Kapitel 9
Ross näherte sich der Stadt sehr vorsichtig. Obwohl die Mobs längst fort waren, kam es ihm ein paar Mal so vor, als habe er eine verdächtige Bewegung bemerkt. Und er war nicht hundertprozentig überzeugt, dass er sich das einbildete. Etwa einen halben Kilometer vor der Stadtmauer versteckte er das Pet zwischen spärlichen Sträuchern – für den Fall, dass doch ein paar Verteidiger überlebt hatten. Die würden zumindest derb überrascht sein, eine solche Bestie anzutreffen, und am ehesten wohl erst angreifen, und dann Fragen stellen. Und unnötige Konflikte wollte Ross vermeiden.
Die ersten Leichen fand er etwa zweihundert Meter vor der Stadtmauer, in der Entfernung, die man mit billigen burgtypischen Wurfmaschinen erreichen konnte. Arbenna war eine ruhige, verschlafene Stadt, so fernab von gefährlichen Gefilden, dass sie gerade mal über eine Handvoll Ballisten und Katapulte verfügte. Die paar, die es gab, richteten nicht viel Schaden an. Etwa hundert Meter weiter verlief so etwas wie eine unsichtbare Grenze: Ab dort hatten die mehr oder weniger versierten Bogenschützen und Magier ihre Ziele leicht erreichen können, und entsprechend lagen Kadaver zuhauf herum.
Hier verweilte Ross ein wenig, um so viele Körper zu looten, wie er konnte. Innerhalb der Stadt müsste es logischerweise noch wesentlich mehr Trophäen geben, aber seine Intuition sagte ihm, dass er nicht voreilig hinter die Stadtmauer schauen durfte. Abgesehen davon wütete dort immer noch eine wahre Feuersbrunst, und jedes Mal, wenn der Wind drehte und von Arbenna herwehte, fühlte er, wie der heiße Atem ihm das Haar versengte. Es war schrecklich sich vorzustellen, wie es drinnen sein musste.
Beinahe bei jedem Mob fand Ross zwei oder drei Items. Das Gros war von gehobener Klasse oder besser und für Spieler mit einem Level von 200+. Leider waren die meisten der Trophäen nutzloser Müll. – So schrieben es die Gesetze der Zweiten Welt vor. Denn Charaktere auf so hohen Stufen verschmähten meist sogar Items der guten Klasse, was bedeutete, dass Ross diesen Loot nur zum Schrottwert verkaufen konnte – und nicht einmal alles davon.
Doch das machte Ross nichts aus. Fast alle Items waren nämlich auf irgendeine Art verzaubert, wenn auch mitunter nur schwach. Soweit er nachvollziehen konnte, funktionierte die Mechanik zur Aktivierung dieses Stats folgendermaßen: Je höher die Stufe des Items, von dem er den Effekt entfernte, desto mehr XP sammelte er. Also würde der nutzlose Müll ihm doch etwas für seine Entwicklung bringen.
Nur die Tatsache, dass er sich möglichst wenig im offenen Gelände aufhalten wollte, hinderte Ross daran, gleich an Ort und Stelle anzufangen. Nachdem er alle Slots seiner nicht so kleinen Tasche vollgestopft hatte, verbarg er diese wiederum in einem Slot seines Gürtels und begann, die zweite zu füllen. Dabei gratulierte er sich selbst wieder einmal dazu, dass er all die Dinge, deretwegen er überladen gewesen war, im Banktresor gelassen hatte. Jetzt konnte er, wenn er wollte, ungestraft anderthalb Tonnen mit sich herumschleppen – vielleicht sogar mehr.
Sobald er reicher wäre, musste er fünf solcher teuren Taschen kaufen! Er hatte sich bereits angesehen, was er brauchte: hundertsiebzig Slots oder sogar ein paar mehr, und eine 40-prozentige Gewichtsreduzierung der Traglast. Mit den vereinten Effekten der Taschen und des Gürtels würde er bis zu zweieinhalb Tonnen Gewicht ohne Strafen – oder ohne ernstzunehmende Strafen – transportieren können.
