Kapitel 2
„
Erlauben Sie mir, Ihnen Cody Mitchell vorzustellen, einen der besten Analysten unserer Abteilung.“
Michael Brown klopfte seinem Mitarbeiter gönnerhaft auf die Schulter. Dabei waren seine Lippen zum herzlichsten und aufrichtigsten Lächeln verzogen, das man sich nur vorstellen konnte, welches dort hing wie festgetackert. In krassem Kontrast dazu stand allerdings der Ausdruck seiner Augen: Er gehörte eindeutig einem kaltblütigen Tiefseemonster, das einer Welt des Dunkels und des Terrors entstiegen war.
Cody konnte sich gerade noch beherrschen, nicht den Kopf einzuziehen. Die Nerven. Sie lagen blank. Bei allem Lob war er doch nur ein gewöhnlicher Angestellter. Einer dieser unscheinbaren Mitarbeiter, von denen es in Unternehmen mehr gab als Flöhe bei einem Rudel Straßenhunde. Und vielleicht war er der Erste der Masse gesichtsloser Arbeitstiere, dem die Ehre zuteilwurde, vor einer derart wichtigen Gesellschaft zu sprechen. Obwohl nicht alle hier der
Second World
[3]
angehörten, kannte er jeden einzelnen von ihnen und es machte ihm sogar Angst, sich vorzustellen, wie viele Schicksalsfäden anderer Menschen in ihren feinsäuberlich manikürten Fingern zusammenliefen.
Aber Brown, der keine Ahnung davon hatte, was in seinem Untergebenen vor sich ging, stellte ihn – immer noch diesem rutschfesten Lächeln auf dem Gesicht – der Reihe nach allen vor, die
auf der anderen Seite des massiven schwarzen Tisches saßen, der aussah, als hätte man ihn nach Gewicht mit Hundert-Dollar-Scheinen bezahlt.
„Jacob Lebovich, Vorstandsvorsitzender unseres Konzerns.“
Der Konzernvorstand war ein aufgeschwemmter Typ mit dem Ansatz eines Doppelkinns, aber noch nicht als fett zu bezeichnen – dazu wirkte er noch zu getrimmt und straff – und mit Augen, die so aussahen, als weile Lebovich in noch viel tieferen Gewässern als Brown. Auch wenn seine Position wichtig klang, war er in Wahrheit nicht mehr als ein Vertreter des Alten Mannes. Er konnte sich sogar perfekt dessen Intonation bedienen, wenn er die Gelegenheit für angemessen hielt.
„Eric Coleman, Erster Stellvertretender Assistent des Präsidenten für Nationale Sicherheit.“
Coleman hatte überhaupt nichts mit Lebovich gemeinsam: Ein schneidig-sportlicher Typ mit einem eisernen Blick, hinter einer nicht allzu überzeugenden Fassade der Ironie. Sie stammten aus dem Lager der „grauen Kardinäle“, die auf den ersten Blick nie für etwas verantwortlich waren, sich überhaupt nicht mit seriösen Dingen beschäftigten und nie ins Epizentrum von Skandalen gerieten, mochten sie noch so unbedeutend sein. Sie spielten immer Neben- oder Statistenrollen, die Presse interessierte sich nicht für sie, und sich in der Öffentlichkeit zu zeigen war auch nicht ihre Sache. Kluge Köpfe vermuteten allerdings, dass sie in absolut allem ihre Finger drin hatten.
„Aaron Gray, CEO der Amerikanisch-Kanadischen Division.“
Noch einer aus dem Lager der piekfeinen, makellosen Nadelstreifenhelden in idealer körperlicher Form. Und wenngleich das dumme Lächeln à la Brown darüber hinwegtäuschen mochte, war er intelligenter als zwei Einsteins zusammen und eloquenter als Cicero.
Cody – selbst ein kleiner Mann mit einem nicht kaschierbaren „Rettungsring“ um die Taille, der trotz teuerster Hygieneprodukte ewig am Schwitzen war – begann allmählich nachzuvollziehen, wie sich Plankton fühlen musste, das in ein Becken voller hungriger Wale geschüttet wurde. Er gehörte so wenig zu dieser Gesellschaft wie ein Klärgrubenreiniger in ungewaschenem Overall auf eine feudale Promi-Party. Selbst Brown wirkte irgendwie fehl am Platz. Wie eine Schildkröte in einem Schwimmbad. Dass er sich offensichtlich unwohl fühlte, war an seiner merkwürdigen Gestik abzulesen.
„Ich werde mich kurzfassen“, fuhr Brown fort. Wie Sie wissen, haben wir kürzlich eine gründliche Untersuchung der jüngsten Vorfälle durchgeführt. Eine Fülle unterschiedlicher Versionen wurde dargelegt, und wir sind jeder davon nachgegangen, aber ich muss sagen, dass nur eine einzige Person mich mit ihren Leistungen beeindruckt hat. Also, Cody, erzählen Sie uns allen noch einmal, was Sie mir erzählt haben.“
Cody schluckte nervös und begann unsicher:
„In unserer Abteilung bin ich für Clans zuständig. Das heißt, ich überwache, was sich in den Top-Gilden tut, hauptsächlich in unserem Sektor, und, na ja, kümmere mich auch um kleinere Clans, wenn es sein muss. Die Aufgabe, die mir jetzt zugewiesen wurde, fällt nicht in meinen üblichen Arbeitsbereich.“
„Die Einleitung können Sie überspringen“, unterbrach Lebovich ihn gleichgültig.
„Verzeihung!“ Dieses Mal konnte Cody nicht anders. Er zog den Kopf zwischen die Schultern. „Nachdem ich damit betraut worden war, den Spieler zu finden, der dieses Durcheinander verursacht hat, habe ich neben den üblichen Kanälen meine Kontakte zu Gamern genutzt, um Informationen zu sammeln. Ich kann nicht sagen, dass ich viel mehr herausgefunden hätte als die anderen Mitarbeiter unserer Abteilung, aber Folgendes wissen wir bis dato...“
Ein Monitor an der Wand hinter Cody leuchtete auf. Das Video, das, den Interface-Elementen nach zu urteilen, direkt im Spiel aufgenommenen worden war, zeigte einen nicht allzu attraktiven Charakter einer unbekannten Rasse, umgeben von typischen Charakteren wie Orks, Zwergen und Ogern.
Cody begann zu erklären:
„Dieses Video wurde im Spielforum gefunden, in einem populären Thread mit dem Titel ‚Noobs gehen voll ab‘. Achten Sie auf das erste Bild: Im Vordergrund ist der fragliche Spieler zu sehen, in der Standardkleidung eines Neueinsteigers mit Work Account. Seine Kleidung sieht neu aus, sie ist nicht verschlissen. Achten Sie auf die kaum sichtbaren Linien: Solche Falten halten sich nur in den ersten zwei oder drei Stunden nach der Erstellung eines neuen Charakters. Danach integriert er sich endgültig in die Spielwelt und derartige Unebenheiten verschwinden. Und nun schauen Sie sich sein Verhalten an.“
Cody startete die Wiedergabe. Der Charakter wurde lebendig
und sagte in unsicherem, niedergeschlagenem Ton, mit der groben Intonation, die man typischerweise bei den billigsten Work Accounts fand:
„Ach so. Und wie kommt man an etwas zu essen?“
„Aaaahahahaha! Ich nehm‘ dich gerade auf, du Leuchte! Das stell ich später ins Forum.“, antwortete der Autor der Videoaufnahme.
„Was?“, fragte der „Hauptdarsteller“ verwirrt. Der Unglückliche war niemand anders als Rostendrix Poterentax.
„Vergiss es. – Du, Noob, jetzt Filmstar werden. – Damit alle ablachen können sich einen.“
„Ich wollte wissen, wo ich hier was zu essen bekomme“, beharrte Rostendrix im selben Tonfall.
„Du bist echt hohl, Mann. Selbst für‘n Noob... Oder willst du mich etwa verarschen?“
„Nein.“
„Du bist kein Troll, oder?“
„Nein, was anderes. Eine seltene Art“, kam die ernste Antwort, ohne einen Anflug von Ironie.
„Ich muss dich enttäuschen“, mischte sich nun ein Zwerg ins Gespräch ein, der neben ihnen stand. „Noobs sind hier überhaupt keine Seltenheit. Ganz im Gegenteil.“
„Hören Sie, ich bestreite gar nicht, ein Noob zu sein, klar? Wenn Sie mir einfach meine Frage nach dem Essen beantworten würden, würde ich Sie nicht weiter belästigen.“
„Welche Frage nach dem Essen?“, fragte der Zwerg zurück.
„Gleich kippst du um, Alter!“, sagte der „Kameramann“ und kicherte.
