408Theo konnte die kleine Gestalt schon von weitem erkennen. Diesmal wollte er ihn nicht erschrecken und rief deshalb: »Ben! Ben!«

Der Junge reagierte nicht. Als Theo näher kam, sah er, dass Ben die Schale des Nautilus an sein Ohr hielt und verzückt auf das Meer hinaus starrte. Theo rief erneut nach ihm, und schließlich drehte der Junge sich um.

Er winkte Theo begeistert zu. »Es klappt, es klappt!«, rief er.

»Was klappt?«

»Ich höre die Südsee!«, sprudelte er hervor.

Theo schmunzelte. Dann biss Ben sich auf die Unterlippe.

»Weißt du … ich hab eigentlich Angst vor dem Meer. Große Angst. Aber dann habe ich Bilder von der Südsee gesehen. Sie ist schön. Und du hast mir gesagt, dass dadrin das Rauschen der Südsee steckt. Und das stimmt. Ich habe reingehört und plötzlich war alles so friedlich.«

Theo schluckte und wusste nichts darauf zu erwidern. Er hätte nicht geglaubt, dass Ben es so beeindrucken könnte, als er gesagt hatte, man höre in der Schale das Meer rauschen. Schließlich meinte er nachdenklich: »Du hast mir erzählt, dass du den Nautilus hier am Strand gefunden hast. Und du hast gesagt, es gäbe mehr davon. Magst du sie mir zeigen?«

»Ja, natürlich!«, rief der Junge aufgeregt.

41Er zerrte Theo am Arm mit. Sie gingen einige Zeit an der Nordsee entlang, bis der Strand schmaler wurde und die Dünen näher rückten. Schließlich bog Ben ab und strebte auf die Dünen zu. Als er die erste erreicht hatte, schaute er nach links, dann nach rechts und entschied sich für rechts. Nach einigen Metern blieb er stehen und kniete sich auf den sandigen Boden am Fuß einer kleinen Düne. Daneben stand ein Warnschild.

Mit den Händen schob er Sand zur Seite und schließlich kam ein weiterer Nautilus zum Vorschein. Er reichte ihn Theo. Dieser musterte ihn genau, hielt ihn gegen die fahle Sommersonne und begutachtete die Zeichnung der Schale. Dann verglich er sie mit der anderen. Er brummte etwas Unverständliches.

Ben begann weiterzugraben und brachte noch zwei weitere Schalen zum Vorschein. Wieder unterzog Theo sie einer gründlichen Inspektion. Er hatte sich vor seinem Tauchunfall intensiv mit Kopffüßern beschäftigt, allerdings hauptsächlich mit Tintenfischen, also Oktopoden und Cephalopoden, mit Kraken und Kalmaren.

Auch der Nautilus war ein Kopffüßer, aber in der Meeresbiologie eher ein Stiefkind. Kraken waren die Lieblinge der Wissenschaftler, weil sie zu den intelligentesten Tieren überhaupt zählten. Kalmare übten eine große Faszination aus, weil sie gewaltige Größen erreichen konnten. Das beflügelte die Fantasie mancher Forscher, die fest daran glaubten, dass in den Tiefen der Meere Riesenkalmare mit Spannweiten von über fünfzig Metern lebten.

Der Nautilus dagegen hatte ein hübsches Gehäuse – mehr aber auch nicht. Dafür blickte der schneckenhafte Vetter der Tintenfische auf einen der längsten Stammbäume zurück. Seine direkten Vorfahren gehörten vor vielen Millionen Jahren zu den am weitesten verbreiteten Arten. Im Kalk und im Schiefer der deutschen Mittelgebirge war es ein Leichtes, Ammoniten 42zu finden. Theo erinnerte sich an einen Großonkel, der seine ganze Familie jedes Wochenende zu einem Schieferbruch am Rande der Schwäbischen Alb gefahren hatte, wo er und seine drei Kinder stundenlang mit kleinen Hämmerchen Schieferplatten spalteten.

Theo konnte sich noch gut daran erinnern, wie er die goldfarbenen Schneckenhäuser auf dem schwarzen, glatten Schiefer bewundert hatte, wenn er mit seinen Eltern den Großonkel besuchte. Die ganze Wohnung war mit solchen Versteinerungen angefüllt. Damals war er zum ersten Mal einem Nautilus begegnet. Ob das dazu beigetragen hatte, dass er Meeresbiologe hatte werden wollen? Eher nicht. Wenn, wäre er wohl eher Archäologe geworden.

Als er alle Schalen intensiv miteinander verglichen hatte, schüttelte er den Kopf. Er hatte noch die Hoffnung gehabt, dass die 43Schalen vielleicht einen Hinweis auf eine bislang unbekannte Kaltwasserart des Nautilus geben könnten. Doch soweit er es beurteilen konnte, musste es sich um eine pazifische Art handeln.

»Was ist nun?«, fragte Ben ungeduldig.

