Kapitel 7
Auf der Straße lag ein schmuddeliger Haufen verkohlter Trümmer, von dem noch immer Rauch aufstieg. Das war alles, was von dem Käfigwagen, Ross‘ Gefangenentransporter, übrig war. Ross traute der trügerischen Stille nicht und kletterte wie zuvor auf einen Baum. Er machte es sich in einer dichten Krone bequem und begann vorsichtig, sich ein Bild der Lage zu machen. In der Umgebung regte sich nichts. Die Nacht war dunkel und erfüllt von harmlosem Grillenzirpen. Von Spielerleichen war keine Spur. Offenbar waren alle zum Respawn-Punkt geflogen oder vielleicht hatten es manche trotz aller Widerstände irgendwie geschafft zu entkommen. Es war unwahrscheinlich, dass der Kampf mit einem Sieg der Menschen geendet hatte. Mobleichen lagen nur vereinzelt herum, weniger als fünfzig, alles in allem.
Ross ließ sich Zeit. Er wartete mindestens eine halbe Stunde auf dem Baum, bevor er sich zum Schlachtfeld aufmachte. Allerdings stellte sich heraus, dass er nicht der Einzige war, den die frischen Leichen anlockten. Gerade hatte sich Ross über den ersten Kadaver gebeugt, um ihn zu durchsuchen, als er aus dem Augenwinkel eine verdächtige Bewegung wahrnahm.
Der Mob sah, gelinde gesagt, unangenehm aus: Er glich einer
haarsträubenden Kreuzung aus einer Kröte und einer Eidechse mit einem wahren Schlund anstatt einem Maul und krankhaft hervorquellenden Augen. Obwohl er die Größe eines fetten Kalbes hatte, waren seine Bewegungen sehr behände. Er war schwer zu entdecken gewesen, weil er sich wie eine Flunder an den Boden presste. Im hohen Gras hätte er sich leicht verstecken können – doch das hatten die Kämpfer komplett niedergetrampelt.
„Unbekannte Kreatur. Aggressivität: unbekannt. Sozialität: unbekannt. Stufe: unbekannt. Fähigkeiten: unbekannt. Attribute: unbekannt.“
Ross hatte keine Zweifel daran, dass er selbst auch entdeckt worden war. Die Frage war nur, wie sich der Mob nun verhalten würde. Würde er ihn angreifen oder ignorieren? Ross hatte nicht vor zu warten, bis er es herausfand.
Er zog einen Seelenkristall hervor, gab der darin gefangene Kreatur den Befehl, sich „zu erheben“, und vor Ross erschien in züngelnden Flammen und Staubwirbel ein Feuersalamander, einer von der Sorte, die seine angeheuerten NPCs auf ihrem gemeinsamen Raid getötet hatten.
Der unbekannte Mob betrachtete die plötzlich aufgetauchte Verstärkung offenbar als Provokation. Vielleicht hatte er auch einfach für Salamander nichts übrig. Jedenfalls griff er den Schwanzlurch an, ohne Ross zu beachten. Dieser bewarf das Monster mit seiner Aura des Chaos und begann, sein Pet zu heilen, das trotz seiner 172. Stufe rapide an Gesundheit verlor.
Welche Stufe musste dieses Scheusal haben?!
Zusätzlich zu seinen Heals schickte Ross dem Salamander nun alle Buffs, die er beherrschte, woraufhin der etwas langsamer dahinsiechte. Ross warf auch eifrig die Seelenfalle für den neuen Mob aus, worüber der sich aus irgendeinem Grund ziemlich aufregte. – Augenblicklich ließ er den Salamander in Ruhe und stürzte sich auf Ross.
„Die unbekannte Kreatur hat dir 620 Einheiten Schaden zugefügt.“
Ross nahm die Beine in die Hand und leerte unterwegs ein Fläschchen mit Gesundheitselixier. In seiner Bredouille war an Heilzauber nicht mehr zu denken. Er war gerade noch in der Verfassung, den Erdwurzel
-Zauber zu werfen. Der Mob schien sich zu verheddern und zappelte einige Sekunden lang wie wildgeworden auf der Stelle. Der Salamander kaute derweil an seinen Beinen. Infolgedessen änderte sich der Fokus der Aufmerksamkeit des Monsters schnell wieder: Es versuchte, bei dem Pet irgendeine unbekannte Fähigkeit anzuwenden, aber der Dauerbeschuss des Riesenlurchs verhinderte, dass der Zauber durchdrang.
