Kapitel 8
B
ei ihrer Erschaffung wurde die
Zweite Welt
von den Entwicklern mit mehreren hundert Millionen NPCs besiedelt, die wie gewöhnliche Spieler aussahen. Noch dazu waren ihre Kontroll-KIs so perfekt, dass es sehr schwer war, sie beispielsweise von einem eingefleischten Rollenspieler
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zu unterscheiden, selbst nach einer längeren Unterhaltung. Nicht umsonst prangten bei den von Programmen gesteuerten Charakteren spezielle Icons neben den Nicks. – Damit es nicht zu Verwechslungen kommen konnte.
NPCs zogen nie in unorganisierten Horden umher. Die Entwickler schufen zunächst mehrere Reiche, große und kleine Länder und kleinere Regionen mit anarchischen oder nahezu anarchischen Herrschaftsformen. All diese territorialen Einheiten interagierten aktiv miteinander: Sie betrieben Handel, schlossen Allianzen, schmiedeten Intrigen und bekämpften sich. Spieler konnten bei diesen vielschichtigen Beziehungen mitmischen, indem sie Quests erfüllten, in den Militär- oder öffentlichen Dienst gingen oder irgendwie ihren Anteil zur Wirtschaft eines Landes beitrugen.
Bei der Erstellung von Charakteren galt die unumstößliche Regel: Spieler mussten eine der vielen Tausend verschiedener Startstädte als Geburtsort wählen. In der Umgebung oder sogar direkt im Stadtgebiet gab es alles, was Neueinsteiger brauchten: Mobs auf niedrigen Levels, die primitivsten Pflanzen, mit Hilfe derer man Kräuterkunde
und Alchemie
aktivieren konnte, billige Ressourcen wie das notorische Kupfer und alles, was das gewöhnliche Arbeiterherz sonst noch begehrte.
Obwohl Spieler eine beliebige Stadt aus der Liste wählen konnten, empfahl der Charakter-Editor ihnen eine verkürzte Liste von Geburtsorten innerhalb ihrer Zeitzone. Das war praktisch – schließlich wollte man, dass die Spieler derselben Zeitzone auch gemeinsam spielten, und nicht, dass die einen sich abends ausloggten, um zu schlafen, während die „Deplatzierten“ als einsame Wanderer durch die Städte schlichen, in der unglücklichen Erkenntnis, dass man den Charakter allein schwerlich entwickeln konnte. Die Zweite Welt
war eben ein Teamspiel.
Ross hatte keine Zeit zum Nachdenken gehabt. Er hatte sich nicht unnötig mit der Wahl seiner Startstadt aufgehalten. – Das System hatte alles für ihn getan, geleitet von Standardannahmen. Und jetzt, im nächtlichen Wald, war seine Chance, einem anderen Spieler zu begegnen, verschwindend gering. Abgesehen davon, dass die allermeisten von den Mob-Invasoren getötet worden waren, schliefen sie zu dieser Zeit gewöhnlich noch.
Allein Ross konnte nicht schlafen. Rrochs kamen dank ihrer Nachtsicht in der Dunkelheit wunderbar zurecht und hatten dadurch wesentliche Vorteile. Tagsüber fielen diese Vorteile weg, wohingegen die Chance, einem scharfsichtigen High-Level-Mob über den Weg zu laufen, sehr gut stand.
Es war also sinnvoller, wenn Ross tagsüber ein Nickerchen von zwei oder drei Stunden machte und die Nachtzeit voll ausnutze.
Vor sich, ein wenig zur Linken, konnte er in einiger Entfernung den Schein eines großen Feuers sehen. Ross freute sich sogar darüber: In den vier Stunden, die er nun schon unterwegs war, war rein gar nichts passiert. Und nun einfach vorbeizugehen, ohne sich die Sache genauer anzusehen, kam ihm irgendwie falsch vor, also korrigierte er seinen Kurs.
Es war ein Dorf. Genauer gesagt, vor einigen Stunden noch, am Abend, war es ein Dorf gewesen. Vielleicht hatten die Kreaturen aus dem Verschlossenen Land es in Brand gesteckt oder es war nach der Niederlage oder Flucht seiner Bewohner durch ein vergessenes Feuer oder aus einem Ofen herausfallende Glut von selbst in Brand geraten. Wer konnte das schon wissen. Jetzt jedenfalls standen alle drei Dutzend Häuser samt der angrenzenden Schuppen, Heuböden und Holzstapel in Flammen.
