine Hexe.« Arn rümpfte die spitze Nase und erinnerte Kára mehr denn je an ein schlecht gelauntes Wiesel. »Gestehe.«
Kára zog amüsiert einen Mundwinkel nach oben und verschränkte die Arme.
»Schon wieder diese Anschuldigung?«
Ihr Herz schlug wild. Nicht weil sie Angst vor Arn und seinem Gefolge hatte, sondern weil sie fürchtete, dass Erik sich gegen sie wenden könnte. Er stand neben ihr, und es war das erste Mal, dass er sich nicht instinktiv vor Kára stellte. Sie hoffte, dass er inzwischen einfach aufgegeben hatte, sie bevormunden zu wollen.
»Solange du mir keinen anderen Grund lieferst, bist du es, die Unheil über uns bringt. Bevor du aufgetaucht bist, war alles gut. Jetzt ist die Hälfte unserer Männer tot. Du hast selbst gesagt, dass du mal einer Hexe begegnet bist. Vielleicht hat sie dich verflucht … Oder du hast einfach nur in das spiegelnde Wasser gesehen.« Er trat näher an sie heran, der Geruch seines Schweißes stieg ihr in die Nase. Sie kniff die Lippen zusammen. Etwas in Arns Blick ließ sie aufmerksam werden. Es glitzerte Triumph in seinen Augen.
»Du hast dir nicht einmal die Mühe gemacht, deinen Bruder unter den Toten zu suchen«, sagte er betont langsam. »Nicht einmal, als ich dich gefragt habe, wo er ist.« Kára lief es eiskalt den Rücken herunter. Arn hatte sie erwischt. Jeder Mensch hätte sich in dieser Situation anders verhalten als sie.
»Ich …« Auf einmal fühlte sich Káras Zunge unglaublich pelzig an. Er hatte sie reingelegt.
»Du bist einfach davon ausgegangen, dass er überlebt hat«, fuhr er fort »Das Dorf war voller Leichen, aber selbst als ich mich nach ihm erkundigt habe, hast du dich nicht umgesehen. Dabei ist er doch alles, was dir angeblich geblieben ist, nachdem euer Dorf von den Plünderern überfallen wurde.«
Die Männer griffen nach ihren Waffen. Kára hob beschwichtigend die Hände.
»Ich war verwirrt«, sagte sie und beobachtete Erik aus den Augenwinkeln. Schmerz zeichnete sein Gesicht und grub sich direkt in ihr Innerstes. Er zweifelte an ihr. Etwas Schlimmeres konnte Kára sich nicht vorstellen.
Tyr stand hinter einem Baum und beobachtete die Szene im Dorf beunruhigt. Sein Instinkt wollte ihn zu Káras Rettung schicken, aber die Worte dieses einen Mannes hielten ihn zurück. Wenn er jetzt auftauchte, würden die Menschen sie für schuldig erklären, und er würde Erik nicht mehr problemlos zur Seite stehen können.
Er musterte den zukünftigen Helden eingehender. Zugegebenermaßen verstand er, was Kára an ihm fand, und es wurmte ihn, dass er sein Heldenpotenzial nicht ebenso früh erkannt hatte wie sie. Die selbstsichere Körperhaltung und der energische Blick sprachen Bände. Tyr hatte schon viele Menschen zu Helden werden sehen, und er musste sich eingestehen, dass er vor Eriks Potenzial die Augen verschlossen hatte, damit er Kára nicht zustimmen musste. Seine Halbschwester stand mit erhobenem Kinn vor den Männern. Seine Brust füllte sich mit Stolz. Er ahnte, dass es ihr schwerfallen musste, in dieser Situation die Nerven zu bewahren. Vor allem, nachdem sie so einen fahrlässigen Fehler gemacht hatte. Tyrs Magen zog sich zusammen. Es tat ihm leid, dass er Kára durch seine überstürzte Reise zu den Nornen in diese Situation gebracht hatte. Sein Verstand suchte fieberhaft nach einem Ausweg.
»Verwirrt«, wiederholte der Mann, dessen Namen Tyr entfallen war. »Ich glaube dir kein Wort.«
Tyr ballte die Hände zu Fäusten. Ihn ärgerte es, dass Erik nichts tat, um sie in dieser Situation in Schutz zu nehmen.
Mut gehörte zur Grundausstattung eines Helden, daran konnte es also nicht liegen. Wenn Erik nicht einschritt, dann nicht, weil er sich nicht traute, sondern weil er schlicht und ergreifend nicht wollte. Ein kleiner Junge stürmte auf die Gruppe zu.