„Wo finde ich etwas zu essen? Eine Mahlzeit.“
„Du bist nicht nur ein Noob, du bist ein Noob im Quadrat! Ein außergewöhnliches Exemplar deiner Spezies! Noch seltener als ein Dinosaurier.“
„Scharf erkannt und treffend formuliert, gratuliere. Und...?“
„In jeder Taverne oder Kneipe, jedem Bordell und jeder Spelunke. Logisch, oder? Für Geld, das du, Noob, nicht hast und auch nicht haben kannst. Außerhalb der Stadt kannst du ja mal dein Glück versuchen. Im Wald Beeren oder Obst suchen oder einen Hasen fangen. Wilde Tiere gibt es viele, ganz kostenlos. Aber mit deinem Würmchen über dem Kopf wirst wahrscheinlich nicht du
was zwischen die Zähne kriegen, sondern eher die Viecher, die du findest. – Egal, schau erst mal in deine Tasche, bevor du die Leute störst. Hier ist keine Noob-Schule, hier werden ernsthafte Geschäfte gemacht.“
Rostendrix Poterentax drehte sich um und verschwand nach links, wo er sich schnell in der Menge verlor.
Cody kommentierte:
„Die Aufnahme wurde auf dem Platz vor der Arbeitsvermittlung von Arbenna gemacht, an dem Tag, an dem der Account unseres ‚Problemspielers‘ erstellt wurde. Achten Sie auf den Blickwinkel: Derjenige, der das Video aufgenommen hat, ist offensichtlich nicht klein, was bei einem Vertreter dieser Rasse nicht weiter verwunderlich ist. Ich habe später herausgefunden, dass es sich um einen Oger handelte. Alle anderen Spieler, die im Bild auftauchen, sind wie gewöhnliche Arbeiter gekleidet, Neuankömmlinge wie Rostendrix Poterentax gibt es unter ihnen nicht. Dies dürfte somit das erste Mal sein, dass er in der Spielwelt in Erscheinung getreten ist. Oder, besser gesagt, das erste Mal, dass er eine Spur hinterlassen hat. Frühere Daten hat bisher niemand gefunden. In den folgenden 33 Tagen ist nichts mehr über ihn bekannt geworden, wie es auch gewöhnlich bei der großen Mehrheit der normalen Spieler der Fall ist. Unsere Abteilung fand allerdings heraus, dass er fast die ganze Zeit in der Mine der Gilde Macht des Schwertes
verbracht hat. Über die Gilde an sich gibt es nichts Interessantes zu berichten. Es ist eine Gaming-Community wie die meisten anderen: ohne irgendwelchen nennenswerten Einfluss, ohne berühmte Spieler oder besondere Leistungen, nicht einmal in Skandale war sie verwickelt. Für uns ist einzig der Oberaufseher der Mine von Interesse: Greedius Knappi. Er gehört zur Rasse der Zwerge und steht bei einer Reihe kleinerer Clans und Gilden wegen allerlei Gewaltdelikten auf der Schwarzen Liste. Er hat einen vergünstigten Account. Der vergünstigte Tarif wurde ihm von unserem Sicherheitsteam aus mir unbekannten Gründen bereitgestellt.“
Hier mischte Brown sich ein:
„Das ist jetzt nicht von Belang, alle Anwesenden sind mit den
Einzelheiten vertraut. Fahren Sie fort, und kommen Sie möglichst schnell zum Punkt.“
„Entschuldigen Sie. Also, 33 Tage, nachdem dieses Videos aufgenommen wurde, tauchen im weltweiten Chat mehrere Meldungen auf, denen zufolge Rostendrix Poterentax eine Reihe heldenhafter und legendärer Taten vollbracht und sogar das Interesse der Götter geweckt haben soll. – Was Letzteres bedeutet, haben wir immer noch nicht verstanden. – Und jetzt kommt der wirklich interessante Teil. Die Top-Gilden unseres Sektors und auch anderer Sektoren machen sich daraufhin auf die Suche nach dem Spieler. Viele heftige Konflikte entbrennen im Spiel vor dem Hintergrund seiner Errungenschaften. Das Gleichgewicht der Welt ist plötzlich gestört, alle regionalen Rechenzentren registrieren Störungen der Aura und das übergeordnete Netzwerk schaltet offenbar in den Krisenüberwachungsmodus um, wovon das sprunghaft angestiegene Datenaustauschvolumen zeugt. Wir haben auch versucht, den Spieler zu finden, und fanden schnell heraus, dass der Account auf einen gewissen Jevgeny Rostovzev registriert ist, einen kanadischen Staatsbürger russischer Herkunft. Außerdem konnte auch festgestellt werden, dass Rostovzev infolge eines Unfalls erwerbsunfähig und körperlich extrem beeinträchtigt ist und sich derzeit im St. Francis Hospital in San Francisco im künstlichen Koma befindet. Sein Charakter sollte dauerhaft im Spiel bleiben, aber obwohl wir jede verfügbare Spielmethode genutzt haben, ist es uns nicht gelungen, seinen Aufenthaltsort dort zu identifizieren, geschweige denn festzustellen, dass er überhaupt dort existiert.“
„Das wissen wir auch“, versetzte Lebovich barsch. „Niemand hat ihn bisher auch nur ein einziges Mal gesehen. Wozu kauen wir hier immer wieder ein und dasselbe durch? – Brown, ich frage Sie.“
„Cody, könnten Sie bitte endlich zum Punkt kommen? Zu dem, was Sie gestern ausgegraben haben?“, bat Brown hörbar angespannt.
„Natürlich. Ich erhielt die Informationen über meine Kontakte, durch einen hochgestellten Spieler einer der Top-Gilden des Sektors, der J-P
. Normalerweise werden sie ‚Jeepees‘ genannt. Sie sind unter anderem dafür berühmt, dass sich eine enorme Anzahl von Helden unter ihrem Banner vereint hat. Es wundert also nicht, dass sie sich einen so außerordentlichen Kandidaten nicht entgehen lassen wollten und sich sehr intensiv mit der Sache beschäftigt haben. Die Analysten der Gilde nahmen an, dass unter den Boni, die Rostendrix für all seine Achievements erhielt, auch einer war, der ihm erlaubte, seine Identitätsdaten zu ändern – was seine unbegreifliche Fähigkeit erklären würde, unentdeckt zu bleiben. Im Gameplay ist eine derartige Funktion nicht vorgesehen, aber in Anbetracht der besonderen Eigendynamik der Evolution der Zweiten Welt könnte eine solche Funktion tatsächlich entstanden sein. Absolute Verbote sind nicht Teil der Spielmechanik, und selbst wenn es sie gäbe, wäre ihre Wirksamkeit zweifelhaft. Im Gegensatz zu anderen Gilden – und zu uns – begannen die Jeepees nicht nur, nach Rostendrix Poterentax zu suchen, sondern auch nach Auffälligkeiten bei Spielern, die mit ihm nicht viel gemeinsam hatten. Beträchtliche Mittel wurden investiert und keine Mühen gescheut. Befreundete Communities wurden einbezogen und NPCs bestochen. Die J-P-Gilde brachte stationäre Teleporter, Zugänge zur Stadt, Brücken und Fähren wurden unter ihre Kontrolle. Sie holte auf verschiedenen Ebenen alle möglichen Informationen aus Spielern heraus und ging selbst den kleinsten Hinweisen und unwahrscheinlichsten Geschichten nach. Und sie fand ihn.“
Alle drei Herren horchten einträchtig auf. Das festgeklebte
Lächeln auf Aaron Grays Gesicht fiel wie auf Knopfdruck ab, und nun sah er aus wie ein hungriger Wolf kurz vor dem Sprung auf sein Opfer.
Cody vergaß, dass er vor ein paar Minuten noch so nervös gewesen war wie ein jungfräulicher Freier auf dem Weg zum Bordellbesuch und fuhr fort:
„Uns liegen keine Aufzeichnungen vor, dafür aber Screenshots. Hier können Sie unseren geheimnisvollen Rostendrix Poterentax sehen.“
Coleman schüttelte den Kopf:
„Sieht ihm nicht ähnlich.“
„Ganz recht. Nickname: John Archer44. Rasse: Lichtelf, möglicherweise ein Hybrid. Er wurde gesichtet, als er zu Fuß die Stadt Pegur betrat. Alle Versuche herauszufinden, wo er sich davor aufgehalten und was er davor getan hat, waren erfolglos. Der Nick und das Aussehen sind so nichtssagend, dass man sie schon nach ein-zwei Minuten wieder vergessen hat, wenn der Charakter sich nicht gerade ungewöhnlich benimmt. Dem Anschein nach ein gewöhnlicher Spieler auf niedrigem Level, an dem man nichts Seltsames finden kann. Es war sein Pech, dass sich unter den Wachen am Stadttor ein NPC-Magier befand. Bekanntermaßen hat man bei NPCs im Gegensatz zu Durchschnittsspielern manchmal bemerkenswerte Kombinationen hoch entwickelter Attribute – sekundärer und zusätzlicher. Bei diesem NPC stehen Aufmerksamkeit und Essenz der Dinge fast auf 50, mit sehr präsentablen Verstand- und Geheimes-Wissen-Stats. Abgesehen davon ist er noch ein Magier, verfügt also über eine Menge Intelligenz und Kraft der Gedanken. Dank ihnen hat er einen
spürbaren Bonus. Kurz gesagt: Er konnte bestimmen, dass dieser äußerlich völlig unscheinbare Spieler tatsächlich ein legendärer Held war. Da der Magier von den Jeepees bestochen wurde, tat er, wofür er sein Geld bekommen hatte, und informierte seine Auftraggeber.“
„Ist das NPCs denn überhaupt gestattet?“, wunderte sich Coleman.