Jäh wurden Ross Träumereien von der Transformation seines Charakters in einen Lastwagen auf höchst unangenehme Weise gestört: Ein langer Pfeil mit goldenen Federn bohrte sich in seinen linken Unterarm.
„HedTeSdjo hat dir 299 Einheiten Schaden zugefügt.“
Ehe sein eigener Schmerzensschrei verhallt war, hatte Ross schon reagiert: Instinktiv warf er sich auf die rechte Seite, weg von dort, woher der Pfeil gekommen war. – Und das gerade rechtzeitig, denn im nächsten Moment sauste etwas bedrohlich knapp über ihm durch die Luft und verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Ross presste sich flach auf den Boden und zog einen Mobkadaver über sich. Dann zog er den Pfeil aus der Wunde, wandte hastig einen Heilzauber an und beseitigte die durch die übereilte Operation verursachte Blutung.
„Hey, du!“, schrie jemand aus der Entfernung. „Hau ab! Die Mobs gehören mir!“
Ross seufzte erleichtert auf. Es war also nur einer seiner Konkurrenten im unehrenhaften Geschäft der Plünderung der Leichen, die andere hinterlassen hatten. Und er hatte schon viel Schlimmeres befürchtet!
„Ich sehe nicht, dass irgendwo auf den Mobs geschrieben steht, dass es deine sind!“
„Ich habe sie getötet!“
„Du?! Moment, ich muss mal laut lachen! – Du bist ein echt witziger Noob: Hast sogar einem Waschlappen wie mir weniger Schaden zugefügt als ein paar Noob-Wölfe!“
„Noch zwei Pfeile, und du bist fertig! Machst den Abflug in die Hauptstadt! Lass deine Finger von den Mobs, dann lasse ich dich in Ruhe! Ich habe dich gewarnt! Hörst du?! Hey!? Was...?! Verdammte Scheiße!!!“
Der letzte Aufschrei des Feindes gefiel Ross gar nicht. Es schien, als habe sich eine dritte Partei in ihren Streit eingemischt. Er streckte vorsichtig den Kopf hervor, um herauszufinden, was vor sich ging, und spürte plötzlich so unerträgliche Schmerzen, dass er aufschrie: Es fühlte sich an, als würde ihm das Gesicht weggebrannt, ein stechender Schmerz, so als hätte ein Schwarm wütender Wespen sich darauf gestürzt.
„Eine unbekannte Kreatur hat dir 384 Einheiten Schaden zugefügt. Kritischer Schaden: Du bist erblindet. Kritischer Schaden: Du kannst nicht aufstehen.“
Er konnte auch blind zaubern, doch er würde viel länger brauchen, um die Zaubersprüche zu lesen. Als Erstes behandelte er sich, konnte den Effekt jedoch nicht abschütteln, bevor irgendetwas mit solcher Wucht in seinen Stab einschlug, dass ein eigentümlich schauerliches Knistern zu hören war. Eine Log-Nachricht von der Sorte blinkte auf, wie sie ihm noch nie begegnet war: „Deine Waffe ist beschädigt und muss repariert werden.“
Grobe Hände rissen ihn hoch, stellten ihn auf die Beine. Der dunkle Schleier vor seinen Augen begann sich zu lüften, und er sah, dass er von unangenehm aussehenden Wesen umgeben war: einer Art buckliger Affenmenschen mit Extrembehaarung und einem Knochenkamm, der aus dem Rücken hervorstand.
„Unbekannte Kreatur. Aggressivität: unbekannt. Sozialität: unbekannt. Stufe: unbekannt. Fähigkeiten: unbekannt. Attribute: unbekannt.“
Instinktiv schnellte Ross‘ Hand vor, um den Chaos-Pfeil abzuschießen.