Zweimal noch attackierte der Mob Ross, doch der war nun schlauer und hielt ausreichend Abstand, sodass er Zeit für Gegenmaßnahmen hatte. Der Kampf dauerte sieben bis acht Minuten: Der Stufenunterschied war einfach zu groß. Am Ende fiel das Scheusal aber doch.
„Du hast das Aasfresserreptil getötet. Verdiente Erfahrungspunkte: 14992. Zum Erreichen der nächsten Stufe fehlen dir: 3015. Achtung! Du hast eine Kreatur entdeckt, die im Bestiarium der Welt nicht vorkommt! Du hast dir eine Anerkennung verdient:
+1 Geheimes Wissen. Um eine Auszeichnung für die Entdeckung der neuen Kreatur zu erhalten, wende dich an die Magische Akademie. Dein Ausdauerlevel hat sich um eine Einheit erhöht. Glückwunsch! Du hast allein ein Monster besiegt, dessen Stufe mehr als zweihundert Einheiten höher ist als deine eigene! Achievement vollendet: Verrückter Einzelgänger – Teil XVII
. Achievement-Bonus: +2 auf alle primären Hauptattribute, +4 auf sekundäre Hauptattribute deiner Wahl, +1 auf ein Zusatzattribut deiner Wahl, +150 Einheiten Lebensenergie, +4% Widerstand gegen die Magie des Wassers. Wirkung des Bonus: dauerhaft. Achievement aktiviert: Riesentöter - Teil XVII
. Töte eigenständig fünfzig Monster, deren Stufe mindestens zweihundert Einheiten höher ist als deine eigene, um das Achievement zu vollenden. Achievement-Bonus: zufällig.“
Das überraschte Ross nun endgültig. Wie sollte man das bitte schön verstehen? Nicht nur, dass es eigentlich in dieser Gegend gar keine Mobs dieser Stufe geben durfte (noch dazu in solch unvorstellbaren Mengen), noch dazu war ihre Art vollkommen unbekannt!
Was zum Teufel ging hier vor sich?!
Ross konnte nicht einmal Ziffer fragen, denn der war zu dieser Zeit nicht online. Obwohl, probieren konnte er es zumindest…
Der Chat öffnete sich nicht. Ross kam es so vor, als sei er aus diesem interessanten Käfig niemals herausgekommen. Er entschied sich, nicht ins Forum zu schauen. Es wäre töricht, das in einem Gebiet zu tun, in dem aggressive Top-Level-Mobs herumstreunten.
Die Durchsuchung des Monsterkadavers brachte keinen
reichen Loot. Alles, was Ross bekam, war ein gehobener Knüppel aus Kristallit, der für sich genommen völlig nutzlos war, doch immerhin kostete das Material, aus dem er bestand, ziemlich viel. Außerdem konnte es ihm bei der Schmuckherstellung von Nutzen sein: Im freien Verkauf gab es Kristallit nur selten, weshalb es zu gottlosen Preisen über den Ladentisch ging.
Die Seelenkristalle erfreuten ihn dagegen sehr. Es hatte sich gelohnt, die „Falle auszuwerfen“. Wenn diese Mobs so gefährlich waren wie der, gegen den er gekämpft hatte, dann mussten ihre Trophäen zu den wertvollsten gehören. Ross hatte so etwas noch nie zuvor gesehen – mit Ausnahme des Bosses Trathkazir und natürlich seines „Freundes“ Bug. Letzterer war ohnehin ein Thema für sich – so etwas wie die Krone der Abstrusität dieser Welt.
Und die Boni für den Mob waren auch nicht übel. Es war wohl keine schlechte Idee, mehr von ihnen zu jagen. Mit den neuen Pets wäre er im Kampf allen möglichen Gegnern überlegen. Nur müsste er sich vor der Jagd auf diese Mobs entsprechend „einkleiden“...
„Oh Mann, du bescheuerter Noob!“ Ross schlug sich an die Stirn.
Wirklich: Einen größeren Noob als ihn konnte es nicht geben! Seine Erscheinung hatte er geändert, aber seine alte Ausrüstung anbehalten! Da konnte er sich auch gleich seinen alten Nick auf die Stirn schreiben.