„Sie kennen die Spielrealität nicht sehr gut: Alles, was die Spielmechanik nicht ausdrücklich verbietet, ist zulässig. Und Verbote dürfen weder an Bedingungen geknüpft sein, noch Konflikte verursachen. Es ist zwar schwierig, mit NPCs außerhalb der entsprechenden Gilden, wie zum Beispiel den klassischen Söldnern, solche Deals zu machen – aber nichts ist unmöglich. Ein Suchtrupp der Jeepees bemerkte den verdächtigen Charakter an der Schwelle zur Magiergilde und forderte ihn auf, seiner Einheit beizutreten. John Archer44 weigerte sich und floh in das Gebäude der Gilde. Die Jeepees übernahmen sofort die Kontrolle über alle Ausgänge, und schickten per Teleporter Magier zum Ort des Geschehens, die mit ihren Fähigkeiten die Öffnung der umliegenden Portale blockierten. In Gebäuden ist so etwas zwar unmöglich, doch sie entschieden, auf Nummer sicher zu gehen. Kämpfer der Gilde hefteten sich auch an alle Wachen der Stadt. Auf entsprechenden Befehl hin wären sie bereit gewesen, sie zu vernichten oder in ihre Gewalt zu bringen. Faktisch stand die J-P kurz davor, die Stadt zu übernehmen. Das hätte zwar ihren Ruf ruiniert und auch sonst enorme Verluste für sie bedeutet, doch sie war bereit, das in Kauf zu nehmen, um Rostendrix zu fassen. Sie hoffte, dass der Preis alle Kosten wert wäre. Das Kaiserliche Turnier stand kurz bevor, und der einzigartige Held hätte sich einer Konkurrenzgilde der Jeepees anschließen und ihr damit einen entscheidenden Vorteil verschaffen können. Wer konnte schon
wissen, welchen wertvollen Preis sie dieser exzentrischen „Geheimwaffe“ geboten hätte? Die Jeepees galten schon im Vorfeld als sichere Gewinner des Turniers. Und den Imageverlust, den eine Niederlage bedeutet hätte, hätten sie unter keinen Umständen hingenommen. So erklärt sich ihr Handeln. Die Führung der Gilde war zu fast allem bereit, sie ließ ihm kein einziges Schlupfloch, durch das er hätte entkommen können. Und doch entkam er.“
„Wohin? Wie?“ Jetzt hatte Cody Lebovichs ungeteilte Aufmerksamkeit.
„Das wissen die Jeepees nicht.“
„Und konnten Sie herausfinden, wie er das angestellt hat?“, fragte Coleman.
„Ja.“
„Und?!“
„Alle, die das Gebäude verließen, wurden kontrolliert und dabei gezwungen, einer Gruppe beizutreten. Wenn ein Held das tut, werden seine Boni sichtbar. Es gilt als unmöglich, sie zu verbergen. Zudem wurde mithilfe von Spitzenspielern mit hohen Unsichtbarkeitsstats das ganze Gebäude bis in den letzten Winkel durchsucht. Niemand versteckte sich darin. Die Jeepees sind bis jetzt ratlos. Sie glauben am ehesten daran, dass der Spieler hinter John Archer44 seinen Charakter einfach gelöscht hat. Das ist aus ihrer Sicht die einzig mögliche Erklärung dafür, dass jemand so verschwinden konnte. Und nur dem ist es zu verdanken, dass die Information etwas weniger geheim wurde: Sie haben sie im
Offiziersbereich ihres Forums gepostet, zu dem ich dank dem Spieler, den ich erwähnt habe, Zugang habe. Sehen Sie sich mal diesen Screenshot an.“
Die Momentaufnahme zeigte eine malerische Szene. Im Bild war der untere Teil eines Gebäudes im gotischen Stil zu sehen. Auch ohne den Rest zu sehen, konnte man darauf wetten, dass das Dach eine Unmenge schmaler, hoher Türme sowie andere typische Stilelemente zierten. Unter einem Spitzbogen heraus führte eine kleine Treppe nach unten. Auf ihr stand etwa ein Dutzend Spieler, von denen einige sehr perplex aussahen. Anscheinend waren sie auf dem Weg nach unten gewesen, doch von den Spielern gestoppt worden, die gerade mit dem Rücken zum Fotografen standen. Neben edler Kleidung, die ausschließlich in Städten getragen wurde, und teuren Rüstungen waren typische Lumpen von Neuankömmlingen und abgetragene Lederrüstungen niedrigstufiger Kämpfer zu sehen. Die Gesichter spiegelten Wut, Ratlosigkeit und Neugier – jemand hatte ein Foto von der Sorte geschossen, von dem jeder professionelle Fotograf träumte. Lediglich die Buchstaben, Zahlen und sonstigen Symbole über den Köpfen der Beteiligten und die Elemente des Game-Interface an den Rändern des Screenshots störten das harmonische Gesamtbild.
„Das ist der Haupteingang zur Zweigstelle der Magiergilde in der Stadt Pegur. Der Screenshot stammt von einem Jeepee. Sie haben alle, die hinein- und hinausgingen, mehr als einmal fotografiert. Es gibt auch viele Bilder aus dem Gebäudeinneren. Aber die brauchen wir uns gar nicht anzuschauen, denn das Wichtigste sehen wir hier.“ Cody wies auf eine der Figuren. „Das ist der, den wir suchen.“
„Soll das ein Witz sein?!“, brauste Lebovich auf, während Coleman und Gray demonstrativ schwiegen.
„Nein, das ist kein Witz. John Archer44 hat seinen Charakter nicht gelöscht. Er hat einfach noch einmal seine Daten geändert. Und, wie Sie sehen, radikal.“
Der Vorstandsvorsitzende presste die Lippen fest aufeinander, schüttelte den Kopf und sagte mürrisch:
„Wenn das wahr ist, weiß ich nicht mehr, was ich denken soll.“
„Was stimmt denn nicht?“, säuselte Coleman aalglatt.
„Nichts stimmt. In unserem Spiel ist es unmöglich, das Geschlecht zu wechseln. Absolut ausgeschlossen. Ein derartiger Mechanismus war niemals vorgesehen.“
„Vielleicht ist es eine Tarnung? Und tatsächlich handelt es sich um einen männlichen Charakter?“
„Schauen Sie sich den Screenshot genau an. Er wurde in dem Modus aufgenommen, in dem alle Attribute zur Ansicht geöffnet sind. Hier links neben dem Nick ist ein Kreis mit einem umgedrehten Kreuz darunter: das uralte Symbol für Weiblichkeit, und im Spiel bedeutet es haargenau dasselbe.
„Vielleicht hat er es gefälscht?“
„Das ist unwahrscheinlich, aber selbst wenn, was ist dann mit allem anderen? – Schauen Sie sich die Beine an: Sie sind durch die Kleidung nicht vollständig bedeckt, man kann erkennen, dass ihre
Form weiblich ist. Der Charakter-Editor würde niemals für einen Mann solche Beine auswählen. Und hier: Auch wenn die Oberbekleidung billig ist und fast alles verdeckt, kann man die Form der Brust erkennen.“
„Könnte ausgestopft sein...“
„Das ist ein Spiel, nicht das echte Leben. Es ist nicht einfach, irgendwelche Gegenstände so zu verwenden wie in der Realität. Man kann sie in der Hand, in Umhänge- oder Kleidungstaschen und in Slots herumtragen, aber man kann sie nicht einfach überall hinstecken, wo es einem einfällt. Und selbst wenn es gelingt, bleiben sie dort nicht lange.“
„Es sind die Gesichtszüge, die Figur, und der Hals ohne die Spur eines Adamsapfels. Mag sein, dass diese Rasse allgemein etwas Feminines hat, aber nicht in dem Ausmaß. Und so viel Spielraum bietet der Charakterbearbeitungsmodus nicht. Unsere ‚nicht traditionell orientierten‘ Kunden hätten uns beinahe den Krieg erklärt, weil sie die Möglichkeit haben wollten, das Geschlecht zu wechseln oder zumindest Charaktere zu erstellen, die visuell vom anderen Geschlecht nicht zu unterschieden sind, aber am Ende kam nichts dabei heraus. Zu der Zeit war das Projekt bereits angelaufen, und derartige Änderungen wären ohnehin unmöglich gewesen. Außerdem waren Länder mit konservativen Gesellschaftsnormen kategorisch dagegen, und wir wollten ihre Märkte nicht verlieren.“
Gray mischte sich ein:
„Ich weiß sehr gut, welche Möglichkeiten der Charakter-Editor bietet, und ich muss zustimmen: Dieses Bild zeigt ein Mädchen, keinen Transvestiten. Daneben möchte ich Sie auch auf ein anderes
Symbol neben dem Nick aufmerksam machen: die schematische Darstellung des Kopfes einer Frau mit langen Haaren.