Aus einem Unterschlupf am Waldrand beobachtete Ross den schattenhaften Zug der Mobs vor dem Feuerschein, der sich durch Felder und Gemüsegärten dahinschlängelte. Die Monster hatten keine Eile und schenkten dem Feuer keinerlei Beachtung. Sie bewegten sich gelassen, aber zielstrebig voran. Alle sahen gleich aus: Sie gingen aufrecht, hatten Reptilienkörper, deren massive Schwänze im Boden kleine Furchen hinterließen, und Krokodilsköpfe, auf denen sie ulkige Helme trugen, die Ähnlichkeit mit Baseballkappen hatten. Mit ihren langen, muskulösen Armen trugen sie ovale Schilde, mit langen Stacheln gespickte Keulen, Hellebarden und Speere. Von Zeit zu Zeit konnte er Kommandeure in langen Mänteln und mit Schwertern am Gürtel ausmachen. Noch seltener waren die Magier, die er an ihren charakteristischen Waffen erkennen konnte – langen und kurzen Stäben oder merkwürdigen an Schellentrommeln erinnernden Gegenständen.
Die Levels der Mobs konnte er nicht bestimmen, was Ross nicht verwunderte. Er hätte nur zu gern seine Kräfte mit einem von ihnen gemessen, doch er konnte sich nicht vorstellen, wie es das anstellen sollte, ohne sich fatale Probleme einzuhandeln. – Der Rest würde wohl kaum nur danebenstehen und zusehen.
Doch er bekam seine Chance. Die anfangs endlos scheinende Prozession begann sich schließlich zu verlaufen, um irgendwann ganz zu versiegen. Nur eine einsame Gestalt war noch in der Ferne zu sehen, die mit monotonen Schritten den ausgetretenen Pfad entlangging.
Die Chance konnte er sich nicht entgehen lassen, entschied Ross. Wenn er starb, war es nicht tragisch. Wenn er aber siegte, winkten ihm sicher viele Boni und Belohnungen. Handelte es sich um einen noch unbekannten Mob, bekäme er für ihn ein weiteres Bestiarium-Achievement. Und auch ohne dies würde er sicher vieles bekommen, so wie für den ersten Aasfresser, wenn das Level passte.
Ross zog einen Seelenkristall hervor und befahl der darin gefangenen Kreatur, sich zu erheben.
„Wiederauferstandener Aasfresser-Reptus. Ein nicht empfindungsfähiges Geschöpf des Verschlossenen Landes. Stufe: 246. Fähigkeiten: Giftspeichel, wütende Attacke, Verderben, Welle der Blindheit
.“
Ross stattete das Pet mit allen Buffs aus, die er besaß, und zusätzlich mit der Erwürgen-Skill, wobei er erstaunt feststellte, dass das Reptil gleich vier eigene Skills besaß. Das war es wohl, was Mobs auf hohen Stufen ausmachte und weshalb sie so „harte Nüsse“ waren.
„Reptus“ klang übrigens so ähnlich wie „Leprus“. Das war doch ein gutes Omen, wenn man bedachte, wie viel sein treuer Leprus ihm eingebracht hatte! Das ließ hoffen, dass der Reptus sich nicht schlechter anstellen würde.
Im offenen Gelände wollte Ross keinen Kampf riskieren. Womöglich kämen die Monster, die schon weggegangen waren, zurück oder würden ein paar verspätete eintreffen. So krabbelte Ross aus dem Gebüsch, pfiff spöttisch und winkte drohend mit seinem Stab. Der Mob drehte sich nach dem verdächtigen Geräusch um. Weiterhin verhielt er sich genau, wie Ross erwartet hatte: Er rannte keuleschwingend auf die Geräuschquelle zu.