Dabei lag für exakt diesen Anlass schon längst eine komplette Garnitur bereit. Verborgen in einem Slot seines legendären Gürtels hatte sie auf ihre Stunde gewartet: eine Trophäe, die er beim ersten
Raid in Trathkazirs Bau erbeutet hatte. Er hatte sich mit mittelmäßigen, meist ziemlich abgetragenen Sachen begnügt, anstatt sein ganzes Geld in exklusive Ausrüstung zu stecken. Ohnehin hatte er nicht vor, sie lang zu tragen.
Nichtsdestotrotz war er an die Zusammenstellung seines Equipments kreativ herangegangen, hatte nicht einfach allen möglichen Kram gekauft, der ihm untergekommen war, sondern versucht, zueinander passende Sachen für ein relativ stilvolles Outfit zu finden. Bisher hatte er mit seiner Kleidung nie einen „erlesenen Geschmack“ demonstriert. Und er hoffte nun, dass das neue schicke Outfit ein Pluspunkt für seine ganze Tarnung sein würde –wenn seine Verfolger nämlich auch jetzt nach einem schmuddeligen Schlunz Ausschau halten würden.
Und ohnehin, welcher Low-Level-Spieler verschwendete auch nur einen Gedanken an seinen ‚Stlye‘?
Fünf Minuten später stand ein Nekromant der finstersten Sorte auf der Landstraße. Er schien direkt den Abgründen der Apokalypse entstiegen zu sein: von Kopf bis Fuß in schwarze Gewänder gehüllt, mit einem blutrot glänzenden Amulett auf der Brust und einem mit Silberfäden gestickten Totenkopf auf dem Umhang. In seiner Hand hielt er einen Stab, aus dessen Enden Klingen hervorschnellten wie bei einem Springmesser, mit dem Ross seine Gegner nicht seine Magie, sondern auch kalten Stahl spüren lassen konnte.
Wäre irgendjemand einer Gestalt wie ihm nachts in der Nähe einer Begräbnisstätte begegnet, wäre derjenige sehr wahrscheinlich bis an sein Lebensende das Stottern nicht mehr losgeworden.
Nun in neuem Look machte Ross sich auf den Weg, tiefer in den Wald hinein, wo er noch einmal auf einen hohen Baum kletterte. Erst als er knapp unterhalb der Baumkrone war, wagte er wieder einen Blick ins Forum.
Er war nicht überrascht, eine Unmenge an Threads mit sensationellen Titeln zu finden, die sich beinahe wortwörtlich wiederholten. Das leidgeprüfte Rallia stand wieder einmal im Zentrum völlig unerwarteter Ereignisse, doch dieses Mal war es keineswegs Ross‘ Schuld. Während er sich im Charakter-Editor versteckt und anderen Dingen gewidmet hatte, hatte die Spieler-Community nicht tatenlos herumgesessen, sondern eifrig Neuigkeiten ausgetauscht, die zusammengenommen zumindest eine grobe Vorstellung davon vermittelten, was eigentlich los war.
Es war kein Geheimnis, dass Rallia eine Grenzprovinz war. Folglich hatte es eine Grenze. Und Grenzen gehörten für gewöhnlich nicht zu den unkomplizierten Orten der Zweiten Welt
. Es gab Grenzpatrouillen aus NPC-Einheiten, die das bewohnte Gebiet vor den Lebewesen jenseits der Grenze schützten, und das waren in den meisten Fällen keine angenehmen Zeitgenossen, sondern angriffslustige und vor allem zahlreiche. Top-Level-Spieler gingen an solche Orte, um ihre Charakterentwicklung voranzutreiben oder getötet zu werden. Vereinzelt sah man auch neugierige Individualisten und durchgeknallte Kartographen. Aus solchen Regionen kamen Angriffe der verschiedenartigsten Scheusale auf menschliche Siedlungen. Kurz gesagt, an Grenzen ging ordentlich die Post ab.