Lebovich schlug mit der Faust auf den Tisch:
„Brown! Wollen Sie uns alle für dumm verkaufen?! Dieses Mädchen hat sogar ein reales Erscheinungsbild!“
„Was ist denn damit nun wieder?“, erkundigte sich der völlig ahnungslose Coleman.
„Dieses Icon bedeutet, dass sie den Look-Editor nicht verwendet hat, oder nur ganz minimal. Das wirkliche Aussehen wurde so gut wie nicht verändert. Eventuell hat sie das Haar verlängert oder die Augenbrauen gezupft, auch die Lippenfarbe darf man korrigieren, aber die Beine zu verlängern oder die Brust zu vergrößern, das ist zum Beispiel schon nicht mehr drin.“
„Nichtsdestotrotz ist es aber immer noch John Archer44“, sagte Cody, den der Zorn des Direktors überhaupt nicht beeindruckt hatte. Er ging so in seiner Präsentation auf, dass er ganz vergessen hatte, in wessen Gesellschaft er sich befand.
„Warum glauben Sie das?“, erkundigte sich seelenruhig Coleman, der sich mit den Feinheiten des Spiels nur schlecht auskannte.
„Ich habe es mithilfe des Ausschlussverfahrens ermittelt: Es kann einfach niemand sonst sein. Mithilfe unserer Ressourcen habe ich jeden überprüft, der in der Gilde gesehen wurde. Alle Kontoinhaber ließen sich identifizieren, bis auf einen: diese junge Dame mit dem vermeintlich echten Aussehen. Im Spiel existiert sie,
aber in der Realität gibt es keinerlei Informationen über sie.“
„Es könnte ein Elite-Acc sein, der irgendwo im ostasiatischen Sektor registriert ist. So ein Account wäre selbst mit unseren Mitteln nicht leicht zu überprüfen.“
Gray schüttelte den Kopf.
„So schwer aber wiederum auch nicht. Und wenn Sie Recht hätten, hätten wir immerhin festgestellt, dass
der Charakter einen Besitzer hat, und zwar in allerhöchstens 15 Minuten. Aber es steht niemand hinter ihm. Sie ist wie ein NPC: ein Niemand aus dem Nirgendwo.“
Lebovich wollte nicht nachgeben:
„Wenn das so ist, dann sehen Sie sich doch einmal das Bild an. Ich wette zwanzig Dollar gegen einen verrosteten Cent, dass die Jungs unten an der Treppe jeden, der rauskommt, dazu zwingen, ihrer Gruppe beizutreten. Deswegen sehen die Leute ja so unzufrieden aus. Vielen geht das schon auf den Geist. Wenn das der Typ wäre, den wir suchen, würde er sich binnen einer Sekunde schon verraten, durch den Bonus für die Gruppe. Helden ohne Boni gibt es nicht, das weiß jeder, und nachdem ein Held in eine Gruppe aufgenommen wurde, werden alle Mitglieder durch eine Meldung informiert, welche Boni sie durch den Helden erhalten. Das kann einem also gar nicht entgehen.“
„Unser Held ist aber sehr ungewöhnlich“, antwortete Cody. „Außerdem konnte ich herausfinden, dass Frauen nicht überprüft wurden, indem sie der Gruppe beitreten sollten. Genauer gesagt: Sie wurden überprüft, aber nur wenige ganz zu Beginn. Später waren es
auch noch ein oder zwei, wobei die Wahl rein zufällig war oder weil vermutet wurde, dass sie sich tarnten. Somit hatte unser Held die eine
Chance zu entwischen – und er hat sie ergriffen. Ich habe genau wie Sie zunächst große Zweifel gehabt, dachte, es müsse einen Fehler oder Unzulänglichkeiten bei unseren Suchmethoden gegeben haben. Doch die weitere Untersuchung erbrachte unerwartete Ergebnisse. Vor sich sehen Sie also einen Charakter der Rasse Flaiting, mit dem eher banalen Nick ‚NurseLady‘, der aber nichtsdestotrotz eine gewisse Originalität besitzt: Im Gegensatz zu ‚John Archer44‘ war dieser Nick noch nicht vergeben, was man daran sehen kann, dass er nicht mit einer Zahl endet. Flaitinge sind eine spezifische Rasse. Sie ist hochspezialisiert und, wie bei einigen anderen Rassen auch, müssen die Besitzer ihre physischen Daten zum Abgleich bereitstellen. Die Vertreter dieser Rasse sind langbeinig und hager oder, besser gesagt, zierlich und haben feine Gesichtszüge. Wenn diese Beschreibung nicht dem realen Aussehen entspricht, kann man sich das ‚Kopf-Icon‘ nicht neben den Nick setzen und muss entweder für die Bearbeitung draufzahlen oder eine andere Rasse wählen. Auf unseren Held, beziehungsweise unsere Heldin, trifft die Beschreibung offenbar zu. Diese Aufnahme dokumentiert ihr erstes Erscheinen im Spiel. Frühere Spuren gibt es von ihr nicht. Dafür haben wir aber ihren weiteren Weg nachverfolgt – zugegeben, mit ein paar Lücken. Es wirkt so, als habe sie sich ganz bewusst bemüht, an möglichst vielen Orten aufzufallen. Wir haben Spieler ausfindig gemacht, mit denen sie sich zusammengetan hat, um am Stufenaufstieg zu arbeiten. Alle außer einem gaben an, dass sie großartig gespielt habe, was für Spieler auf so niedriger Stufe merkwürdig ist. NurseLady hat ihre Sache hervorragend gemacht, selbst in den schwierigsten Situationen: Sie hat überlebt und dafür gesorgt, dass auch fast die ganze Truppe überlebte. Der Anführer der Gruppe – der Spieler, der sie kritisiert hat – hat im Grunde
genommen dasselbe gesagt. Offensichtlich hatte er eine persönliche Abneigung gegen sie, daher die unbegründete Kritik. In der Folgezeit wurde unsere Heldin bemerkt, als sie in Städten der Nachbarprovinzen unterwegs war. Sie wurde im Lager eines Auktionshauses, auf Märkten und wiederholt bei der Benutzung stationärer Teleporter gesehen. Es gibt Zeugen, mit denen sie sich unterhalten hat, und alle gaben an, dass sie mehr als einmal ihren reichen Vater erwähnte, der ihr befohlen habe, einen Flaiting-Charakter zu entwickeln, damit die Familie zusammen als Einheit spielen könne. Er sei auch derjenige, von dem sie das Geld für die Teleporter und die gute Ausstattung erhalte und der für ihre Stufenentwicklung bezahlt habe, nämlich als NurseLady bei der Söldnergilde eine NPC-Einheit zum Farmen von Mobs in der Feuerkluft anheuerte. Das ist auch der letzte Ort, an dem sie in Erscheinung getreten ist. Seitdem ist sie nicht mehr auffindbar, egal welche In-game-Methoden wir anwenden. Private Chat-Nachrichten scheinen einfach irgendwo im Äther zu verschwinden. Das ist eine exakte Wiederholung des Szenarios, das wir mit diesem Helden erlebt haben, nachdem rote Meldungen über ihn in alle Chats gegangen waren. Finden Sie nicht auch, dass das ein seltsamer Zufall ist? – Ich fasse zusammen: John Archer44, ein völlig unbekannter Held, betrat die Gilde der Magier und wurde seitdem nicht mehr gesehen. Stattdessen verlies NurseLady das Gebäude, ein dünnes, zerbrechliches Mädchen von sechzehn oder siebzehn Jahren, etwa auf Stufe fünfzehn. Bemerkenswerterweise konnten wir keinerlei Erwähnung von ihr vor
diesem Moment finden, sehr wohl aber Dutzende von Zeugen, die danach alle dasselbe über sie sagten: eine Spielerin mit einer seltenen Rasse, die sich perfekt mit dem Spiel auskennt und scheinbar aus dem Nirgendwo gekommen ist. Herr Lebovich, ich hoffe, meine Argumente haben Sie überzeugt: Rostendrix Poterentax, John Archer44 und NurseLady sind ein und
derselbe Spieler.“
Der Vorstandsvorsitzende nickte:
„Ja, ich bin einfach schockiert von diesen Neuigkeiten! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Das ändert so vieles. Wir müssen eine Menge grundlegender Dinge neu überdenken... Haben Sie persönlich denn eine Meinung zu all dem?“
Cody zuckte die Schultern:
„Ich kann den Sinn einer so gründlichen Untersuchung nicht ganz nachvollziehen, aber es fallen ein paar sehr merkwürdige Dinge an der Sache auf, und einige davon sind völlig unerklärlich.“
„Zum Beispiel?“
„Der Wechsel des Geschlechts und die anderen Transformationen. – Das ist unmöglich. Die Spielmechanik verbietet es kategorisch. Das Achievement „hat das Interesse der Götter geweckt“ ist ebenso unerklärlich, denn nach der Legende der Zweiten Welt gab und gibt es überhaupt keine Götter. Diese beiden Phänomene sind für mich überhaupt nicht nachvollziehbar.“
„Und welche können Sie nachvollziehen?“
„Laut Aussage der Jeepees hatte John Archer44 Stufe elf. Gleichzeitig wissen wir, dass Rostendrix Poterentax lange Zeit Jagd auf hochrangige Monster machte und auf diese Weise viel Erfahrung sammelte. Für seine heroischen Leistungen muss er außerdem Stufen erhalten haben. Unterschiedlichen Einschätzungen zufolge hätte er, nachdem seine Sperren aufgehoben worden waren (was bei solchen Achievements unweigerlich passiert), mindestens das 50.