Ross hatte nicht die Absicht, darauf zu warten, bis er ihm mit diesem brachialen Spielzeug den Schädel zu Brei schlug, weshalb er sich umdrehte und in leichtem Trab ins Unterholz des Waldes davonmachte. Der Mob verfolgte ihn. Er hatte seine Beute schon fast eingeholt, als sich zwischen den Bäumen ein neuer Gegner zeigte. Der Reptus schoss aus dem Hinterhalt hervor, warf sich auf das Scheusal und attackierte es der Reihe nach mit all seinen Fähigkeiten – weil Ross wissen wollte, wie sie funktionierten.
Die Wirkung war umwerfend. Als Erstes spuckte der Reptus dem Mob unartig mitten in die Schnauze und widerwärtige, grüne Flecken breiteten sich über dessen Haut aus. Danach begann das Pet sich zu drehen wie ein wildgewordener Kreisel, und das Ziel wurde von einer glockenförmigen, braunen Wolke eingehüllt. Als Nächstes sprühten nach allen Seiten matt schimmernde Funken aus dem Körper des Reptus. Dann machte er einen Satz, und zwar so wahnsinnig schnell, dass er zu einem konturlosen Streifen verschwamm, und ehe das Monster wusste, was geschah, hatte er
ihm ein Stück aus der Schulter gebissen, mitsamt der Bronzerüstung.
Der Gesundheitsstreifen des Mobs erzitterte und schrumpfte: Der DoT
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fraß seine HP. Er zischte ohrenbetäubend, schlug mit seiner Stachelkeule blindlings um sich und zerschmetterte die Stämme zweier junger Bäume, bevor seine Waffe in einem dicken Stamm stecken blieb. Der Reptus nutzte die Gunst der Stunde und biss seinem Gegner den ganzen rechten Unterarm ab, bevor dieser ihn mit einem Schlag seines Schildes von sich stieß.
Ross war nicht dazu gekommen, dem Reptus Heals zu senden, als dieser schon wieder aufsprang, um sich erneut auf den Gegner zu stürzen und auf Ross‘ Befehl hin damit begann, ihn zu würgen. Der Mob ließ sich jedoch nicht so leicht unterkriegen: Er kaute wie besessen auf dem Kopf des Pets herum und rammte ihm die Kante seines Schildes in die Seite. Die Chaos-Pfeile, die Ross ihm sandte, beachtete er überhaupt nicht. Die beiden ineinander verwickelten Körper fielen zu Boden, rollten Sträucher und kleine Bäume platt und machten einen Krach, den man wahrscheinlich noch im ganzen Distrikt hören konnte. Ross konnte nur beten, dass niemand dem Tohuwabohu nachgehen würde.
„Der Marodierende Tagrus ist tot. Verdiente Erfahrungspunkte: 12992. Du erhältst eine Stufe. Zum Erreichen der nächsten Stufe fehlen dir: 340023. Achtung! Du hast eine Kreatur entdeckt, die im Bestiarium der Welt nicht vorkommt! Du hast dir eine Anerkennung verdient: +1 Schöpfung, +25 Einheiten magischer Energie. Um eine Auszeichnung für die Entdeckung der neuen Kreatur zu erhalten, wende dich an die Magische Akademie. Glückwunsch! Du hast allein ein Monster besiegt, dessen Stufe mehr als hundertachtzig Einheiten höher ist als deine eigene! Achievement vollendet: Verrückter Einzelgänger – Teil XV
. Achievement-Bonus: +1 auf alle primären Hauptattribute, +5 auf sekundäre Hauptattribute deiner Wahl, +55 Einheiten Wut; für dich wurde ein zufälliges Zusatzattribut aktiviert: Schwimmer.
Wirkung des Bonus: dauerhaft. Achievement aktiviert: Riesentöter – Teil XV
. Töte eigenständig fünfzig Monster, deren Stufe mindestens hundertachtzig Einheiten höher ist als deine eigene, um das Achievement zu vollenden. Achievement-Bonus: zufällig.“
Ross grinste über das ganze Gesicht wie ein Kater, der einen großen Napf voll frischer Sahne bekam. Nur zwei Mobs hatte er getötet – und dafür mehr Boni verdient als für die ganze viertägige Säuberung des Dungeons zusammen mit Ziffer!
Was war es doch für eine geniale Idee gewesen, noch ein Weilchen hier zu bleiben.