Nicht so im Falle von Rallia. Seine Grenze war der denkbar langweiligste Ort der Welt. Und als Grenze konnte man sie nur
deshalb bezeichnen, weil es unmöglich war, sie zu passieren, so sehr man es auch wollte. Hier erhob sich nämlich eine kilometerhohe Felswand senkrecht in den Himmel. Der Legende nach lag hinter ihr das „Verschlossene Land“. Verschlossen war diese Region nicht nur so zum Spaß, sondern deshalb, weil die Magier der Vorzeit – die wegen all dem Blödsinn, den sie gemacht hatten, in der Regel als Sündenböcke für solche Fälle herhielten – dort einst widernatürliche Experimente betrieben haben sollten. Sie hatten nämlich Kreaturen des Chaos mit generischen Bewohnern der Zweiten Welt
gekreuzt und auch, wie man sich erzählte, nicht wenig eigenes genetisches Material zu ihren Züchtungen beigesteuert. In diesen Perversionen hatte sie lange genug geschwelgt, um eine vielköpfige Nachkommenschaft ihrer „Versuchskaninchen“ zu hinterlassen – welche sie am Ende selbst auffraß. Im Anschluss veranstaltete die Nachkommenschaft ein höllisches Tamtam, das andere Magier – die ihre dunklen Triebe besser im Griff hatten – dazu veranlasste, eine unüberwindliche Mauer um diesen „paradiesischen Winkel“ zu errichten.
In der vorigen Nacht war ein Teil dieser Mauer eingestürzt. Als Übertäter hatte man bereits irgendeinen Noob-Clan ausgemacht, der auf die Idee gekommen war, an diesem Ort eine Granitmine zu bauen. Alle waren sich darüber einig, dass das eine ausgesprochen schlechte Idee gewesen war. Das billige Gestein war nicht so selten, dass es das Risiko rechtfertigte.
Aber das konnte man solchen Noobs natürlich nicht beibringen.
Jedenfalls stürzte die Mauer ein, und der überwältigende Krach ließ noch in Dutzenden Kilometern Entfernung Scheiben
zerspringen und Geschirr aus den Regalen fallen. Durch die entstandene Lücke strömten die späten Nachkommen der Opfer der zoophilen Züchter in einer vieltausendköpfigen Schar heraus. Als Allererstes übten sie brutale Rache für die Erniedrigung, die ihre Vorfahren erlitten hatten, und massakrierten alle Bewohner der unheilbringenden Mine. Und genau das hätten sie auch weiterhin getan, denn der Anbindungspunkt der Arbeiter lag traditionsgemäß auf dem Gebiet der Mine. Zuerst hatten die Wachen und Arbeiter sich sehr aufgeregt und in mehreren Threads ausgiebig ausgeheult, wobei sie die Schuld am Einsturz der Barriere mit lahmen, wenig überzeugenden Argumenten von sich wiesen:
„Hä? Wovon redet ihr? Das waren doch nicht wir! Keine Ahnung, wer das angerichtet hat. Wir wissen von nichts.“
Magier, die in der Lage gewesen wären, die Barriere wieder zu reparieren, gab es in der Welt schon längst nicht mehr, und die Scheusale fanden die eine Mine offenbar schon bald langweilig. Ihre Vorhut näherte sich bereits Arbenna und hatte kein einziges Dorf auf ihrem Weg intakt zurückgelassen. Ein paar Gruppen hochrangiger Spieler hatten nur zum Spaß versucht, sich ihnen entgegenzustellen, was ein sehr übles Ende genommen hatte.
Für sie natürlich.
Nach ihrem Respawn waren die tollkühnen Krieger sofort ins Forum gegangen, um ihre Eindrücke mit der Community zu teilen. Ihren Worten nach hatten sich an der Invasion mehrere Dutzend verschiedener Mobarten beteiligt, die niemand zuvor je gesehen hatte. Die wenigen Glückspilze, denen es gelungen war, wenigstens einen zu töten, erhielten ein Achievement für die Entdeckung einer Kreatur, die im Bestiarium noch nicht geführt wurde. Das waren aber
auch schon alle positiven Ergebnisse: Der Loot war dürftig und außerdem während der Schlacht schwierig zu sammeln, die Scheusale hatten viele HP und teilen rabiaten Schaden aus. Ihre Stufen lagen zwischen 200 und 300, manchmal anscheinend sogar noch höher, denn nicht einmal Charaktere auf höchsten Leveln konnten sie bestimmen. Die Ungeheuer bewegten sich in einer geschlossenen Welle vorwärts, die stärksten Monster waren dort allerdings nicht zu finden. Erst wenn man eine Schneise durch ihre Reihen schlug, stand man neuen, wesentlich gefährlicheren Einheiten gegenüber.