„Deine Waffe ist beschädigt und hat alle ihre Eigenschaften verloren. Du kannst die gewählte Fähigkeit nicht anwenden. Wechsle die Waffe oder wende einen Zauberspruch an, der ohne den defekten Gegenstand funktioniert.“
Einer der Mobs tippte mit dem Schaft seines Speeres an Ross‘ Stab. Ross verstand den Wink und steckte die defekte Waffe weg.
Leichte Schlagstöcke, kurze Speere, Dolche an breiten Gürteln, kleine Äxte, irgendwelche Ketten mit Stacheln – das Waffenarsenal der Kreaturen war vielfältig. Ein Mob warf Ross eine Schlinge um den Hals, die an einem langen Stock befestigt war, zog sie enger und begann, ihn hinter sich herzuziehen. Ross musste ihm nun folgen, ob er wollte oder nicht. Die übrigen Kreaturen folgten ihnen.
Linkerhand sah er einen ähnlichen Zug neben der Stadt auftauchen: Ein Mob mit einem Gefangenen, sowie weitere Kreaturen, die das Schlusslicht bildeten. Als er den Nick sah, konnte Ross ein schadenfrohes Grinsen nicht verbergen: Es war HedTeSdjo, der Mistkerl mit dem Bogen, der zu gierig gewesen war, um ein paar tote Mobs mit ihm zu teilen. Ihr Tête-à-Tête hatte ihn offenbar so mitgerissen, dass er die Bande nicht kommen sehen hatte. Ausgerechnet ein dunkler Elf, die Rasse, die Ross noch nie gemocht hatte. Jetzt hatte er konkreten Grund dazu. Genauso unsympathisch waren ihm übrigens seine hellhäutigen Verwandten und alle Halbelfen.
Der Mob trieb Ross unaufhörlich an, zerrte am Stock und würgte ihn dadurch nach Strich und Faden, sodass Ross aus Sauerstoffmangel schwindelig wurde. Nichtsdestotrotz trottete Ross so langsam er nur konnte, im Schneckentempo. Ihm lag überhaupt nichts daran, sich zu beeilen: Sein Pet musste die Kreaturen schon fast eingeholt haben, um seinen Herrn zu beschützen. Der Reptus war um Einiges größer als diese Neandertaler hier – Er sollte mit ihnen spielend kurzen Prozess machen.
Die Kreaturen bemerkten das Pet schon aus der Ferne. Sie bauten sich in Hufeisenformation auf und erwarteten es mit gezückten Waffen. Einer der Entführer trat vor, schwang einen kurzen Stab über den Kopf, aus dessen Spitze ein Schwarm schwarzer Punkte herausstob und den heranpreschenden Reptus traf. Ross‘ Pet stolperte, hob die Vorderfüße und begann, sich energisch das Maul zu reiben. Und bemerkte dabei gar nicht, wie die Mobs es umzingelten und gleichzeitig angriffen.
Nach sechs oder sieben Sekunden war alles vorbei. Danach wusste Ross, dass die Affenmenschen nur unwesentlich schwächer waren als der Reptus, oder genauso stark. Und dass sie sich ziemlich gut auf ihren Magier mit seinem fiesen Debuff verlassen konnten. Das arme Pet hatte rein gar nichts ausrichten können. Es hatte nur blind und hilflos mit seinen Armen in der Luft herumgewedelt.
„Dich haben sie also auch gekriegt, Arschloch!“, begrüßte HedTeSdjo ihn schadenfroh, als er näherkam. „Dir hab ich den Mist hier zu verdanken!“
„Du solltest öfter in den Spiegel schauen, wenn du genau wissen willst, was der Grund für all deine Probleme ist.“
„Zu schade, dass ich dich nicht erledigt hab, du Wichser.“
„Sei nicht traurig, die Jungs hier bringen das bald in Ordnung, schätze ich.“
„Was sind das überhaupt für Primitivos?!“
„Geh doch ins Forum. Da kannst du wahrscheinlich was über sie finden.“
„Damit sie mich erwürgen, während ich meinen Körper hierlasse? – Leck mich! Ich werd‘ keine XP verlieren.“
Ross kümmerte weder dieser Typ noch seine XP, und unterhalten wollte er sich ohnehin nicht mit so einem „Subjekt“, also schwieg er.