»Das Einzige, was ich einigermaßen sicher sagen kann, ist, dass sie nicht von hier sind.«

»Von wo kommen sie dann?«

»Melanesien, Salomonen, Samoa vielleicht …«

»Was?«

Theo hatte völlig vergessen, dass er mit einem Zehnjährigen sprach. Er beeilte sich, es genauer zu erklären.

»Das sind weit entfernte Inselgruppen in der Südsee. Wenn du einen Globus nimmst, dann liegen sie praktisch auf der anderen Seite der Welt.«

»So weit weg?«, staunte Ben.

»Genau das bereitet mir großes Kopfzerbrechen.«

»Theo?« Der Junge schaute fragend zu ihm auf. »Kannst du mir so einen Nautilus zeichnen?«

»Na, versuchen wir es mal.«

Theo setzte sich neben Ben in den Sand, zog seinen Zeichenblock heraus und versuchte, eine der Nautilusschalen abzuzeichnen. Zunächst betrachtete Theo genau die Form. Das Gehäuse sah aus wie eine zur Spirale aufgerollte Röhre. Er setzte seinen Stift auf das Papier.

Die Nautilusschale war Symmetrie in Perfektion. Auch seine Zeichnung glich der logarithmischen Spirale, die immer im gleichen Verhältnis sowohl in die Länge als auch in die Breite wuchs.

»Wenn du damit zufrieden bist?«, fragte Theo zweifelnd und übergab Ben das Blatt.

»Ja, die gefällt mir. Es sieht aus wie ein Wirbel. Ein Wasserwirbel.«

44Theo lachte und schaute auf seine Uhr. »Es ist schon ziemlich spät. Ich denke, Trude wartet.«

Zurück im blauen Haus, bat Trude Theo noch auf einen Kaffee herein. Ben war ziemlich aufgekratzt. Kaum war er ins Haus gestürmt, zeigte er Trude die Skizze des Nautilus.

»Schau, was Theo für mich gezeichnet hat.«

Trude betrachtete das grob dahingeworfene Bild des Nautilus und meinte: »Die Mathematik ist das Alphabet, mit dem Gott das Universum schrieb.«

Theo sah sie fragend an.

»Nun, das soll Galileo in Anbetracht der logarithmischen Struktur der Gehäuse gesagt haben. Auch andere Künstler wie Leonardo da Vinci erkannten die ›göttliche Proportion‹, den sogenannten goldenen Schnitt, in der spiraligen Schale eines Nautilus.«

Theo war überrascht, dass Trude sich so gut auskannte.

»Biologie und Kunst. Und auch Deutsch. Das waren meine Fächer. Ich war früher Lehrerin.«

»Trude ist so klug«, warf Ben ein und Theo nickte zustimmend.

Dann fügte sie an: »Na, und Sie scheinen tatsächlich über ein wenig Talent zu verfügen. Man erkennt, was es sein soll. Das ist schon viel wert!«

Theo und Trude lachten. Zu Ben, der nicht ganz verstand, sagte Trude: »Geh mal hoch und zieh dich um, danach gibt’s einen Kakao für dich.«

Ben flitzte davon. Trude bat Theo an den Küchentisch.

»Die Sache mit dem Nautilus lässt Sie nicht los?«, fragte sie.

»Wie auch? Erst war es einer, jetzt sind es schon vier? Ben hat noch mehr davon am Strand gefunden und sie versteckt, wissen Sie? Wo kommen die her? Sie werden zugeben, Trude, dass mich das als Meeresbiologe schon neugierig machen kann.«

45»Zu welchem Schluss sind Sie gekommen, Theo?«

»Ich würde sagen südlicher Pazifik. Eher nicht Indischer Ozean.«

»Sind Sie auf der Suche nach einer Sensation?«

Er schaute sie verwundert an. »Natürlich nicht – aber ich bin schon sehr irritiert. Wenn an der dänischen Küste solche Schalen auftauchen, dann könnte das ein Alarmzeichen sein.«

»Sie glauben, es hat etwas mit der Erderwärmung zu tun.«

Er nickte.

»Vielleicht sollte ich mich heute Abend von Ihnen zum Essen einladen lassen.«

»Was? Gerne, aber …«

»Wieso? Das kann ich Ihnen erklären. Sie werden ja vielleicht einige Zeit hier sein und da kann es nicht schaden, ein paar Leute kennenzulernen.«

»Was hat das jetzt mit den Nautilusschalen zu tun?«

»Man weiß nie, was so ein Sommerabend alles bringt. Glauben Sie mir, der Grenen birgt so manche Überraschung«, meinte sie geheimnisvoll.

»Na, dann freue ich mich auf einen spannenden Abend mit Ihnen.«

»Ich erwarte Sie …«, Trude machte eine kurze Pause und hielt Theo ihre Hand hin, »… ich meine dich hier um Punkt acht.«