Es war eine dieser Einheiten gewesen, die den Draufgängern schließlich den Garaus gemacht hatte.
Was die Wiedergeburt betraf, so gab es auch eine Besonderheit: Spieler respawnten nur solange an ihrem heimischen Anbindungspunkt, wie die Welle der Aggressoren noch nicht bis dorthin vorgedrungen war. Hatten die Mobs ihn einmal unter ihrer Kontrolle, so wurde der Charakter in einem Tempel der Mächte des Lichts in der Hauptstadt des Westlichen Imperiums wiedergeboren.
Und es kam noch schöner: Die Teleporter in der Gegend funktionierten nicht mehr. Genauer gesagt, ein paar funktionierten noch, und zwar ausschließlich die stationären Teleporter in den Großstädten, und nur in eine Richtung: hinaus aus dem Invasionsgebiet. Wer sich die Mobs anschauen wollte, musste entweder zu Fuß gehen oder auf dem Rücken eines Pets reiten.
Teleport-Schriftrollen funktionierten überhaupt nicht – egal in welche Richtung.
Und auch die Chats streikten, selbst bei Spielern mit teuren Accounts und persönlichen Messengern.
Summa summarum: Was eigentlich vor sich ging, lag völlig im Dunkeln. Minen- und Sägewerksbesitzer wollten dringend wissen, wie lange der Spuk noch dauern würde, und wie er enden würde. Die einen glaubten, die Mobs würden so plötzlich wieder verschwinden, wie sie aufgetaucht waren, andere spekulierten, Rallia habe sich weiterentwickelt, aus einem öden Flecken auf der Landkarte zu einem riesigen „Trainingspark“ für hochrangige Charaktere. Mobs gäbe es schließlich in Hülle und Fülle, man brauche nicht nach ihnen zu suchen. Man müsse nur ein wenig Geduld haben, bis irgendeine Art von Stabilität eintreten würde.
Und bis dahin täte man gut daran, sich der Welle nicht in den Weg zu stellen, es sei denn man stand auf Nervenkitzel oder wollte einmal kostenlos in die Hauptstadt fliegen.
Wobei von ‚kostenlos‘ nur bedingt die Rede sein konnte: Man bezahlte mit verlorenen XP oder gar Ausrüstungsteilen, wenn man richtig Pech hatte.
Nachdem er aufgehört hatte, die chaotischen Posts und Diskussionen im Forum zu lesen, dachte Ross eine Weile nach. Es sah ganz danach aus, dass er dank seines schlauen Manövers, im Charakter-Editor unterzutauchen, der einzige war, der die Mobwelle lebend überstanden hatte. Jetzt waren keine Einheiten der Scheusale mehr zu sehen. Sie hatten diese Gegend offensichtlich schon hinter sich gelassen, und nur hier und da streunten noch vereinzelt welche umher, so wie das Monster, mit dem er gekämpft hatte.
Was sollte er jetzt tun? Sich selbst töten? Er wollte ja schon seit langem in die Hauptstadt. Außerdem war dort auch der imperiale Teleporter stationiert. Es war ein kostspieliger Dienst, aber mit seiner Hilfe könnte er mit einem Sprung in den Westeuropäischen Sektor gelangen und dann das tun, was er geplant hatte: den einmaligen Dungeon säubern.
Es war niemals Teil seines Plans gewesen, im Epizentrum einer Invasion zu enden. Aber nun war er hier, und nach allem, was geschehen war, herrschte in seinem Kopf gehörig Verwirrung. Doch aus irgendeinem Grund wollte er die Provinz nicht verlassen. Ross begann allmählich, sich daran zu gewöhnen, dass er sich in dieser Welt auf seine Vorahnungen verlassen konnte, besonders mit seinem aktivierten und gut entwickelten Seher
-Attribut. Laut Forum gab es nur sehr wenige Spieler in der Zweiten Welt
, die ihm in dieser Hinsicht glichen. Es hieß, sie konnten buchstäblich alles voraussehen und es zu ihrem eigenen Vorteil nutzen.