Level haben müssen. Die Jeepees verwirrte das, doch sie fanden eine einfache Erklärung dafür – sogar zwei: Entweder hatte sich der NPC-Magier, der ihn überprüft hatte, geirrt oder Rostendrix Poterentax brachte sich mehrere Hundert Mal um und verlor dabei den Großteil seiner Stufen. Ein merkwürdiges Vorgehen, aber es erklärt die Diskrepanz bei den Stufen.“
„Ein äußerst merkwürdiges Vorgehen, würde ich sagen. Wer würde so viel Erfahrung wegwerfen?“
„Gerade den Gedanken kann ich akzeptieren. Mich verwirren eher die anderen seltsamen Dinge.“
„Welche genau?“
„Am befremdlichsten finde ich sein Verhalten: Auf dem ersten Video sehen wir einen klassischen Noob. Ein Noob ist ein unerfahrener Spieler, ein absoluter Grünschnabel, der fast nichts über...“
„Wir arbeiten nicht in einem Tabakladen, wir kennen die Bedeutung des Wortes ,Noob‘“, unterbrach Lebovich.
„Oh, tut mir leid. Ein ganz ähnliches Verhalten hat er noch in der Mine demonstriert, aber alle Zeugen haben seinen Sinn fürs Geschäft hervorgehoben. Und die Tatsache, dass er nur wenige Tage brauchte, um ein guter Jäger zu werden. Infolgedessen gab er das Erzschürfen komplett auf und widmete sich ganz den Monstern. Viele betonten, dass Rostendrix in den ersten zwei-drei Tagen oft getötet wurde, doch danach hörte das auf. Er starb überhaupt nicht mehr. Schauen wir weiter: Die Spieler aus NurseLadys Truppe hoben
hervor, dass sie meisterhafte Kontrolle über ihren Charakter hatte, die Lage immer schnell und korrekt einschätzte, bei den Heilzaubern für ihre Mitspieler kompetent Prioritäten setzte, Monsterangriffe überleben konnte, und vieles mehr. Einer der Gruppenspieler arbeitete an dem Stufenaufstieg eines neuen Charakters, nachdem er seinen ersten aus persönlichen Gründen gelöscht hatte. Er lobte NurseLady am lautesten von allen. Dazu muss man sagen, dass sein erster Charakter auf der 89. Stufe war, das heißt, der Spieler ist erfahren genug, um einen Newbie von einem Pro zu unterscheiden. Er vermutet, dass auch NurseLady nicht der erste Charakter ihrer Besitzerin ist, und dass diese über beträchtliche Erfahrung verfügt. Und zwar über Erfahrung mit Support-Charakteren: Sie kann heilen, buffen und beherrscht überhaupt die ganze Palette. In der Mine aber war Rostendrix ein Nekromant oder eine ähnliche Klasse: Für die Jagd setzte er wiederbelebte Kreaturen ein. Das alles ließe sich dadurch erklären, dass der Inhaber des Accounts ein spezielles Training hatte oder einfach ein guter Schauspieler ist. Oder vielleicht besitzt er einfach das Talent vorzugeben, jemand anders zu sein, wer auch immer. Andererseits haben wir es hier definitiv nicht mit einem Noob zu tun, sondern mit jemandem, der Spielerfahrung mit Charakteren verschiedener Spezialisierungen hat. Wenn wir aber davon ausgehen, dass er gezielt trainiert wurde, würde das einige Merkwürdigkeiten erklären, die nichts mit Spielaktionen zu tun haben.“
„Was genau meinen Sie?“ Lebovichs Anspannung wuchs sichtlich.
„Den Zwischenfall im Rechenzentrum. Wir verloren plötzlich die KI, die für die Schaffung neuer Charaktere und die wiederholte Genehmigung bestehender Charaktere verantwortlich ist, und zwar
auf ganz merkwürdige Art und Weise: Die Funktion zur Charaktererstellung konnte erst am nächsten Tag wieder hergestellt werden, während die anderen Funktionen alle unbeeindruckt weiterliefen. Was passiert ist, kann nach wie vor niemand erklären. Insbesondere kontrollierte dieselbe KI Hunderte von NPCs mit zentraler Bedeutung für das Spiel, und die funktionierten einwandfrei weiter und tun es bis jetzt noch, ohne dass auch nur ein kritischer Fehler aufgezeichnet wurde. Es fand auch keine Umverteilung von Verarbeitungskapazitäten auf die übrigen beiden KIs statt. Diese KI war daneben an der Wetterkontrolle für den gesamten Sektor beteiligt, aber...“
„Schon klar, schon klar!“, unterbrach Lebovich. „Was wir nicht verstehen, ist: Was soll ein spezielles Training des Spielers mit dem Problem des Verlusts der KI zu tun haben?“
„Wenn wir einmal annehmen, es gibt eine Verschwörung oder einen unbekannten Akteur, der hinter diesem Spieler steht, dann lässt sich alles durch externe Einmischung erklären.“
„Das heißt...?“
„Das heißt, wir haben es mit einer Organisation zu tun, die sowohl im Spiel als auch in der Realität effektiv vorgeht. Der Verlust der KI ist ihr Werk. Immerhin haben wir dadurch jegliche Kontrolle über die Charaktere verloren, die mit ihrer Hilfe erstellt wurden. Wie wir das wieder hinbekommen sollen, wissen wir nicht, denn: Als die KI sich verabschiedete, wurden gleichzeitig die Datenbanken mit den Backups zerstört. Und das war nun mit Sicherheit kein Zufall. Mehr noch: Sogar die Ausdrucke sind weg. Dazu läuft immer noch eine interne Untersuchung. Rostendrix konnte nur mithilfe seiner
Einverständniserklärung zur Weitergabe seiner Account-Daten an Dritte – nämlich seine Anwälte – identifiziert werden. Dieser Verwaltungsprozess lief völlig unabhängig von der KI. Die Informationen gingen an ihr vorbei, wurden über ganz andere Kanäle weitergegeben, und das dürfte der einzige Grund dafür sein, dass sie intakt blieben. Irgendjemand hat alles darangesetzt, den Besitzer des Charakters geheim zu halten, oder uns dazu zu bringen, genau das zu glauben. Eine andere Erklärung kann ich mir nicht vorstellen. Das würde sich bestens eignen, um zu vertuschen, dass das Projekt sabotiert wurde, aber bislang hat noch niemand nachgewiesen, dass es sich um Sabotage handelt. Und es scheint alles viel zu unbedeutend und zu kompliziert für etwas so Banales wie Sabotage. Außerdem: Warum sollte er eine schriftliche Erklärung hinterlassen, wenn er sich verstecken wollte? Das ist doch eine so auffällige Spur. Da hätte er sich all seine sonstigen Anstrengungen gleich sparen können… Falls jemand gegen uns spielt, ist mir jedenfalls bis jetzt nicht klar, welchen Sinn dieses Spiel hat. Es stimmt hinten und vorne nichts...“
„Und wie vollbringt er solche Wunder im Spiel?“, fragte Gray.
Cody zuckte die Schultern:
„Das weiß ich nicht. Ich kann nur vermuten, dass er oder sie eine Schwachstelle gefunden haben – oder sogar mehrere – und sie jetzt ausnutzen, um irgendwelche uns unbekannte Ziele zu erreichen.
„Vielen Dank, Cody. Tadellose Arbeit.“, sagte Lebovich betreten und nickte Brown zu.
Der erhob sich und nickte zurück:
„Gut, Cody, gehen wir.“
* * *
Kaum hatte sich die Tür hinter den beiden geschlossen, da platzte Lebovich der Kragen:
„Hat irgendjemand hier überhaupt was verstanden?“
„Wer hätte einen Vorteil davon?“, sagte Gray gleichzeitig.
Coleman schnaubte skeptisch lächelnd:
„Meinen Sie jetzt, von der Verschwörung irgendwelcher mysteriöser und unberechenbarer Mächte? – Das ist doch nur eine Version eines kleinen Angestellten mit minimalen Zugriffsberechtigungen. Er hat alles akribisch durchgeackert, das muss man ihm lassen, aber er verfügt nicht mal über ein Zehntel der Informationen, die er bräuchte, um so großspurige Schlüsse zu ziehen.“
„Minimal würde ich seine Berechtigungen nicht nennen, wenn er Zugang zu persönlichen Spielerdaten hat“, erwiderte Lebovich.