Die Keule des Tagrus erwies sich als billiger Schrott, die Rüstung war stark beschädigt – und ohnedies nicht viel wert gewesen. Dafür war sein kruder Schild von guter Qualität und obendrein verzaubert.
Dennoch entschied sich Ross, nachdem er sein Gewicht abgeschätzt hatte, ihn nicht mitzunehmen. Eine schwere Trophäe ohne Verzauberung würde ihm nicht viel bringen. Wieso ohne Verzauberung? – Weil er vorhatte, den Schild der Essenz-Ansicht zu unterziehen.
Nach seiner Prüfung war ein erbärmlicher Item übrig: Die Klasse des Schildes änderte sich von „gut“ in „einfach“, und im Prozess verlor er viele seiner Boni. Trotzdem tat es Ross nicht leid.
Viel mehr bedeutete ihm jeder noch so winzige Fortschritt für seine Verzauberung – die sich immer noch beharrlich weigerte, sich zu aktivieren.
Ross folgte dem Pfad bis zum Morgengrauen und traf auf drei weitere Mobs, von denen einer ihm das Achievement Verrückter Einzelgänger – Teil XVI
bescherte. Das brachte ihm einen Punkt auf alle sekundären Attribute, aber keine anderen Boni. Unter den Trophäen waren zwei verzauberte Items, die Ross, ohne zu zögern, der Verzauberung opferte. Doch das lang ersehnte Attribut aktivierte sich trotzdem nicht.
Es war, als würde er lauter gute Ressourcen einfach in ein Fass ohne Boden werfen: Über hundertfünfzig verzauberte Dinge hatte er schon vermurkst, und doch machte dieses verdammte Attribut keine Anstalten, sich zu ergeben!
Die Statentwicklung mithilfe solcher Mobs wäre eine geniale Sache, gäbe es da nicht ein kleines „Aber“: Sie tauchten normalerweise im Pulk auf, einzelne Exemplare musste er lange suchen. Aber was blieb ihm anderes übrig? – Schon wenn er zweien auf einmal gegenüberstand, sträubten sich ihm die Haare. Ross war solchen Gegnern nicht gewachsen.
Was ihm ebenfalls unangenehm aufstieß, war, dass es keine Bestiarium-Achievements mehr gab. Er war offenbar nicht der Einzige, der diese Viecher besiegte. Offenbar waren noch andere Haudegen in Abenteuerlaune. Leider hatte er sich zu früh gefreut, als er dachte, er habe keine Konkurrenz. Es konnte allerdings auch sein, dass die Invasionswelle der Monster auf starke Einheiten getroffen war, die die reifen Früchte vor ihm geerntet hatten.
Im Morgengrauen trat Ross schließlich aus dem Wald ins Freie und sah vor sich eine vertraute Landschaft: Er hatte Arbenna erreicht.
* * *
Seine allererste Stadt, sein Geburtsort im Spiel, mit dem er seine lebhaftesten Eindrücke verband, hatte eindeutig schon bessere Tage gesehen. In den Mauern klafften unzählige Löcher und Durchbrüche mit rußschwarzen Rändern. Über den Steinhaufen – den einzigen Überresten ihrer Türme – wuchs nun ein Wald aus schlanken Rauchsäulen in den Himmel. Obwohl Arbenna selbst sich fast ganz in einen schwelenden Brandherd verwandelt hatte, hielten sich nach wie vor Spieler in der Stadt auf und kämpften weiter: Mancherorts blitzten ein ums andere Mal Flächenzaubereffekte auf, eindeutig nicht von der schwachen Sorte.
Nachdem er das Spektakel eine Weile beobachtet hatte, zog Ross sich ins dichte Buschwerk zurück und legte sich schlafen. Es kümmerte ihn nicht die Bohne, das in ein paar Kilometern Entfernung die Schlacht weitertobte. Er braucht Ruhe. Und hier war es nicht gefährlicher als irgendwo sonst. Wer wusste schon, was in den Köpfen der Mobs vorging? Wenn ihr Plan war, das Gebiet zu durchkämmen, wäre das das Ende seiner glorreichen Abenteuer.