Hinter dem Hain, zu dem sie schließlich gebracht wurden, hatte sich ein ganzer Tross dieser Mobs zusammengerottet. Dort hatten sie ihr Lager aufgeschlagen: Kastenwägen auf großen Rädern und Planendächer, ganz in der Nähe weideten Tiere, die ein bisschen aussahen wie eine Dinosaurierart, deren Namen Ross nicht mehr wusste. Entlang des Rückens und der langen Schwänze liefen mehrere Reihen von Hornplatten, auf langen Hälsen saßen winzige Köpfe. Falls sich darin Hirnmasse befand, dann in mikroskopischen Mengen. Im Zentrum ragte sich ein grob zusammengezimmerter Pferch auf, in dem vier Spieler saßen: ein Zwerg, ein Ork, ein Mensch und ein Norder, oder Halbnorder, eine seltene Rasse, die sich dank hornschuppenartiger Verdickungen, die ausschlagartig den ganzen Körper überzogen, nicht gerade großer Beliebtheit erfreute. Besonders hässlich waren die Gesichter anzusehen – als wären sie mit kleinen Schildkröten besiedelt. Dass Männer solche Missgeburten spielen wollten, war die Ausnahme – und erstrecht fand man keine Frauen, die diese Rasse wählten, sofern sie im Oberstübchen noch alle beisammen hatten.
Die ersten beiden Gefangenen waren offensichtlich Arbeiter, aber wohl kaum mittellose Noobs. Ross konnte sehen, dass ihre Ausrüstung nicht die billigste war. Der Mensch trug ein Kettenhemd und einen hochwertigen Waden- und Schienbeinschutz. Sein Helm musste ebenfalls teuer gewesen sein. Sein Unterarmschutz dagegen nicht. Alles in allem ein gewöhnlicher Krieger. Wie auch der Norder, der ein analoges Ausrüstungsset besaß.
„Hey, Jungs, was geht hier ab?“, fragte der rastlose Elf, kaum hatten sie den Pferch betreten.
„Wir dachten, du klärst uns auf“, brummte der Norder.
Der Ork, der gerade aus der typischen Starre zurückgekehrt war, die anzeigte, dass Spieler sich ausgeloggt hatten oder im Forum waren, schüttelte den Kopf:
„Nirgendwo wird irgendwas davon erwähnt. Was soll das alles bedeuten? Das gab es doch noch nie, dass Mobs Leute kidnappen!“
„Das kommt vor“, antwortete der Krieger missmutig. „Aber ich habe noch nichts davon gehört, dass es hier passiert. Und diese Mobs lassen sich nicht mal bestimmen...“
„Ich würde liebend gern einen von jeder Art töten“, seufzte der Norder. „Für die gäbe es Achievements.“
„Richtig. Hab selbst schon daran gedacht. Keine schlechten Achievements übrigens, mit doppelter Belohnung: Eine kriegt man gleich, und später noch eine in der Akademie. Nur dass die Mobs hier es nicht eilig damit haben, sich von irgendjemandem töten zu lassen, wie mir scheint. – Oha, was ist das jetzt wieder für ein Goliath?!“
Dem Pferch näherten sich drei Mobs. Einer davon unterschied sich von den anderen - und überhaupt von allen Mobs: Er war deutlich größer, weniger untersetzt, ja, seine Haltung hatte sogar etwas Überhebliches. Ein edler Umhang bedeckte seinen Rücken, und in der Hand hielt er einen langen, verschnörkelten Stab, um dessen Spitze sich ein wildes Durcheinander grellgrüner Punkte wob.