„Ja ja, mir ist schon klar, dass der Typ fähig ist. Aber Sie wissen sehr gut, von welcher Art Zugang ich spreche, wenn sogar Brown jetzt nicht bei uns sitzt. Lebovich, Sie kennen das Spiel von uns allen am besten, mit all seinen Feinheiten. Was sagen Sie dazu?“
„Ich sage nichts dazu. Weil ich völlig im Dunkeln bin, was vor sich geht.“
„Aber wenn Sie nun etwas dazu sagen müssten?“
„Sie haben doch gehört, was dieser pummelige Donut gesagt hat: Das dünne Mädchen, beziehungsweise die Person hinter ihrem digitalen Körper, können wir nicht erreichen. Wir können nicht bestimmen, wo sie ist. Das Gleiche gilt für diesen Rostun... Rostan... Rostendrix, verfluchter Mutant! – Welcher Idiot ist eigentlich auf die Idee gekommen, den Noobs so bescheuerte Namen zu geben?! Man verknotet sich ja die Zunge! – Übrigens, hier ist noch eine frohe Nachricht für Sie: Vor ein paar Stunden begannen die gleichen Störungen der Aura der Welt, die wir nach seinen Heldentaten eingefangen haben, wieder
. Sie waren schon fast ganz abgeebbt, aber jetzt sind sie wieder so stark wie früher. Die Prozesse ähneln sich sehr.“
„Ich verstehe nicht: Von was für einer Aura der Welt sprechen Sie?“, fragte Coleman.
„Gray, erklären Sie‘s bitte, ich schenke uns derweil Wasser ein. Mir ist die Kehle schon ausgetrocknet.“
Der CEO wählte seine Worte mit Bedacht und sprach sehr langsam:
„Bei der Schaffung der Zweiten Welt versuchten die Entwickler, das Unvereinbare miteinander zu vereinen, nämlich Zuverlässigkeit und höchste Stabilität mit nicht vorhersagbarer Variabilität und dem völligen Ausschluss manueller Kontrolle. Wozu Letzteres wichtig ist, wissen Sie selbst. Und dass unsere Administration keine Möglichkeit, in den Spielprozess einzugreifen, ist unsere Version für die Gamer-Community. Gesteuert wird die Zweite Welt ausschließlich durch ein intelligentes Computersystem oder, einfacher ausgedrückt, durch eine Reihe künstlicher Intelligenzen.“
Coleman nickte:
„Ja, ich weiß, dass wir die Welt in die Hände der Computer gelegt haben und wir nichts Neues einbringen können. Manuelle Eingriffe sind allgemein ausgeschlossen.“
„Ja, wir können nicht einmal ein von einem Baum gefallenes Blatt ‚einzeichnen‘. Die KIs der untersten Ebene sind in Dreiergruppen eingeteilt. Je drei dieser Dreiergruppen sind mit einer zentralen Dreiergruppe verbunden. Die zentralen Dreiergruppen bilden Cluster, die Cluster sind in Gruppen zusammengefasst, die jeweils einen Sektor kontrollieren, und es gibt noch eine separate Gruppe von KIs – die größte – die die Koordination zwischen den Sektoren gewährleistet. Daneben gibt es noch eine weitere Gruppe, die kleinste: Sie besteht aus wenigen, hochmodernen KIs der letzten Generation. Etwas Besseres wurde noch nicht entwickelt, und ein Teil ihrer angegebenen Funktionen konnten faktisch noch nicht implementiert werden. Wir nennen sie ‚Super Group‘, und ihre Aufgabe ist zu überwachen, dass die untergeordneten Gruppen stabil funktionieren. In der Luftfahrt gibt es ein Gerät, das die Position des Flugzeugs am Himmel anzeigt. Mit seiner Hilfe bemerkt der Pilot jede noch so geringe Abweichung. Die Super Group ist sozusagen unser Pilot. Sie greift nicht in die Spielprozesse ein, solange sie keine signifikante Abweichung von den Standardparametern feststellt. Nur wenn sie das tut, ist sie berechtigt, Änderungen zur Korrektur vorzunehmen. Soweit klar?“
„Was wären das für Änderungen?“
„Die Super Group verhindert, dass die Welt auseinanderbricht und beeinflusst zu diesem Zweck alle Prozesse, die das Gleichgewicht der Welt stören, auf die eine oder andere Weise.“
„Verstehe: eine Art Sicherheitsventil.“
„Sowas in der Art, aber nicht ganz dasselbe. Lassen Sie uns noch einmal von vorne anfangen: Jede KI der untersten Ebene ist mit zwei anderen verbunden und bildet mit ihnen eine Kernzelle. Jede Kernzelle ist mit der zentralen Dreiergruppe des Kernclusters verbunden. Jeder Cluster ist mit drei benachbarten Clustern verbunden und gleichzeitig auch mit einer Gruppe von speziellen Zellen, die einen Sektor kontrollieren. Und diese wiederum sind mit den KI-Dreiergruppen in der koordinierenden Gruppe verbunden. Wir nennen das „vernetzte Wabenstruktur“. Es ist eine Art Netzwerk, das die Standardprozesse der Zweiten Welt
steuert. Die Super Group hat eine andere Struktur: Statt aus Dreiergruppen besteht sie aus einzelnen KIs der letzten Generation, die alle unmittelbar mit allen anderen KIs der Super Group verknüpft sind. Die Super Group selbst ist nicht Teil des Steuerungsnetzwerks, kann aber alle seine Prozesse überwachen, wobei sie sie nicht beeinflusst. Sie mischt sich überhaupt nicht in sie ein. Wenn eine KI-Dreiergruppe der untersten Ebene den Befehl gegeben hat, dass genau dieses Blatt vom Baum fallen soll, kann die Super Group nichts dagegen tun. Genauso wenig kann sie veranlassen, dass ein neues Blatt wächst. Sie ist wie ein Autofahrer, der zwar am Steuer sitzt, aber von den Steinchen unter den Rädern oder den Fliegen auf dem Kühlergrill keinerlei Notiz nimmt. Er hat keine Kontrolle über Kleinigkeiten, die während der Fahrt passieren. Die Super Group greift auf andere Weise in die Spielwelt ein: Sie kontrolliert die Reservekapazitäten und wählt eigenständig den Zeitpunkt ihrer Aktivierung. Wissen Sie, wie sich die Projekte unserer Vorgänger veränderten?“
„Ich verstehe eigentlich kaum, wovon Sie gerade reden.“
„Davon, dass ein Spielprojekt, das sich überhaupt nicht verändert, zum Stillstand verurteilt ist – und dazu, ganz schnell unbeliebt zu werden. Menschen langweilen sich schnell, sie spielen zum Spaß. Spaß und Langeweile sind unvereinbar, und Langweile entsteht, wenn alles immer gleich bleibt. Deswegen müssen wir Änderungen vornehmen. Früher geschah das manuell, durch Updates und Patches. Es war üblich, im Voraus über Updates zu informieren. Dann gab es einen Hype auf verschiedenen Ebenen, die Spieler warteten sehnsüchtig darauf, diskutierten und spekulierten, was die Updates bringen würden. Kurz: Es brodelte in unzähligen Ressourcen und brachte mehr neue Spieler als die beste Direktwerbung. In der Zweiten Welt
gibt es nichts Vergleichbares. Kein Mitarbeiter kann im Code herumpfuschen. Die Spielwelt ist das Ergebnis des Zusammenspiels von vorprogrammierten Optionen mit dem Verhalten von Spielern und Nicht-Spieler-Charakteren – NPCs. Jeder NPC und jeder Spieler verändert sie durch seine Aktionen, wenn auch in ganz geringem Maße. Trotzdem gibt es immer wieder umfassende Veränderungen, die selbst für uns nicht prognostizierbar sind – und das genau macht das Spiel noch interessanter. Menschen sind verrückt nach Neuheiten und Neuigkeiten, und praktisch jeder liebt Überraschungen. Alles ist genau wie im realen Leben: Wir können das Wetter wie die Börsennotierungen nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorhersagen, aber Hurrikans und Krisen halten sich nicht an Zeitpläne.“