Nachdem Ross sich ungestört ausgeschlafen hatte, kehrte er zum Waldrand zurück und sah, dass die Feuer in der Stadt sich gelegt hatten. Mobs waren nicht mehr zu sehen. Sie hatten die Stadt ausradiert, von der Landkarte der Provinz gewischt und waren
weitergezogen, auf der Suche nach neuen Belustigungen.
Allerdings nicht alle. Hunderte von Kadavern waren unter den Mauern zurückgeblieben – der Preis für den Sturm auf Arbenna. Wie viele noch innerhalb der Stadt umgekommen waren, wusste Ross nicht. Die letzten Kampfgeräusche, die Ross mitbekommen hatte, ließen darauf schließen, dass die Mobs nicht mit offenen Armen empfangen worden waren. Sie mussten Verluste erlitten haben, und zwar ordentliche.
Aber was bewegte sich dort hinten? Als Ross genau hinsah, erkannte er vertraute Prozessionen, die aus der Stadt hinauszogen. Die Aggressoren hatten ihre schmutzige Arbeit verrichtet und zogen weiter. Auch wenn sie relativ weit weg waren, riskierte Ross nicht, sein Versteck zu verlassen. Lieber noch ein Weilchen abwarten.
Um die Zeit nicht bloß abzusitzen, ging er ins Forum und überflog die ersten Posts zu den heißesten Themen. Wie er erwartet hatte, waren die Vorfälle in Rallia immer noch die Hauptsensation. Es kam schließlich nicht jeden Tag vor, dass Mobs eine Provinzhauptstadt eroberten. Und sie ließen es damit nicht gut sein. Es brodelte ordentlich im Westlichen Imperium: Der Kaiser hatte Truppen entsandt und die Aufstellung einer Bürgermiliz verkündet: Jeder auf Stufe 60 und höher konnte sich freiwillig melden.
In Anbetracht dessen, dass Ross keine Mobs unter Stufe 220 untergekommen waren, würden das wohl ein paar unvergessliche Tage für die schwächeren Mitstreiter werden. Sogar er mit seiner reichen Auswahl an hochgeschraubten Attributen hätte im Zweikampf gegen solche Monster sehr blass ausgesehen, wäre da nicht sein Pet. Etwas anderes wäre es mit der richtigen Ausrüstung,
dann wären seine Gewinnchancen größer, insbesondere gegen Monster ohne Kontrollfähigkeiten. Andererseits, wozu sollte er Zehn- oder gar Hunderttausende in Gold ausgeben, wenn er ein kostenloses Pet hatte?
Abgesehen davon besaß Ross ohnehin nicht so viel Geld.
In dem Wust von Nachrichten entdeckte er einige Threads, die ihm die Stimmung vermiesten. Alle klagten darüber, dass die Jeepees wieder einmal „herumspannen“: Sie kontrollierten ausnahmslos alle, die in der Hauptstadt respawnten. Das bedeutete, Ross konnte in der Klemme sitzen, falls er starb. Nach dem Tod eines Charakters verloren alle Buffs, Elixiere und so weiter ihre Wirkung. Auch Ross‘ Schleier des Geheimnisvollen
würde also flöten gehen, und manche NPCs und vielleicht auch manche Spieler könnten bemerken, dass sie keinen einfachen Durchschnittscharakter vor sich hatten, noch bevor er Zeit hätte, sich ihn erneut „überzuwerfen“.
Die Chance, im jetzigen Rallia ins Gras zu beißen, standen so gut wie nie, und das, was sich in der Hauptstadt tat, machte Ross nervös. Er begann, das Problem eingehender zu analysieren und sammelte mehr Informationen im Forum. Danach beruhigte er sich ein wenig. Wie sich herausstellte, wäre die Entführung eines Spielers aus dem Zentrum der Hauptstadt des Westlichen Imperiums – vor allem unmittelbar vor einem Tempel der Mächte des Lichts – schwieriger, als auf den Mond zu spucken und in den Hals einer Flasche zu treffen, die dort stand. Die Stadt wurde von der persönlichen Garde des Kaisers bewacht. Das waren Kampf-NPCs auf Stufe 250 aufwärts. Und es waren so viele, dass selbst die Jeepees in vollem Aufgebot zu spüren bekommen würden, wie sich ein Kissen
zwischen den Kiefern eines rasenden Pitt Bulls fühlte, wenn sie die Garde provozierten.
