16626Zwei Meere, die aufeinanderbrandeten. Eine Düne, die wanderte. Eine andere, die eine Kirche begrub. Der Sand zeigte das Vergehen der Zeit an, der Wind übertrug die Geschichte, man musste ihr nur folgen. Doch noch herrschte Stille. Die ersten Sonnenstrahlen vergoldeten den Rand der Skagen-Kirche. Auch die Krähen schienen die Ruhe noch zu respektieren. Nur ein seichter Windstoß ließ ab und an die Blätter rascheln und erinnerte daran, dass hier nicht alles ruhte.

Der schnarrende Ruf einer Krähe kündete vom Pastor, der gerade aus dem Pfarrhaus trat.

»Ich hatte Sie schon erwartet, allerdings alleine! Meinen Sie, es ist eine gute Idee …«

Der Pastor schaute auf Ben.

»Ganz sicher ist es eine gute Idee, denn Ben haben wir die ganze Sache schließlich zu verdanken«, fuhr Theo dazwischen.

»Dann treten Sie bitte ein«, gab der Pastor nach und machte den beiden Platz.

Im Flur staunte Ben erneut über die ausgestopften Tiere hinter Glas. Er deutete auf die Nautilusschale in der Vitrine. »Da ist sie«, flüsterte er zu Theo.

Theo nickte. Der Pastor bat die beiden in sein Büro.

Kaum hatten sie sich gesetzt, legte Theo los:

»Wer war Alma Blixen?«

»Sie waren bei der tilsandede kirke

167Theo und Ben nickten. Der Pastor lehnte sich in seinem Sessel zurück, und ohne Ben zu beachten, sagte er:

»Ich möchte Ihnen etwas über diese Kirche erzählen. Seit jeher, schon seit dem Mittelalter, nagen die gefräßigen Wanderdünen Tag und Nacht an den Gemäuern dieser Kirche. Doch es war das Jahr 1775, in dem ein furchtbarer Sturm der Kirche besonders zusetzte und alle Eingänge versperrte. Die Bewohner Skagens, besonders die Fischer unter ihnen – denn die Kirche war ja dem Schutzpatron der Fischer gewidmet –, mussten graben, um das Gotteshaus betreten und ihren Gottesdienst feiern zu können. Die Fischer waren zäh. Zwanzig weitere Jahre schaufelten sie Woche für Woche die Zugänge frei, um sich Gottes Segen zu holen. Doch es nahm kein Ende: Der Wind trieb unaufhörlich den Sand gegen die Mauern. Eines Tages schließlich, nachdem sie ihre Niederlage eingesehen hatten, gaben sie den Kampf um die Kirche auf.«

Pastor Hollebæck schaute Theo an, der nicht verstand.

»Nun, die Natur ist ein großer Lehrmeister. Das sagte ich Ihnen ja schon bei unserem ersten Treffen. Das merken wir ja auch gerade aktuell, der Klimawandel.«

»Was hat das mit Alma Blixen zu tun?«

»Das überlasse ich Ihnen. Jedenfalls schloss der Klerus die Kirche endgültig, und das gesamte Mobiliar wurde versteigert. Außer diesem Schreibtisch.«

»Den haben Sie also genauso geerbt wie die Vitrinen der Familie Blixen?«

Der Pastor strich über die Tischplatte und schaute kurz auf. Schließlich öffnete er die Schublade und nahm einen Umschlag heraus. Daraus zog er ein Foto und legte es vor Theo und Ben auf den Tisch. Das alte Schwarz-Weiß-Bild zeigte eine Frau im Hosenanzug, mit kurzem Haar, ein Bein auf einen Stuhl gestellt, mit einer Zigarettenspitze in der Hand.

168»Sie ist schön. Sie sieht aus wie eine Schauspielerin«, entglitt es Ben.

Wieder blickte Pastor Hollebæck kurz zu Ben.

»Nein, sie war keine Schauspielerin. Aber ganz sicher hatte sie das Zeug dazu gehabt … nein, Alma Blixen war eine extrovertierte Frau. Sie stammte aus einer Lehrerfamilie. In der Gemeinde schien sie oft anzuecken. Eines Tages verließ sie Skagen in Richtung Südsee. Dort wollte sie Forscherin werden. Ob es ihr da unten gelungen ist, keine Ahnung.«

Der Pastor hob die Schultern.

»Nach einigen Jahren beschloss sie jedenfalls, wieder heimzukehren. Mitbringen wollte sie einen Eingeborenen von dort.«

»Den Brune Dreng?«

»Ja, sie waren ja auf demselben Schiff, der Cometen. Tragisch, dass ausgerechnet die beiden ertranken.«

»Ach, Alma war auch auf dem Schiff? Und ertrank hier vor der Küste? Und weiß man irgendetwas über den Brune Dreng?«

»Nein, wie sie der Grabplatte entnehmen konnten: Unbekannt!«

Es entstand eine Pause.

»Nun haben Sie alles von mir erfahren. Jetzt ist es an Ihnen, mir zu sagen, was sie da unten gefunden haben.«

»Nautilusschalen. Jede Menge. Verpackt in zwei Kisten, davon war eine aufgebrochen, deswegen wurden hier immer wieder Exemplare angespült.«

»Aber warum?« Pastor Hollebæck lehnte sich jetzt vor. »Warum haben Alma und der fremde Mann die Meeresgehäuse nach Dänemark schaffen wollen?«

Es war die Frage, die den Pastor schon lange beschäftigte.

Doch Theo hob die Schultern: »Das haben wir leider auch nicht herausfinden können. Es bleibt vermutlich für immer ein Geheimnis.«

169Der Pastor winkte resigniert ab und schmunzelte.

»Mmh. Zauber, Schwarze Magie. Vielleicht fahre ich dann doch mal auf den Spuren der alten Missionare in die Südsee!«

»Wissen Sie, Pastor Hollebæck, ich bin ja Wissenschaftler. Meeresbiologe. Auch ich habe lange darüber nachgedacht, was Alma und den Brune Dreng dazu veranlasst haben könnte, Nautilusschalen aus der Südsee in das ferne Dänemark zu bringen.«

»Und?«

»Mit einer Nautilusschale kann man zwar nicht das Meeresrauschen mit nach Hause bringen. Aber: Unser Gehirn kann sich mithilfe des Schneckenhauses daran erinnern. Vielleicht liegt darin ihr Geheimnis.«

»Ja, Glaube kann Berge versetzen«, winkte der Pastor ab.

»Vorstellung würde ich es eher nennen. Die Nautilusschalen sind wie ein Buch. Oder wie die Bilder der berühmten Maler hier. Erst unsere Vorstellung lässt die Wellen gleichmäßig heranrollen, die Sonne auf dem Wasser glitzern, lässt uns das Salz in der Luft schmecken.«

Der Pastor wusste nicht recht, was er dazu sagen sollte.

Dann sagte Ben: »Vielleicht wissen die mehr als wir, über das Meer.«

»Die Maler?«

»Nein, die aus der Südsee. Die lernen ja auch besser schwimmen als wir. Sagt Trude.«

»Das glaube ich mittlerweile auch.«

Dann verabschiedeten sie sich.

»Wer macht denn dann den Stein sauber?«, fragte Ben noch.

»Den Stein?«

»Na, die Steintafel von Alma und ihrem Freund.«

»Tja, alles versandet. Wir leben hier auf Sand, mein Junge. Eine Person aus dem Ort fegt da jeden Sonntag. Überzeugt euch selbst. Morgen früh ist es wieder so weit!«