„Wenn Ihre Vorgänger über diese Neuerungen – oder ‚Updates‘ wie Sie es nennen – nicht vorab informiert hätten, wären sie doch genauso überraschend gekommen.“
„Soll das ein Witz sein? In unserer heutigen Zeit, wo Dutzende,
nein, Hunderte von Mitarbeitern in die Entwicklung kleinster Verbesserungen eingeweiht sind? Glauben Sie etwa, dass kein einziger davon sich mal bei einem Freund oder einer Freundin verplappert oder der Versuchung erliegt, irgendwo im Netz mit seinem Wissen herumzuprahlen? Solche Informationslecks sind unvermeidlich.“
„Das stimmt wohl. Das hatte ich nicht bedacht.“
„Aber bei unserem Projekt werden alle Aktualisierungen, gleich welcher Art, von der Super Group vorgenommen. Sie entwickelt sie anhand von Vorlagen und Musterszenarien, erstellt Backups, extrahiert die an die konkrete Situation angepassten Vorlagen aus den operativen Archiven und führt sie in die Spielwelt ein. Danach – wenn auch nicht sofort nach der Einführung – hat das Netzwerk die Kontrolle darüber. Manchmal kommt es zu einem Chaos der Ereignisse, einer Art temporärem Konflikt zwischen dem Netzwerk und der Super Group. Und bis zu dem Moment, in dem das Netzwerk die Kontrolle übernimmt, haben wir schon eine gewisse Zahl neuer, unvorhersagbarer Ereignisse oder zumindest das Risiko, dass solche auftreten. Schließlich ist die Super Group auch für die Entwicklung oder Implementierung von Innovationen zuständig, und in dieser Hinsicht ist auch alles unvorhersehbar, denn wir wissen ja nicht, was sie aus den Backup-Vorlagen machen wird, die bei der Erstellung der Spielwelt angelegt wurden. Bei uns haben sich auf jeden Fall die Bezeichnungen ‚Aura‘ für das Netzwerk und ‚Mr. Tamtam‘ für die Super Group eingebürgert. – Natürlich ist das die inoffizielle Terminologie.“
„Das konnte selbst ich mir denken, Danke.“
„Jede Abweichung von den standardmäßigen Datenaustauschmustern im Basis-Netzwerk bezeichnen wir als ‚Störung der Aura‘. Wenn die Anzahl der Abweichungen eine kritische Marke überschreitet, erhält Mr. Tamtam die Erlaubnis einzugreifen und kann neue Elemente in das Spiel einbringen. Das System der Welt wird ihm keine Steine in den Weg legen.“
„Und Sie können ihn auch nicht daran hindern, solche Innovationen einzuführen?“
„Selbstverständlich nicht.“
„Ich kenne mich mit Computertechnologien nicht sonderlich gut aus und bin, ehrlich gesagt, weit davon entfernt, alles zu verstehen.“
Lebovich stellte lautstark sein Glas auf den Tisch und sagte spöttisch:
„Gray ist nur nicht besonders gut im Erklären. Er macht viele Worte, aber es kommt wenig dabei heraus. – Die Macht über die Spielwelt teilen sich zwei Akteure, wenn Sie so wollen: die Aura und Mr. Tamtam. Erstere wird nicht sonderlich respektiert und hat daher keinen coolen Namen bekommen. Sie ist sowas wie eine einzelne Sechs gegen vier Asse. Nehmen wir zum Beispiel eine Zelle der untersten Ebene: Sie besteht aus einem Trio einfacher KIs, wie sie beim Militär Panzer und Panzerfahrzeuge steuern. Bei uns überwacht sie die Ordnung in ihrem Gebiet. Ist ein Baum im Wald umgestürzt, ist das nicht mehr rückgängig zu machen, denn dieses Trio hat ihm den Befehl zum Umfallen gegeben, und er wurde ausgeführt. Selbst wenn Terroristen ein Rechenzentrum in die Luft jagen würden, würde der Baum liegen bleiben, weil eine KI mehr oder weniger
irrelevant ist. Die beiden anderen befinden sich in gesonderten Rechenzentren. Man müsste schon alle drei gleichzeitig zerstören, und zwar spätestens eine oder zwei Sekunden nach dem Fall des Baums, bevor die Daten an das zentrale Trio und weiter eskaliert werden. Fällt ein Baum um, verändert sich die Stabilität der Welt. Und auch wenn es ein geringfügiges Ereignis ist, bringt es die Aura in Aufruhr: Informationen rasen von Cluster zu Cluster, die Weltdaten werden quasi neu aufgezeichnet und ergeben eine neue Welt, in der der Baum nicht mehr steht, sondern auf dem Boden liegt. Absolut alle Änderungen, selbst die allerkleinsten, verfolgt Mr. Tamtam ständig. Er ist eine widersprüchliche Persönlichkeit. Wissen Sie wieso? – Es gibt gewisse Abstufungen der Intensität von Aurastörungen. Ist die Intensität gering, schläft Mr. Tamtam. Bei mittlerer Intensität öffnet er die Augen, gähnt erst einmal genüsslich und beäugt das Geschehen argwöhnisch. Sobald die Intensität der Veränderungen das durchschnittliche Maß übersteigt, tritt eines von drei möglichen Szenarien ein: Unser Mr. Tamtam beschließt entweder, sich in nichts einzumischen, oder er entscheidet sich für Szenario zwei: Die Störungen der Aura werden abgefedert oder sogar verstärkt, sodass sie schließlich ein normaler Teil der Welt werden. Er kann aber auch Szenario drei wählen, und das bedeutet: Er wird Maßnahmen ergreifen, um die Störungen zu neutralisieren. In den beiden letzten Fällen mischt er sich in die Funktion des Netzwerks ein, aber das betrifft dann nicht irgendwelche Kleinigkeiten wie umgestürzte Bäume, sondern alles, was mit der globalen Störung zu tun hat.“
„Ich kann Ihnen ein gutes Beispiel geben“, mischte Gray sich ein. „In den Bergen gibt es aus natürlicher Ursache einen Erdrutsch. Ganz unvorhersehbar, kein geplantes Spielereignis. Die Entwickler haben diese Wahrscheinlichkeit einfach nicht berücksichtigt.
Nehmen wir an, ein See wurde angelegt, aber es wurde nicht für einen angemessenen Ablauf des Wassers gesorgt und die Stärke des natürlichen Damms wurde falsch berechnet. Die Welt ist komplex, und es ist nie möglich, alles vorauszusehen. Eine Stein- oder Schlammlawine geht also ab und droht, ein paar Städte und ein Dutzend Dörfer mit sich zu reißen. Die Super Group kann das zulassen und daraufhin eine Regel einführen, nach der solche Erdrutsche ab sofort regelmäßig passieren. Dadurch wird diese Region der Spielwelt für wirtschaftliche Tätigkeiten jeder Art ungeeignet. Mit der Zeit werden Schlammlawinen nichts Ungewöhnliches mehr sein. Ihre Steuerung übernimmt nun das Basisnetzwerk, was bedeutet, sie sind ein Standardbestandteil der Welt geworden. Im zweiten Szenario stoppt die Super Group die Schlammlawine auf halbem Wege. Zum Beispiel öffnet sich plötzlich eine Kluft, der ganze Dreck rauscht restlos rein und verschwindet unter der Erde, ohne dass er Zeit hatte, etwas zu zerstören. Will sagen: Niemand kann die Entscheidungen der Super Group kontrollieren. So funktioniert die Spielmechanik. Wenn die Aura gestört wird, reagiert mit Mr. Tamtam. Und der kann auf jede erdenkliche Art reagieren. Ihnen ist ja bekannt, wozu wir die Provinz Rallia nutzen, in der dieser Spieler aufgetaucht ist, nicht? – Jede Intervention der Super Group kann uns die Suppe versalzen, und wir können rein gar nichts
dagegen tun. Wir können nicht wissen, was sie unternimmt. Wir selbst sind schon eine Störung, und dann kommt da noch so ein Typ daher...“
„Kann denn ein einziger Spieler tatsächlich so viel bewirken?“, fragte Coleman überrascht.