Und, was am interessantesten war: Der Mob hatte einen Namen.
„Agitrick, Häuptling der Sklavenhalterhorde. Stufe: verborgen. Fähigkeiten: verborgen. Attribute: verborgen.
Achtung! Du hast eine Kreatur mit Eigennamen entdeckt, die im Bestiarium der Welt nicht vorkommt! Dies ist deine zweite Kreatur mit Eigennamen. Du hast dir eine Anerkennung verdient: +8 Einheiten Vitalität. Um eine Auszeichnung für die Entdeckung der neuen Kreatur zu erhalten, wende dich an die Magische Akademie.“
„Hey, ich hab ein Achievement!“, freute sich HedTeSdjo. „Ach, aber nur eins für Noobs, außer einem HP gibt es nichts...“
„Und ich habe drei Einheiten Wut gekriegt, die ich genauso wenig brauche, wie meine Oma das neuste Ironman-Poster“, murrte der Zwerg.
„Die Akademie könnte noch was dazugeben“, erklärte der Norder. „Immerhin hat der Mob einen Eigennamen. Dafür gibt es gute Belohnungen.“
„Und es macht nichts, dass wir ihn alle zusammen ‚entdeckt‘ haben?“, erkundigte sich Ross.
„Ein Einzelner würde natürlich mehr bekommen, aber das hier ist auch was wert.“
Ross entschied, der Akademie einen Besuch abzustatten, sobald er aus dieser Geschichte heraus wäre. Er hatte schon so viele Mobs entdeckt – vielleicht bekäme er einen netten „Mengenbonus“.
Agitrick, der neben dem Pferch stehengeblieben war, ließ den Blick aus seinen kleinen, tief im Pelz verborgenen Äuglein über dessen Insassen schweifen, und sagte mit knarrender Stimme:
„Ihr seid unser Fleisch. Entweder ihr sterbt oder ihr bringt uns Gold. Wir brauchen viel Gold. Arbeiten werdet ihr, so lange, wie wir es euch befehlen. Und so viel Gold werdet ihr uns bringen, wie wir es euch befehlen. Faulpelze bleiben hungrig, und wer wegläuft, bleibt nackt.“
Der Mob mit dem Eigennamen hob seinen Stab. Aus der Spitze schoss ein dünner Strahl heraus und traf den Ork in die Stirn. Dessen Augen traten hervor, und er ächzte überrumpelt. Einige Sekunden lang rührte er sich nicht, gab dann ein langgezogenes Blöken von sich und begann, den Kopf zu schütteln. Alle seine Kleider gingen in Flammen auf und verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Stattdessen materialisierten sich aus dem Nichts eine schmutzige, kurze Hose und eine schmuddelige Jacke. Agitrick wiederholte den Zaubertrick bei HedTeSdjo – mit dem gleichen Ergebnis. Dann war der Norder an der Reihe, der das Schema durchbrach:
Als der Strahl seine Stirn traf, erstarrte er für einige Sekunden, und rief dann:
„Bringt euch um, wer‘s noch nicht-“
Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, sondern verstummte wie alle anderen, unfähig, auch nur ein weiteres Wort zu äußern.
Ross kam an die Reihe, als er gerade den Dolch gezogen hatte, um ihn sich möglichst tief in die Brust zu stoßen und einige Male umzudrehen. Er hatte gehofft, das würde ausreichen, um seinen üppigen HP-Vorrat zu vernichten.
Doch er war nicht schnell genug. Der Strahl erreichte ihn vorher, und sein Körper hörte auf, ihm zu gehorchen. Anders als erwartet spürte er keinen Schmerz, nur ein leichtes Jucken, und das nicht an der Stirn, sondern am Hinterkopf.