Dann war es wiederum seltsam, dass er weder die Entführung noch diese Ereignisse vorhergesehen hatte. Oder betraf seine Fähigkeit doch nur Dinge, die
ihm einen persönlichen Vorteil brachten?
Im Moment war in Ross der Wunsch sehr stark, das Verschlossene Land zu erkunden. Schließlich war noch niemand jemals dort gewesen. In der Zweiten Welt
gab es keinen Luftverkehr, und kein lebendes Wesen war fähig, eine mehrere Kilometer hohe Wand zu überwinden. Natürlich hatte es Versuche gegeben, aber selbst die Kühnsten hatten spätestens wegen des Sauerstoffmangels, der in großer Höhe herrschte, umkehren müssen. – Das Problem hatte sich als unlösbar erwiesen.
Die aus dem Durchbruch schwappende Monsterwelle hatte alle Bewohner von Minen, Holzfällereien und Dörfern fortgerissen. Die NPCs starben, ohne respawnen zu können, und die Spieler verschlug es in himmelweite Ferne, in die Hauptstadt des Reiches. In letzter Zeit war es in der Provinz ruhig gewesen und hatte keinerlei Einheiten hochrangiger Spieler gesehen – ausgenommen die eine, die auf Ross Jagd gemacht hatte. Es war unwahrscheinlich, dass viele überlebt hatten.
Vielleicht war er der einzige Spieler auf einem viele Quadratkilometer großen Territorium. Aber das konnte sich schon bald ändern. Hartgesottene Spieler würden sich zusammentun, um die Invasion aufzuhalten – um ihrer Entwicklung willen oder einfach für den „Kick“. Und wenn sie gesiegt hätten, würden sie in das verwüstete Land weiterziehen.
Doch Ross hatte einen Vorsprung. Und wo auch immer sie hinziehen würden, er würde vor ihnen dort sein.
* * *
„Er ist nicht in der Hauptstadt aufgetaucht, so wie alle unsere Leute. Alle dortigen Tempel stehen unter unserer Kontrolle, aber es gibt kein Anzeichen, dass er da ist.“
„Hat er vielleicht wieder sein Aussehen verändert?“
„Wir müssen jeden, der respawnt und aus Rallia kommt, überwachen.“
„Dazu fehlen uns die Leute.“
„Dann müssen wir eben zusehen, dass wir mit denen auskommen, die wir haben.“
„Wir brauchen ein Wunder.“
„Das könnte nicht schaden. Vielleicht verrät er sich ja irgendwie.“
„Was, wenn er nach wie vor in Rallia ist?“
„Aus irgendeinem Grund glaube ich genau das.“
„Ich auch.“
„Sollen wir einen Trupp hinschicken?“
„Aber vorsichtig. Nur einen kleinen.“
„Und wie stellst du dir das vor? Diese Mobs haben aus knapp hundert perfekt ausgestatteten Top-Spielern in circa fünf Minuten Hackfleisch gemacht. Die tummeln sich da zu Tausenden, und wo sie herkommen, sind offenbar noch viel mehr.“
„Wenn wir eine große Einheit aussenden, wird garantiert irgendwann irgendwo darüber geredet, und schon hängen uns die anderen Clans an den Fersen. Willst du das etwa?“
„Aber eine kleine Einheit zu schicken, ist sinnlos. Die Jungs würden nur XP und Items verlieren.“
„Was schlägst du vor?“
„Wir sollten abwarten. Wenn er in Rallia ist, kommt er an diesen Mobs nicht vorbei. Teleporter funktionieren dort auch nicht. Und sobald er ins Gras beißt, taucht er sofort in der Hauptstadt auf. Und da kontrollieren wir alles.“
„Ach, wie einfach das bei dir klingt! Sollen wir dann seinetwegen die Stadt im Sturm erobern, oder wie? Die Hauptstadt?“
„Das habe ich nicht gesagt. Alles, was wir tun müssen, ist, ihn lokalisieren. Dann sehen wir weiter. Einmal haben wir ihn schon zu fassen gekriegt.“
„Für ein paar Stunden.“
„Nächstes Mal haben wir mehr Glück.“
„Wir konnten nicht mal richtig mit ihm reden...“
Telefonat zwischen zwei Offizieren der J_P
Gilde.