Die Antwort kam dieses Mal von Lebovich:
„Jede neue Heldentat erzeugt ein Echo in der ganzen Aura. Die
KIs nehmen den Spieler bereitwillig in ihre persönlichen Datenbanken auf, berechnen die Belohnungen für die Wiederholung der Heldentat, reservieren Clan-Boni für das Achievement und führen andere, noch nicht aktivierte Achievements ein. So geben sie auch anderen Spielern die Möglichkeit, zum ersten Mal in der Geschichte des Projekts eine Heldentat zu vollbringen, ganz im Sinne der Regel, dass jede und jeder eine Chance haben soll. Das gesamte Netzwerk ist in diesen Prozess involviert. Es geht ja, um bei dem Bild von vorhin zu bleiben, schon nicht mehr um einen umgestürzten Baum, sondern um ein globales Ereignis mit Auswirkungen auf etliche Mechanismen der Welt. Unser mysteriöser Noob ist quasi über Nacht zum Helden und
zur Legende geworden – und das gleich mehrfach. Und dass auf einmal von Göttern die Rede war, ist etwas Neues, noch nie Dagewesenes. Es sieht sehr danach aus, dass Tamtam sich eingemischt hat. Er ist der Einzige, der wesentliche Innovationen in die Welt einbringen kann. Warum sollte er sich also nicht die Götter ausgedacht haben? Er hat zwar dadurch die ganze Weltgeschichte mit Füßen getreten und die Welt grundlegend auf den Kopf gestellt – aber hat sie auch wieder neu strukturiert. Und die Wahrscheinlichkeit, das Geschlecht zu wechseln, ist eine ebenso umwälzende Neuerung. – Das galt als unmöglich, aber da der problematische Spieler diese Regel geändert hat, konnte das Basisnetzwerk gar nicht anders, als darauf zu reagieren.“
„Sie meinen, dass es eine Tarnung war, kommt nicht in Frage?“
„Cody hat mich überzeugt. Es war wirklich ein Mädchen. Es gibt allerdings noch eine Möglichkeit. – Was wissen wir überhaupt über diesen Rostovzev? Dass er ein Stück nutzloses Fleisch ist, eingeschlossen in einer Reanimationskammer in einer Klinik. Was, wenn er gar nicht derjenige ist, der den Account kontrolliert?“
„Aber das ist doch unmöglich...“
„Vor Rostovzev galt vieles als unmöglich, und jetzt brodelt es in der Aura wie in einem überhitzten Dampfkessel. Sagen wir‘s so: Unsere Aktivitäten in Rallia betrachtet die Super Group... missbilligend. Schließlich ist es ein Prozess, der in keinem Standardszenario der Welt vorgesehen ist. Er ruft auch Störungen hervor. Und Mr. Tamtam kann jederzeit Maßnahmen gegen uns ergreifen, wobei er ausschließlich auf unser Handeln reagiert. Rostovzev hat einen Stein ins Wasser geworfen, aber auch wir verursachen bereits konzentrische Wellen. Und je mehr Störungen in der Aura, desto wahrscheinlicher wird es, dass Mr. Tamtam eingreift, und desto massiver wird seine Einmischung wahrscheinlich sein. Es würde mich nicht wundern, wenn er gerade jetzt eine Aktualisierung ausbrütet, nach der in Rallia nichts Lebendiges übrigbleiben wird. – Und dann könnten wir alle weiteren Aktivitäten dort vergessen. Das würde für uns heißen: Vertane Mühen und verlorenes Geld – ganz zu schweigen von der Zeit.“
„Tja, allmählich wird mir die Problematik klar... Mr. Tamtam... Haha, großartige Idee! Ich gehe also richtig in der Annahme, dass er gerade irgendetwas implementiert, was die Lage verschlimmert? Dass er entschieden hat, den Druck im Kessel weiter zu erhöhen?“
„So sieht es aus. Gut möglich, dass er eine Wiederholung der Aktionen provoziert hat, mit denen das Ganze angefangen hat. Oder dass jemand ihn mit Mitteln, die wir nicht kennen, dazu gebracht hat, sie zu provozieren. Wir verfolgen die Reaktionen der Super Group laufend, und alles hat sehr große Ähnlichkeit mit dem, was beim ersten Mal passiert ist.“
„Aber lassen sich die Aktionen der Super Group nicht wenigstens grob vorhersagen?“
„Leider nicht...“
„Wir müssen irgendwie zu einer Vereinbarung mit diesem Spieler gelangen. Am besten schon gestern. Wir haben zu viel in Rallia investiert, um irgendein Risiko einzugehen.“
„Wie bekommen wir Kontakt zu jemandem, der alles tut, um nicht gefunden zu werden?“
„Wir haben es nicht energisch genug versucht. Sogar diese Idioten von Jeepees haben mehr hingekriegt als wir.“
„Alles, was sie geschafft haben, war einen Blick auf ihn zu ergattern. Eine wahnsinnige Leistung ist das nicht gerade. Die KI, die Rostovzev registriert hat, ist nicht auffindbar. Noch dazu ist sie auf äußerst seltsame Art verschwunden: Ihre Zelle funktioniert nach wie vor normal mit völlig intakter dreigeteilter Kontrolle. Und das bedeutet, dass es nicht möglich ist, stattdessen ihre Backup-KI anzuschließen. Darüber hinaus wurden die Datenbanken mit barbarischen Methoden gelöscht, und niemand hat etwas gesehen. Unsere Experten raufen sich die Haare. Sie haben keine Erklärung. Rostovzevs Charakter erschien aus irgendeinem Grund ausgerechnet in Rallia, einer Provinz, an der wir
ein besonderes Interesse haben. Er markiert den Vollidioten und totalen Noob, um nur einen Monat später die Stabilität der Aura komplett aus den Angeln zu heben. Und kaum hat sie sich wieder einigermaßen gefangen, beginnt die Dynamik wieder anzusteigen. Ich glaube, er destabilisiert sie bewusst. Aber wir sollten uns nicht nur um Rostovzev Sorgen
machen. Er agiert eindeutig nicht allein. Jemand spielt im ganz großen Stil gegen uns.“
„Die Chinesen?“
„Was hätten die denn davon? – Für die ist doch Stabilität gerade das, was zählt. Wenn‘s nach denen ginge, gäbe es gar keine Aktualisierungen. Ihre Kommunisten träumen doch von nichts anderem, als Hunderte Millionen ihrer ungebildeten und ungelernten Bauern in die virtuelle Welt zu verfrachten, wo sie für das Land malochen und harte Dollars verdienen. Das Einzige, was sie daran hindert, ist der künstlich hochgeschraubte Preis unserer Accounts. – Speziell für solche wie die halten wir ihn künstlich hoch. – Wir könnten ihn nur senken, wenn wir mehr kapitalkräftige Nutzer hätten. Und die Mehrheit solcher Nutzer findet gerade die Unberechenbarkeit des Spiels gut, solange es nicht zu weit geht. Stabilität ist langweilig. Die Mehrheit will dramatische, spektakuläre Spielaction. Aber bitte nur – wie ich noch einmal betonen muss – in Maßen. Und wenn man die Super Group überdurchschnittlich viel ärgert, kennt sie auf einmal kein Maß mehr.“
„Warum hat sich dann überhaupt jemand diese Super Group und ihre Überraschungen ausgedacht? – Wäre die Sache mit menschlichen Mitarbeitern nicht einfacher geworden? Wenigstens für Aktualisierungen?“
„Wir haben doch schon über die Rolle des Überraschungselements gesprochen, und darüber, dass es wegfällt, wenn normale Entwickler involviert sind. Darüber hinaus ist die Komplexität der Welt, die wir geschaffen haben, so groß, dass wir eine Million Genies bräuchten, um ihre Prozesse zumindest teilweise
zu kontrollieren. Wir sollen uns für Stabilität entscheiden? – Aber eine völlig stabile Welt ist uninteressant und angreifbar. Nehmen wir an, die Chinesen beschließen, ihre Spieler in den Krieg mit uns zu schicken. In Anbetracht ihrer schieren Anzahl bin ich nicht sicher, dass wir die Invasion abwehren könnten. Aber die Super Group lässt nicht zu, dass so etwas passiert. Sie reagiert so, dass den Chinesen die Lust am Krieg spielen vergeht. Und überhaupt könnte es erst gar nicht zu einer massenhaften Auseinandersetzung kommen, wenn sie beim ersten Anzeichen eines Massenaufruhrs präventive Maßnahmen ergreifen würde.“
„Und wie hält sie so eine Invasion auf?“
„Keine Ahnung. Das weiß keiner. Die Super Group wählt ihre Mittel selbst. Aber würden wir die Invasion manuell stoppen, würde das unglaubliche Wellen schlagen. Das gäbe Stress mit den Computern, und Stress mit den Computern will niemand. Aber das ist eigentlich alles nur Theorie: So wie sie ist, ist die Welt ganzheitlich. Wir haben keinen Platz in ihrer Struktur. Wir können innerhalb der Gesetze der Welt spielen, aber nicht gegen sie verstoßen. Natürlich war man versucht, sich ein paar Schlupflöcher für wirklich gravierende Fälle offen zu lassen, aber geklappt hat das nur bei ein paar lächerlichen Kleinigkeiten. – Anders würde das Ganze nicht funktionieren. Wir brauchten schließlich nicht einfach ein Spielzeug. Wir brauchten etwas mehr als substanzlose Unterhaltung.“
„Und wenn wir Rostovzev vom Spiel trennen? Ist dann der Spuk vorbei?“
„Das wäre sinnlos. Es wurde schon versucht: Das Erste, was sie
gemacht haben, war, seine Connection zu unterbrechen. Sie dachten sogar kurzzeitig, es hätte geholfen – weil er ja plötzlich verschwand – aber Cody hat das Gegenteil bewiesen. Entweder ist Rostovzev für immer im Spiel hängengeblieben oder es stimmt etwas nicht mit ihm...“
„Das heißt, wir verstehen nicht, wer unser Gegenspieler ist und wie das alles enden kann?“
„Ganz recht. Wir sind einfach aufgeschmissen. Vielleicht finden Sie mehr heraus, denn Sie verstehen sich ja auf solche Dinge.“
„Glauben Sie, es wird auf Regierungsebene gegen uns agiert?“
„Die Russen, die Chinesen, die Europäer... Es ist auf jeden Fall jemand, der sehr ernst zu nehmen ist. Eine Organisation, nicht eine Einzelperson. Wir müssen herausfinden, wer es ist. Mobilisieren Sie alle Ihre Möglichkeiten, die Zeit arbeitet gegen uns. Der Alte Mann hat nicht mehr viel davon. Und er ist sehr ungehalten über die Verzögerungen.“