Du hast eine Quest erhalten: Sklave im Verschlossenen Land. Quest-Anforderungen: Erfüllung der Fördernorm. Zeit für die Erfüllung: 30 Tage. Belohnung: Freiheit und Transport an die Grenzen des eroberten Gebietes oder in eine beliebige dir bekannte Stadt des Westlichen Imperiums. Zusätzliche Belohnung: unbekannt. Die Höhe der Belohnung hängt von der über Norm geförderten Menge ab. Für die Dauer der Quest verlierst du alle deine Gegenstände außer den Taschen und erhältst dein Eigentum erst zurück, wenn die Aufgabe erfüllt ist. Eine Ablehnung der Quest ist nicht möglich. Erfüllungsalternative: Zahle Agitrick ein Lösegeld von 14.000 kaiserlichen Goldguineas. Achtung! Für die Dauer der Quest wird dein aktueller Anbindungspunkt aufgehoben und ein neuer von Agitrick festgelegt! Achtung! Falls du flüchtest oder die Ereignisse eine andere Wendung nehmen, bei der die Erfüllung der Aufgabe unmöglich wird, kannst du dein Eigentum nicht zurückbekommen.“
„Achtung! Ausführungsfehler! Du besitzt einen Gegenstand, der vier Taschen enthält. Unzulässiger Vorgang. Entfernung des Gegenstandes ohne Verlust der Taschen ist nicht möglich. Anforderungen werden korrigiert: Der Gegenstand, der die Taschen enthält, bleibt in deinem Inventar.“
„Achtung! Du hast einen Gegenstand verloren: Verzauberter Goldring eines Tilbit-Magiers .
Achtung! Du hast einen Gegenstand verloren: Verzauberter Ring der Tränen des Mondes .
Achtung! Du hast einen Gegenstand verloren: Verzauberter magischer Namensring des Meisters Deadrick .
Achtung! Du hast einen Gegenstand verloren:...“
Ross las – und las, und las – die schier endlose Liste der verschwundenen Gegenstände. Er verfiel in eine Art mentale Blockade. Hatte man sowas schon gehört?! Er war gerade auf die dreisteste Weise ausgeraubt worden, die man sich vorstellen konnte! Ein ganzer Haufen sorgfältig zusammengestellter Items war einfach weg... Zugegeben, nicht die allerbesten, aber doch ziemlich teure! Noch dazu konnte er sie laut Quest-Beschreibung erst in einem Monat zurückbekommen!
Es sei denn natürlich, er hatte etwas falsch verstanden.
Die nächsten drei Stunden verbrachte er im Pferch und beobachtete schweigend, wie die Mobs neue Opfer brachten. Er hatte keine Chance, sie zu warnen, denn bei allen drei Gelegenheiten belegte der verfluchte Agitrick ihn mit einem unerhört lang wirkenden Zauber, der ihm auch noch die Sprache raubte. Alles, was er tun konnte, war, stumm wie ein Fisch Augen und Mund aufzureißen, doch freilich errieten die unbesorgten Hammel nicht, was sie erwartete und trabten brav in die Falle, um sich ausrauben zu lassen.
Ross ging ins Forum, wo er gleich sah, dass es vor Wuttiraden erbärmlicher Pechvögel wie seinesgleichen nur so wimmelte. Viele Spieler wollten ihnen nicht glauben, aber der Rest verfluchte die Entwickler aufs Übelste, weil sie sich am Heiligsten aller Dinge vergriffen: dem Eigentum der Charaktere.
Die Administration schwieg dazu.
Was ihre Reaktion in den meisten Fällen war, wie skandalös sie auch sein mochten.
Bis jetzt hatte niemand eine Ahnung, was in Rallia vor sich ging und wie lange dieser Schlamassel andauern würde. Es gab nur Spekulationen, die meist recht weit hergeholt waren.
Nur eines war klar: Dass es sich nicht um eine dieser Invasionen hirnloser Mobs handelte, wie man sie in Grenzprovinzen regelmäßig erlebte.
Dass Spieler gefangen wurden, um sie auszubeuten und ihnen noch dazu all ihre Habe zu stehlen – das war beispiellos.