Außerdem half den Verteidigern die Stadt selbst, genauer gesagt, der magische Schleier, der sie bedeckte. Und von dem allen mal abgesehen, war der Kaiser selbst kein Geringerer als einer der stärksten Magier der Zweiten Welt
. Das Level dieses NPCs kannte niemand. Man vermutete es bei mindestens 400. Die Mitglieder der kaiserlichen Familie hatten etwas schwächere Levels, die sie aber durch teure Ausrüstung, die sie sich ja leisten konnten, mehr als wettmachten.
Ein einziger solcher Magier war so viel wert wie Hunderte der stärksten Clankrieger. Darüber hinaus konnten nur der Kaiser und seine Familie innerhalb der Stadtgrenzen Magie zum Angriff einsetzen, da der Schleier alle magischen Angriffe anderer zunichtemachte. Deshalb müsste ein Clan, der einen Tumult in der Hauptstadt riskierte, nicht nur eine Menge Schaden für seinen Ruf und zwangsläufig auch für seinen Geldbeutel einstecken, sondern bekäme auch einige taktische Schwierigkeiten. Enorme Schwierigkeiten.
Wer nicht im Feuersturm des Kaisers und seiner Familie verbrannte, den würden die Gardesoldaten in ihren schweren Rüstungen einfach zu Tode trampeln.
Selbst wenn sie Ross also entdeckten, hätten sie es nicht leicht, ihn zu schnappen. Er würde ihnen zum Abschied winken, während er per persönlichem Teleport den Abflug machte. Danach würde er warten, bis das Unbeschriebene Blatt
wieder einsatzbereit wäre, und sein Aussehen wieder ändern. Und solange er nicht gerade in eine
Falle tappte, wie am Burggraben von Arbenna, konnte er dieses Spielchen treiben, bis es ihm zu den Ohren herauskam.
Das hier war nicht die reale Welt. Selbst ein Kristallit-Käfig konnte ihn nicht ewig halten. Im schlimmsten Fall konnte er warten, bis sein Anbindungspunkt aufgehoben wurde, und die nicht-magische Fähigkeit Freiwilliger Ausstieg
aktivieren. Jeder Spieler besaß sie – für eben solche Fälle. Der Cooldown dauerte einen Monat, aber nachdem man sie benutzt hatte, fand man sich in irgendeiner Stadt wieder, in der man schon einmal gewesen war, oder in der Hauptstadt des Landes, in dem man festgehalten wurde. Sicher, man starb dabei und verlor Erfahrung und vielleicht sogar ein paar Items. Dafür auferstand man wieder vor einem der Tempel des Lichts.
Ross‘ anfängliche leichte Panik war verflogen. Er wusste nun, dass er selbst im schlimmsten Fall nicht lange in den Fängen der Entführer bleiben würde. Am besten war es trotzdem, sich nicht erst fangen zu lassen. Er hatte keine Ahnung, wie sie ihm auf die Schliche gekommen waren. Aber er begriff sehr wohl, wie sie ihn am Ende gefunden hatten: Nachdem er drei Tage in Arbenna unschuldige Nattern niedergemetzelt hatte, war es kein Wunder, dass jemand, der wusste, wen er suchen musste, ihn entdeckte.
Ross kam also zu dem Schluss, dass er nichts zu fürchten hatte. Das Verhältnis zwischen ihm und der hartnäckigen J-P-Gilde war in eine neue Phase eingetreten: Sie wusste zu viel über ihn, und er wusste nun, dass ihr Handlungsspielraum begrenzt war. Er konnte in einen Sektor wechseln, in dem sie selten auftauchten, oder niemals. Und dann, bitte schön: Sollten sie doch so viel Geld und Energie in die Suche nach ihm investieren, wie sie wollten.
Seltsame Zeitgenossen waren das. Sie hätten ja – immerhin anstandshalber – zuerst einmal mit ihm reden können. Vielleicht hätte er ihre Wünsche ja sogar bereitwillig erfüllt.
Es wäre nur eine Frage dessen gewesen, was sie ihm angeboten hätten.